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Online-Studientag „Wir in der Digitalität“

Nicht erst seit der Covid-19-Pandemie wird gern von der Digitalisierung gesprochen, eine bessere technische Ausstattung oder deren Finanzierung gefordert. Doch was macht die Digitalisierung eigentlich mit unserer Gesellschaft? Der Begriff „Digitalität“ nimmt genau diese Wechselwirkungen hin auf die Gesellschaft, auf politische Systeme und auf den Einzelnen in den Blick. Er stand im Mittelpunkt der Online-Tagung des Katholischen Forums im Land Thüringen und der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP) am 13. Oktober 2021.

Christian Schulz (Health Hackers Erlangen) wagte in seinem Beitrag einen futuristischen Blick ins Jahr 2030. Sprunginnovationen führten in der Technologiegeschichte immer schon dazu, dass manche Systeme dem Veränderungsbedarf nicht standhalten und verschwinden. Innovationen machen aber auch das Leben angenehmer. Am Beispiel der fiktiven Figur Mario Rossi zeigte Schulz, wie wir als Einzelne und als Gesellschaft leben werden, angefangen vom smarten Schlafzimmer mit Schlafanalyse per App über autonomes Fahren, bei dem die eingesparte Zeit für andere Dinge verwendet werden kann, bis hin zu medizinischen Anwendungen wie Darmspiegelung mittels geschluckter Tablette oder Medikamenten aus dem heimischen 3-D-Drucker, um die Wirkweisen des Präparates zu personalisieren. Virtuelle Realität ermöglicht neue Bildungs- und Kommunikationsprozesse. „Wer geht eigentlich noch einkaufen und will an der Kasse Schlange stehen?“, fragte Schulz. Er wies aber auch darauf hin, dass jede Technik ambivalent ist, das reicht von Datensicherheit und informationeller Selbstbestimmung über militärisch genutzte Drohnen bis hin zu ethischen Fragen der Arbeitsgesellschaft und möglicherweise einem Anstieg mentaler Erkrankungen. Es gebe Bereiche, die mancher auch vielleicht nicht technisieren lassen wolle, wie z. B. einen Dating-Algorithmus, der dem Single berechnet, welche/r Partner/in der/​die optimale sei. „Manchmal müssen wir auch einfach Mensch sein“, so sein Fazit. Er riet den Teilnehmer:innen im Zusammenhang mit neuen Technologien: aufmerksam und achtsam, offen und neugierig, kreativ und menschlich sein.

Andrea Imbsweiler, Referentin für Evangelisierung und Digitalisierung in der KAMP, zeigte auf, was Digitalität grundlegend ausmacht. Neben einer Vervielfachung von Daten und Optionen führt Digitalisierung zu Kontrollverlust bei traditionellen Hierarchien. Gleichzeitig entstehen neue Machtkonstellationen, die für mögliche Manipulationen oder Überwachung zumindest offen sind. Digitalisierung besteht in Referentialität, also der kreativen Nutzung und Veränderung bereits bestehender Daten, in Gemeinschaftlichkeit, die als „vernetzter Individualismus“ begriffen werden muss, und in Algorithmizität, also der Berechnung individualisierter Wissensangebote, was zu einer für jeden persönlich erschaffenen (Daten‑)​Welt führt. Ambivalent ist Digitalisierung insofern, als sich einerseits postdemokratische Prozesse einschleichen können, aber auch gemeinsames, gleichberechtigtes Arbeiten an commons ermöglicht wird. Wenn Kirche Digitalisierung nur als „neue Medien nutzen“ verstünde, griffe dies zu kurz. Medien werden Lebenswelten und verändern Kommunikations- und Teilhabeprozesse sowie Gemeinschaftsformate in der Gesellschaft grundlegend. Die Kirche kann sich dem nicht entziehen, sondern ist gut beraten, proaktiv mitzugestalten.

Nach der Mittagspause fragte ein Podium danach, was die Nutzer:innen heute tun können. Dr. Viera Pirker, Professorin für Religionspädagogik und Mediendidaktik an der Goethe-Universität Frankfurt, zeigte, wie die zunehmende mobile Vernetzung Lehr-lern-Prozesse und das Verständnis von Identität verändert. Gerade im Bildungsbereich würden gute Erfahrungen mit open ressources gemacht. Die jungen Generationen gehen ganz selbstverständlich mit Digitalität und kommunikativen Medien um, dadurch verändern sich Beteiligungsformate und Ästhetiken. Insbesondere die Religionspädagogik sei gut aufgestellt, mit Hilfe der Digitalität religiöse Lern- und Sprachprozesse zu unterstützen. Für die Kirche bringt Digitalität mit sich, Netzwerke und Individualität aus christlicher Perspektive neu zu denken und auszuprobieren. Wichtige Aspekte gerade für die Kirchen seien die Wahrung der Individualität und der Persönlichkeits- und Eigentumsrechte, aber auch Zugänglichkeit und Barrierefreiheit auf inklusiven Plattformen. Hier sind die Kirchen gefordert, mit gutem Beispiel voranzugehen. Dokumente der Publizistischen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz wie „Virtualität und Inszenierung“ und „Medienbildung und Teilhabegerechtigkeit“ seien hierbei hilfreich und wegweisend und sollten stärker diskutiert werden.

Dr. Thomas Knoll, Referatsleiter Digitales und Kreativwirtschaft im Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft, verwies darauf, dass Digitalisierung kein Selbstzweck ist, sondern das Leben der Menschen leichter machen soll. So gibt es im Rahmen der Digitalisierungsstrategie in Thüringen Projekte zur Verbesserung der Mobilität im ländlichen Raum, zum Aufbau von Telemedizin und zur Unterstützung von Mittelstand, Tourismus und Bildungsprozessen. Die Bedeutung von Fachkräften nimmt zu; technologische Fortschritte hätten aber auch gezeigt, dass nicht unbedingt eine Massenarbeitslosigkeit für geringer Qualifizierte droht, sondern sich der Arbeitsmarkt verschiebt. Auf die Schwierigkeiten einer leistungsfähigen digitalen Infrastruktur in Deutschland angesprochen, verwies Knoll darauf, dass China mehrere Fortschrittsstufen übersprungen habe und nun ein leistungsfähiges digitales Netz aufbauen könne, während Deutschland als traditionelles Industrieland mehrere Innovationsstufen hinter sich hat und nun vom Kupferkabel zum Breitbandnetz umbauen müsse. Deutschland will zudem einen Weg der Digitalisierung gehen, der Freiheit und Menschenrechte wahrt und keine autoritäre staatliche Überwachung der Bevölkerung erlaubt, wie das in China der Fall ist.

Dr. Haringke Fugmann, Beauftragter der Evangelischen Landeskirche in Bayern für religiöse und geistige Strömungen, betonte, dass Digitalisierung nicht dazu führen dürfe, dass Selbst-Idealisierung zu Selbstausbeutung führt. Nach einer ersten Goldrausch- oder Wildwest-Phase des technologischen Fortschritts müssten international die Spielregeln ausgehandelt werden, um Macht zu begrenzen. So gebe es immer noch kein Verbot autonomer Waffen. Fugmann zeigte sich nicht als Gegner der technologischen Entwicklung, warb aber dafür, hinter die Dinge zu schauen und zu wissen, was die Prozesse bedeuten. Im Blick auf künstliche Intelligenz und Big Data sprach er von „struktureller Sünde“. „Es gibt manchmal Dinge, da kommen wir nicht raus. Der biblische Glaube gibt uns Bilder und Narrative an die Hand, um bestimmte Entwicklungen zu deuten und zu hinterfragen“, so Fugmann. Insbesondere den digital unterstützten Transhumanismus sieht der Weltanschauungsexperte kritisch als einen Versuch, menschliche Grenzen auf das Göttliche und Transzendente hin zu verschieben. Digitalität führe so gleichzeitig zu Fragmentierung und Versuchen der Selbstvergöttlichung.

Die Teilnehmer:innen waren zum größten Teil Personen, die selbst in ihrem beruflichen Umfeld mit Prozessen der Digitalisierung im Raum der Gesellschaft und der Kirche befasst sind. Sie konnten sich in intensiven Breakout-Räumen und im Podium konstruktiv einbringen und ihre Erfahrungen und Expertise beisteuern.