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Das Weiße zwischen dem Schwarzen erahnen

Erfahrung von 20 Jahren Internetseelsorge in der Diözese Würzburg und darüber hinaus

Zu den ältesten Formen von pastoralen Angeboten im Digitalen zählt die beratende Internetseelsorge, deren Anfänge noch vor der Jahrtausendwende liegen. Von den Erfahrungen mit dieser Art der Seelsorge und ihren Besonderheiten berichtet Walter Lang.

„Hallo Walter, ich wende mich heute an Sie, weil ich ein großes Problem habe. Ich fange einfach mal an …“

„Hallo Walter, ich bin auf der Suche nach Rat und Austausch, da ich mich momentan schwertue, mich in meine Lebenssituation einzufinden und diese anzunehmen. Auch von meinem Glauben entfremde ich mich nach und nach, wodurch zusätzlicher Halt verloren gegangen ist …“

Der Beginn von zwei Anfragen aus der Internetseelsorge mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. Auf diese oder auch manchmal noch knappere Weise öffnen Menschen, die nach seelsorglicher Begleitung suchen, ihre Türen zu ihrem Lebensumfeld, zu Beziehungen, in denen sie leben, zu ihren Fragen. Und jedes Mal ist es spannend, als Internetseelsorger den Weg mit diesen Menschen zu gehen. Wie gelingt es, eine Beziehung aufzubauen, Worte zu finden, zwischen den Zeilen zu lesen, Resonanzen zu spüren und auch zu benennen, die weiterführen? Die Anfrage an Seelsorge ist auf diese Art oft sehr unvermittelt und überfallartig. Ratsuchende schätzen aber diese Form, sie müssen sich nicht an Öffnungszeiten einer Beratungsstelle orientieren. Sie können in ihrer gewohnten Umgebung schreiben, müssen nicht sprechen, können frei schriftlich ihre Gefühle äußern, werden nicht „dumm angeschaut“, benennen oft Verhalten, das sie selbst an anderer Stelle noch nicht äußern konnten oder wollten, weil es mit Scham besetzt ist. Es entsteht ein Bild, eine Wirkung beim Lesen, mit dem sich die Seelsorgerin, der Seelsorger in Verbindung bringen muss. Der Text erzeugt eine Resonanz, die sehr unterschiedlich aussehen kann und die in den Dialogen immer wieder überprüft werden will, sowohl von der Seelsorgerin, dem Seelsorger wie den Anfragenden. Die asynchronen Antworten ermöglichen diesen Dialog und die Auseinandersetzung mit sich selbst sowohl bei Anfragenden als auch bei Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Hinter den schwarzen Zeichen der Schrift auf dem Bildschirm erscheinen die weißen Flächen zwischen den Buchstaben wie das Verborgene, das Geheimnis, das in jedem Menschen steckt und oft erst nach und nach im Verlauf eines Dialoges zum Vorschein kommt und auch dem Ratsuchenden, der Ratsuchenden plötzlich klar und deutlich wird.

Wie kam es dazu?

1998 setzt die Diözese Würzburg, zeitgleich mit der Erzdiözese Freiburg, als eine der ersten auf eine neue Form der Begleitung und Beratung, eine neue Form der Seelsorge: Hauptamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger stellen sich für Menschen zur Verfügung, um sie per Mail auf ihrem Weg zu begleiten und zu beraten. Diakon Uwe Holschuh entwickelte mit dem damaligen Leiter der Internetredaktion der Diözese Würzburg, Walter Sauter, ein Seelsorgeangebot, das der Zeit entsprach. 1998 entwickelte sich die flächendeckende Nutzung des Internets erst, es war das Jahr der Gründung von Google. Es gab die ersten Websites und die ersten Online-Angebote. Nach der ARD-ZDF-Onlinestudie von 1998 verfügten 6,6 Millionen Personen in Deutschland über einen Onlinezugang. Der „typische Onlinenutzer ist jung, männlich und hochgebildet“, hieß es damals (van Eimeren u. a. 1998). Von dieser Ausgangslange entwickelten sich dann auch die Nutzer des Seelsorgeangebotes. Von Anfang an wurden die Vorteile des niedrigschwelligen Angebotes sichtbar. Viele Nutzerinnen und Nutzer schätzen es, von zu Hause aus anonym, kostenlos und datensicher eine Seelsorgerin oder einen Seelsorger zu kontaktieren. Vor allem Themen, die vielleicht in einem Gespräch nicht direkt angesprochen werden konnten, werden so über die Tastatur formuliert. Ein anderer Vorteil ist die Möglichkeit des zeitversetzten, asynchronen Schreibens und Antwortens sowohl für die Anfragenden wie auch für die Seelsorgerinnen und Seelsorger. Gerade auch Themen, die vor Ort mit einem Seelsorger, einer Seelsorgerin nicht besprochen werden können, vielleicht weil sie schambesetzt sind oder auch „zu nah“ gehen, kommen in den Anfragen immer wieder vor.

Ratsuchende kommen aus den unterschiedlichsten Milieus mit den verschiedensten (nicht nur kirchlichen) Anfragen. Häufige Themen sind Depression, Beziehungskrisen, Einsamkeit, kirchliche und religiöse Spezialfragen, die kirchlicherseits tabubesetzt sind. Anfragende mit psychischen Belastungen nehmen in der Statistik zu. Menschen, die keine anderen Kontaktflächen mehr haben oder auch in mehreren Therapiemöglichkeiten Hilfe gesucht haben, sehen die Begleitung über das Internet als eine nochmalige Chance, die sie weiterbringen könnte.

Das Alter der Ratsuchenden entspricht den Nutzern des Internets. Zu Beginn waren es Männer und weniger Frauen bis 50, die auch beruflich viel mit dem Internet zu tun hatten. Inzwischen nutzen alle Altersschichten das Internet intensiv, so dass auch das Alter der Ratsuchenden angestiegen ist. Vermehrt melden sich Menschen, die schon in Therapie und Beratung waren. Generell ist diese Form der Seelsorge sehr niedrigschwellig: Kein Aufsuchen einer Beratungsstelle, keine Preisgabe der Stimme im Unterschied zur Telefonseelsorge, anonym, erstes „Andocken“. Es wird erlebt als ein wichtiges Angebot der Kirche, Menschen in ihrer persönlichen Notsituation eine erste Anlaufstelle zu geben und sie zu begleiten oder auch an die entsprechenden anderen Beratungsinstitutionen weiterzuleiten.

In der Regel handelt es sich eher um eine Kurzzeitberatung (sechs bis acht Mails). Es liegt aber im Ermessen des Seelsorgers, der Seelsorgerin, auch über einen längeren Zeitraum den Kontakt aufrechtzuerhalten.

Seit 2012 haben sich nach und nach das Erzbistum Freiburg und die Bistümer Aachen, Mainz, Würzburg, Speyer, Erfurt und Osnabrück zusammengeschlossen, um auf der Plattform internetseelsorge.de (betrieben von der KAMP, der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral) gemeinsam ein Angebot der Internetseelsorge im deutschsprachigen Raum zu platzieren. Aus dem anfänglichen Pionierdasein in einzelnen Diözesen wie Freiburg und Würzburg gab es immer wieder auch das Bemühen, eine Ebene zu schaffen, auf der mit mehreren Diözesen ein solches Angebot betrieben werden kann – das Internet kennt keine Diözesangrenzen. Auf internetseelsorge.de vernetzen sich jetzt verschiedene diözesane Anbieter mit einem datensicheren Webmail-System, das Anfragenden erlaubt, aus verschiedenen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, an die sie ihre Anfrage richten können, auszuwählen. Alle Seelsorgerinnen und Seelsorger sind zur Supervision verpflichtet und nehmen an Fortbildungsveranstaltungen teil.

Weiterentwicklung: Geistliche Begleitung

Seit 2017 wird über die Plattform internetseelsorge.de auch „Geistliche Begleitung online“ angeboten von den (Erz-)Bistümern Rottenburg-Stuttgart, Freiburg und Würzburg. Der Unterschied zum Seelsorgeangebot: Die Form der Begleitung ist über einen längeren Zeitraum angelegt. Es wird Wert darauf gelegt, dass auch über die digitale Kommunikation ein geistlicher Prozess über 4 bis 6 Monate angestoßen wird. Die geistlichen Begleiterinnen und Begleiter, die sich für dieses Angebot zur Verfügung stellen, sind Mitglieder des Forums Geistliche Begleitung der Diözesen, damit ausgebildete geistliche Begleiterinnen und Begleiter. Das Angebot wird vor allem auch von Menschen genutzt, die in diese Form der Begleitung hineinschnuppern wollen bzw. sich noch nicht sicher sind, ob diese Form der Begleitung eine Möglichkeit für sie ist. Dabei kommt es immer wieder zu Nachfragen nach einer Begleitung „face to face“.

Seelsorge online: Entwicklungen

Beratende Seelsorge per Mail oder Chat, wie sie am Anfang von den Pionieren der Internetseelsorge in den Bistümern vorangetrieben wurde, muss inzwischen nicht mehr begründet werden. Inzwischen hat jede Beratungsstelle auch ein Online-Angebot und gerade anonyme Begleitungs- und Beratungsanfragen werden im Netz auf vielen Kanälen beantwortet. Die Beschleunigung der digitalen Kommunikation im kirchlichen Bereich durch Corona, die unterschiedlichen Angebote von Messengerbegleitung, Youtube-Kommentaren bei Livestreams, Zoom-Gottesdienste u. v. m. zeigen, dass gerade im Netz digitale Kirche, Digitalpastoral mit hochwertigen Angeboten vorhanden sein muss, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Einzelne Seelsorgerinnen und Seelsorger in den Gemeinden waren gezwungenermaßen im Netz kreativ unterwegs und haben für sich entdeckt, dass der Kontakt so zu noch ganz anderen Milieus, Kreisen und Gruppen möglich ist. Die Weiterentwicklung des Kommunikationsverhaltens durch Chat und Messenger-Dienste verändert auch die Mail-Kommunikation. Es werden Abkürzungen, Emojis, durchgängige Kleinschreibung, kurze Sätze, Teilsätze verwendet. Genauso nimmt die Erwartung zu, dass möglichst schnell kommuniziert wird und direkte Antworten ohne lange Pausen wünschenswert wären. Das alles verlangt eine qualifizierte und fundierte Ausbildung im Bereich der schriftbasierten Form der Seelsorge per Mail und Chat.

Auf diese Weise haben viele Seelsorgerinnen und Seelsorger erfahren, was Birgit Knatz schon 2013 in ihrem Handbuch Internetseelsorge beschrieben hat: „Hier gilt, was die große Anziehungskraft der computergestützten Kommunikation ausmacht: Durch die Niedrigschwelligkeit und die Möglichkeit der Anonymität entsteht die paradoxe Situation einer besonderen Nähe durch Distanz. Ähnlich wie das Telefon ist der Computer eine Art Zaubermaschine: Er hält die Nähe fern und zieht die Ferne in die Nähe der Intimität. Diese Distanz ermöglicht eine Kommunikation mit Themen, die sonst eher als Tabu gelten: Glaubensfragen, Sexualität, Sterben, Tod, Schuld und Vergebung“ (Knatz 2013, 24 f.).

Für die beteiligten Verantwortlichen auf internetseelsorge.de war schon immer die Gewährleistung von Anonymität und Datensicherheit per Webmail Grundvoraussetzung des Angebotes von seelsorglicher Begleitung. Das bleibt sicherzustellen und auch in immer undurchschaubareren Datenschutzregeln aufrechtzuerhalten, um die Nutzerinnen und Nutzer, ihre Anliegen und ihre Anonymität zu schützen, und das gilt es auch in die Bistümer zu kommunizieren, die noch nicht auf der Plattform vertreten sind. Internetseelsorge.de bietet als Plattform eben das niedrigschwellige und doch sichere und anonyme Angebot für Seelsorge, das zumindest als Link auf jeder Gemeindehomepage erscheinen müsste. Menschen, die keinen Draht zu ihrem Gemeindeseelsorger, ihrer Gemeindeseelsorgerin finden, bekommen so die Möglichkeit, ihr Anliegen, ihre Frage bei ausgebildeten Seelsorgerinnen und Seelsorgern abzuladen und von ihnen begleitet zu werden.

Aus den Statistik-Angaben der ökumenischen Telefonseelsorge erfährt man, dass gerade die schriftlichen Anfragen per Mail oder Chat in den letzten Jahren permanent zugenommen haben und auch immer mehr Dienststellen diese Funktionen einrichten und ihre Ehrenamtlichen entsprechend schulen (vgl. die Statistiken auf www.telefonseelsorge.de). Immer mehr Menschen nutzen diese anonyme Form – als Ratsuchender muss ich nicht mal meine Stimme offenbaren –, um für sich Rat und Unterstützung zu finden. Gleichzeitig verlagert sich für immer mehr Menschen die Suche nach Informationen, nach Begleitung, nach Unterstützung, nach Rat in allen Bereichen in die Öffentlichkeit des Internets. Neben der reinen Information über „territorial zugeordnete“ Angebote der Kirchengemeinden suchen Menschen vermehrt auch über die Plattformen im Netz nach Zugängen für ihre Spiritualität und ihren Glauben. Sie suchen Hinweise und Angebote für ihre Form von selbstbestimmter Spiritualität (vgl. Weiher 2009, 27) in ihrem Alltag und an ihren Orten, eben oder gerade auch im Internet, zumal der Anschluss an die zuständigen Seelsorgerinnen und Seelsorger vor Ort durch größere pastorale Strukturen oft verlorengeht. Viele Gemeindeleiterinnen und Gemeindeleiter nehmen das wahr und strengen sich mit unterschiedlichen Bemühungen an, Gemeinde weiter erlebbar zu machen. Dennoch fühlen sich viele Gemeindemitglieder nicht mehr in ihrer Gemeinde beheimatet und begeben sich gerade auch im Netz auf die Suche. Das Angebot der Internetseelsorge unterstützt Suchende auf dem Glaubensweg mit dem Angebot der geistlichen Begleitung. „Das Suchen nach persönlicher Sinngebung und einer Grundorientierung in der Welt geschieht ein Leben lang – es gehört zur Grundausstattung des Menschen. Zwar geschieht das oft unausdrücklich, eingewoben in den Lebensvollzug, aber im Angesicht tiefer existentieller Herausforderungen […] wird diese Sinngebung ausdrücklich, auch im spirituellen Bereich, gesucht“ (Weiher 2009, 27).

Seelsorge – Resonanz

Beratende und begleitende Internetseelsorge durch erfahrene Seelsorgerinnen und Seelsorger ist gerade für Menschen auf der Suche im Netz die Kontaktfläche und Resonanzebene, die es ihnen erlaubt, in ihrem selbstbestimmten Verhältnis von Nähe und Distanz Glauben und Leben zu Wort kommen zu lassen. Menschen auf der Suche nach ihrer Identität oder in den Inkonsistenzen und Brüchen ihres Lebens zu begleiten und lernen, damit umzugehen, ist eine der Zielsetzungen von Seelsorge nach Doris Nauer (vgl. Nauer 2010, 187). Menschen können so ihre Lebens- und Glaubensgeschichte zum Thema ihrer Begleitung und Beratung machen, ohne eine Schwelle zum Pfarrhaus oder durch ein Kirchenportal zu überwinden. Sie nutzen die gleiche (Arbeits-)Oberfläche, die sie auch für die Kommunikation mit Freunden und Verwandten nutzen. Dementsprechend sensibel müssen Seelsorgerinnen und Seelsorger mit dem Vorvertrauen umgehen, das ihnen entgegengebracht wird, und „den Menschen den Freiraum eröffnen, selbst zu bestimmen, wann sie welche Themen einspielen wollen, und entsprechend sensibel ‚den Ball aufzunehmen‘“ (Nauer 2010, 183). Die asynchrone Begleitung lässt dazu ganz viele Möglichkeiten.

Dass Ratsuchende diese Form der Seelsorge im Netz als eine Möglichkeit erleben, ihr Leben zu sortieren, melden sie oft den Seelsorgerinnen und Seelsorgern zurück. Natürlich gibt es auch den Abbruch einer Begleitung oder eines Maildialoges, was den Seelsorger, die Seelsorgerin meist ratlos zurücklässt. In seltenen Fällen gibt es auch direkte Rückmeldungen an die Verantwortlichen: „Da ich in der heutigen Zeit mich kaum getraue, einen Priester um ein Gespräch zu bitten, bin ich sehr dankbar, dass es das Angebot der Internetseelsorge gibt. Hier weiß ich, dass sich Frauen und Männer bewusst Zeit nehmen für das Gespräch, das sie sehr gut vorbereitet und einfühlsam führen. Nach meiner Erfahrung bringt das eigene Formulieren der Probleme in schriftlicher Form auch schon etwas Klarheit. Ich danke allen, die das Angebot der Internetseelsorge möglich machen“ (aus einem Dankschreiben von 2020 an den Generalvikar der Diözese Würzburg).