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Lebensgefühl Corona

Erkundungen in einer Gesellschaft im Wandel

„Lebensgefühl Corona“ ist eine qualitative Langzeitstudie, mit der über ein Jahr lang die psychosozialen Folgen der Corona-Pandemie erforscht wurden. Es wurde untersucht, wie die Menschen in ihrem Leben und Alltag mit den Zumutungen der Pandemie umgegangen sind, wo sie konkret Halt und Orientierung gefunden haben und an welchen Stellen Institutionen wie Kirche und Diakonie für sie in Erscheinung traten. Die Studie entstand in Kooperation der Evangelischen Arbeitsstelle midi, der Diakonie Deutschland, des größten christlichen Gesundheitsunternehmens AGAPLESION gAG, der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und des Markforschungsinstituts LIMEST.

Auf der Grundlage eines qualitativ-ethnographischen Ansatzes wurde eine Langzeitstudie mit 50 Teilnehmenden unterschiedlichen Alters, geographischer, familiärer und beruflicher Lage und religiösen Hintergrunds erstellt, die in drei Befragungswellen (Ende September bis Ende Oktober 2020, Februar/‌März 2021 und Juni/‌Juli 2021) in ausführlichen Interviews von 90 bis 150 Minuten ihre Gedanken, Emotionen und Erfahrungen während der Pandemie schildern konnten. In der ersten Pandemiephase im Frühjahr 2020 schwanken die Gefühle zwischen Ungläubigkeit und zunehmender Beklemmung über das neuartige Corona-Virus; im ersten Lockdown bewegt man sich zwischen Inne- und Durchhalten und verspürt nach den ersten Lockerungen eine – allerdings trügerische – Zuversicht. Im Herbst/‌Winter 2020 machen sich angesichts der zweiten Welle und des zweiten Lockdowns Ernüchterung und zunehmende Corona-Müdigkeit breit. Sorgen über das Ausmaß und die langfristigen Folgen der Pandemie werden größer. Im Sommer 2021 scheint es zeitweilig so, als habe Deutschland hinsichtlich der Pandemie das Schlimmste hinter sich, doch wird der Alltag weiterhin als einschränkend und beschwerlich empfunden. Offensichtlich muss man sich noch länger auf eine Zeit der Ungewissheit einstellen. Wie ein roter Faden wird in den Interviews deutlich, dass die Menschen mit Widersprüchlichkeiten, Unsicherheiten und Ungewissheiten bei der Bewältigung des Pandemiegeschehens konfrontiert sind.

Herzstück der Studie ist die Typologie dieses ambivalenten Lebensgefühls, das anhand von acht Corona-Personae veranschaulicht wird. („Persona“ ist ein Werkzeug aus dem Bereich des Marketings, bei dem fiktive Personenbeschreibungen potenzieller Kund*innen erstellt werden.) Mit pointierten Zu­spitzungen wurde das Lebensgefühl dieser Corona-Personae versucht einzufangen: Acht­same, Erschöpfte, Empörte, Zuversichtliche, Mitmacher*innen, Genügsame, Denker*innen und Ausgebrannte lassen sich voneinander abgrenzen in der Art und Weise, wie sie mit der Pandemie umgehen. Diese Typologie bildet dabei sowohl Faktoren der sozialen Kohärenz als auch der Sinn-Kohärenz ab. Zu beachten ist, dass es sich bei den Corona-Personae um heuristische verdichtete Idealtypen handelt, die so in Reinform nicht vorfindlich sind, sondern immer Annäherungen an die Wirklichkeit darstellen.

Typologie „Lebensgefühl Corona“

Die „Achtsamen“ können als harmoniesuchende Selbstverwirklicher*innen beschrieben werden, die sich und ihr Tun in einem größeren kosmischen Kontext sehen. Sie schauen ins­gesamt relativ entspannt und innerlich ruhig auf das Pandemiegeschehen und hoffen, dass die guten Erfahrungen aus der Pandemie-Zeit ins Post-Pandemische transformiert werden.

Die aufopferungsvollen und pflichtbewussten „Ausgebrannten“ kommen angesichts der Herausforderungen der Pandemie an ihre Grenzen. Ihr Grundgefühl in der Pandemie ist Resignation. Die Krise sorgt bei Ihnen für eine starke Verunsicherung.

Die „Denker*innen“ sind gut situierte Kreative und Liberal-Intellektuelle, die die Pandemie in größere Kontexte einordnen. Insgesamt empfinden die Denker*in­nen die Zeit der Pandemie als „heilsam“ und zugleich als mühevolle Unterbrechung.

Die „Empörten“ verstehen sich als die urbane, kosmopolitische Avantgarde, die sich selbst verwirklichen und für eine bessere Welt, für Gerechtigkeit und Solidarität einstehen will. Sie zeichnet eine zeitkritisch-optimistische Einstellung zur Pandemie aus.

Die oft aus kleinbürgerlichen Milieus stammenden „Erschöpften“ fühlen sich aufgrund vieler Verpflichtungen und Sorgen wie im Hamsterrad; psychische Erkrankungen sind bei Ihnen häufig. Zur Pandemie haben sie insgesamt eine fatalistische Einstellung und halten die Regelungen zur Pandemiebewältigung penibel ein.

Die „Genügsamen“ stammen oft aus der aufstrebenden jungen bürgerlichen Mitte, die auf ihre Work-Life-Balance achtet und Herausforderungen pragmatisch angeht. Sie kommen insgesamt gut durch die Pandemie und empfinden sie nicht als bedrohlich oder existenziell für das eigene Leben.

Die „Mitmacher*innen“ lassen sich als verantwortungsbewusste Mittelschicht beschreiben. Sie sind von der Pandemie oft nur mittelbar betroffen und bewegt von der Sorge v. a. um ältere Familienmitglieder. Ausgeprägt ist ihr Wunsch nach klaren und einheitlichen Regeln.

Den gutbürgerlichen „Zuversichtlichen“ ist Beständigkeit im Leben wichtig. Insgesamt geht es ihnen auch in der Pandemie gut. Wenn Sorgen aufkommen, dann v. a. um andere, ihnen nahestehende Menschen. Der Kontakt zur Familie im weiteren Sinn und zum Freundeskreis wird herbeigesehnt.

Folgende Zuversichtsanker wurden benannt auf die Frage, wo man Kraft und Zuversicht findet – die Reihenfolge stellt dabei das Ranking der Zuversichtsanker dar:

  • Familie/Partnerschaft
  • Freundeskreis
  • Natur/im Freien sein
  • Bewegung, Sport, Fitness
  • Spirituelles im weiteren Sinne (Yoga, Meditation, Gebet)
  • Garten-/Heimarbeiten
  • Lesen, Kultur
  • Urlaub
  • Musik, Informationen/Nachrichten
  • Kochen, Job

Für einen Großteil der Menschen spielt die Kirche eine untergeordnete Rolle während der Pandemie. Gleichwohl wird teils durchaus be­mängelt, dass Kirche so wenig präsent ist. Diakonie genießt bei vielen Befragten hingegen einen überaus guten Ruf. Vor allem die sozialdiakonischen Hilfen werden wertgeschätzt, auch wenn man sie selbst nicht beanspruchen muss. Während der Pandemie nimmt man durchaus wahr, dass sich die Diakonie für die Unsichtbaren und Vergessenen einsetzt.

In Auswertungsperspektiven verschiedener Mitglieder des Studienboards, die den Schluss der Studie bilden, wird deutlich, dass in den Ergebnissen, v. a. der Typologie der Corona-Personae, hilfreiche Impulse besonders für diakonisches Handeln liegen. Die differenzierten Bedürfnislagen der Menschen werden deutlich und durch die fiktiven Personenbeschreibungen detailliert illustriert.

Aus pastoraler Sicht sind die Ergebnisse hilfreich, aber auch verstörend, wie es Johannes Wischmeyer ausdrückt: „Die Befragten nehmen ein Relevanzdefizit kirchlichen Handelns wahr, das mit positiven oder zumindest optimistischen Selbstsichten kirchlicher Akteure, wie man die Coronaperiode bestanden habe, im Grunde nicht mehr zu vermitteln ist. […] Die Befragten kamen in einer kollektiven und existentiellen Krisenperiode nicht nur ohne die Kirche aus – sie haben die Kirche in der Regel nicht einmal vermisst. […] Viele Menschen haben bemerkt, dass sie mit (noch) weniger Partizipation an gesellschaftlichen Institutionen auskommen, um Lebenserfüllung und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Die Tendenz einer weiteren Autarkisierung und Singularisierung scheint sich zu bestätigen“ (162 f. – Seitenzahlen beziehen sich auf die hier vorgestellte Studie).

Christian Albrecht und Reiner Anselm spitzen es in ihrer theologischen Interpretation so zu: „Das Evangelium muss als unmittelbar spürbare Zuwendung wahrgenommen werden, nicht als Gegenstand eines praktischen oder gedanklichen Suchspiels. Menschen erwarten eine entgegenkommende Kirche, die ihren unmittelbaren Nutzen jederzeit zeigt. Das Maß der Zustimmung zur Kirche hängt daran, wie konkret und effizient ihre reale Lebenshilfe erlebt wird. Die sich immer wiederholende Forderung nach ‚Professionalität‘ der kirchlichen Angebote, wie sie in den Befragungen zum Ausdruck kommt, muss in dieser Hinsicht interpretiert werden: Die Kirche und ihr Personal sollen liefern, was nützt“ (158 f.). Das wirft Fragen auf für das kirchliche Selbstverständnis: „Wie verhält sich die Erwartung, die Kirche solle sich Menschen zur Bearbeitung ihrer lebenspraktischen Probleme proaktiv, unvoreingenommen und undogmatisch anbieten, zum Selbstverständnis der religiösen Institution?“ (161). Es ist also ein dickes Brett, das in Zukunft zu bohren ist: Wie kann eine kleiner werdende Kirche die sowohl größer als auch unverbindlicher werdenden Erwartungen an sie erfüllen?

 

Lilie, Ulrich/Hörsch, Daniel (Hg.), Lebensgefühl Corona. Erkundungen in einer Gesellschaft im Wandel. Eine qualitative Langzeit-Studie, Berlin 2021, abrufbar unter https://www.mi-di.de/corona-studie. Auf dieser Seite findet sich auch der Pandem-O-Mat, der die persönliche Einordnung in die Corona-Typologie ermöglicht.