Inhalt

Raus in eine neue Freiheit

Die Überwindung der klerikalen Kirche

Den Wandel zu neuen sozialen Gestalten des Gottesvolkes, der bereits geschieht, wahrzunehmen und zu begleiten, ist der Haupttenor der zahlreichen Bücher von Christian Hennecke. Dabei werden seine eigenen Lernerfahrungen, sei es mit einer Kirche der Beteiligung in den Small Christian Communities in Afrika und Asien, mit der mixed economy der Anglikanischen Kirche, mit den Entwicklungen in sendungsorientierten Bewegungen und Freikirchen, immer wieder in den Kontext einer lokalen Kirchenentwicklung des Gottesvolkes eingebracht. „Es wächst schon etwas Neues, seht ihr es denn nicht?“ Sein neues Buch liest sich einerseits wie eine Synthese dieses nun schon langjährigen kommunikativen und gemeinsamen Lern-, Erfahrungs- und Begegnungsweges, andererseits werden die Erfahrungen in der Pandemie (neue Basics des Glaubens und liturgische Freiheiten) wie auch die aktuellen Diskurse der Kirche z. B. beim nationalen Synodalen Weg und den weltkirchlichen synodalen Bewegungen aufgenommen und bedacht. Hennecke wendet sich gegen klerikale Machtdiskussionen, aber auch gegen alle Bestrebungen, die in Gegenabhängigkeiten zu einer exklusivierenden Ständekirche ebenfalls machtförmig mit der eigenen alternativen „Wahrheit“ daherkommen. Sein Versuch ist, zu einer ganz anderen Grundlage des Glaubens und damit der Kirche zu finden, nämlich einer, die der Kraft des Evangeliums und des Geistes in den Gaben der Beteiligten vertraut. Die Freiheit des Evangeliums, das Geheimnis und die innere Dynamik geschenkten und erfahrenen Glaubens, die Vielfältigkeit der Glaubenswege und das Wachstum von Verantwortung, Persönlichkeit und Gemeinschaft als Christusnachfolge hinterfragen eine überkommene volkskirchliche Logik, die zumeist ein Interesse am Erhalt ihres verfasst-institutionellen und normativ-ideologischen Soseins hat. Der Autor will aus dieser Logik grundsätzlich aussteigen. Ihm geht es nicht um die Kirche als normierte und normierende Institution, schon gar nicht um Zahlen und Machtpositionen, Privilegien und Systemrelevanz, sondern um das Evangelium und den Glauben. Erfahrungsräume von Begegnung und Begleitung, von Wachstum, Berufung und Sendung, von Zeugnis und Mystagogie führen wie von selbst zu neuen Gestalten des Christseins, zu neuen Gestalten von Gemeinschaft und Dienst. In dieser neuen Denklogik spielt er katechetische Fragestellungen („Rekrutierung für die eigene kirchliche Gemeinschaft“; 32) ebenso durch wie die Frage nach Ämtern und Diensten („[…] das Fehlen der Priester führt zu einer Umkehr und einer umfassenden Relecture des priesterlichen Dienstes in einer Kirche der Charismen und Gaben“; 90) und Leitung („[…] wie Gemeinschaft und Gemeinde aus der Kraft des Evangeliums gestärkt werden können. […] den Grund des Glaubens erfahrbar zu machen und eine radikale Charismenorientierung zu entfalten […]“; 146) wie einen Umgang mit der Schrift („[…] wenn einige mehr wissen können und wollen als andere, […] dann kann das Wort Gottes nicht seine Wirksamkeit unter den Brüdern und Schwestern entfalten“; 75). Auch bei der Ökumene geht es für Hennecke in einem postkonfessionellen Zeitalter nicht mehr darum, „den jeweils anderen Glaubensgeschwistern und ihren konfessionellen Traditionen und Institutionen den rechten Glauben mit Verweis auf die eigene Wahrheit abzusprechen“ (159). Vielmehr gilt: „Die Zusage seiner Gegenwart überschreitet und umgreift die konfessionellen Grenzen und Grenzziehungen“ (158).

Es geht dem Hildesheimer Seelsorgeamtsleiter um eine gabenorientierte Wirkkraft des Evangeliums, die ein neues Werden aus dem eigentlichen Ursprung meint. „Dort, wo wir heraustreten aus den klassischen Gefangenschaften unseres kirchlichen Binnenzirkels, können wir die Fruchtbarkeit des Evangeliums und die Prozesse einer Kirche im Werden betrachten, uns freuen und daran lernen, wie Glauben heute geht“ (52). Von daher erschließen sich für Hennecke vielfältige Formen der Gemeinschaft, Dienste und Ämter neu. Auch Wege der Berufung und Ausbildung, Prozesse und Kommunikationsformen gewinnen von diesem erneuerten Verständnis von Sakramentalität einer Kirche, die dem Geist Gottes Raum gibt, neue Relevanz. Es ist die gemeinsame Verantwortung der Getauften in einer Kirche, die das Sakramentale nicht als erhaltene und zu verwaltende Machtfülle, sondern als Geschenk und Gabe begreift, als Erfahrung, dass alles im Leben von Gott her gegeben ist und dass Glaube als Beziehungs- und Antwortgeschehen in der Zuwendung und Kraft Christi wurzelt und nicht in menschlicher Machtfülle.

Es bleiben Fragen: wie dieser Ausbruch (nicht Aufbruch!) zu einer gabenorientierten Kirche der Getauften angesichts der aktuellen theologischen und organisationalen Debatten und der vielen Versuche, eine herkömmliche Ständekirche mit ihrem Deutungsanspruch und ihren Exklusionen zu erhalten, geschehen kann (immerhin steht der Autor selbst als leitende Persönlichkeit in einem institutionell-systemischen Setting mit all seinen Selbstbezüglichkeiten und Grenzen). Ist seine Wertung vieler Phänomene z. B. der pastoralen Berufsgruppen und seine Kritik am akademischen Ringen um theologische Hermeneutik nicht oftmals ein wenig holzschnittartig und undifferenziert? Und wie geht diese Veränderung, wenn tatsächlich versucht wird, Machtpositionen und Deutungshoheiten zu erhalten, und wenn daher viele Verletzte, Enttäuschte und Resignierte im aktuellen kirchlichen Klima überlegen, ob sich die Kraft der Anstrengung noch lohnt? Der Rezensent fragt sich, wer dieses „Wir“ ist und wer sich darin mitgemeint fühlen soll, das der Autor an vielen Stellen etwas vereinnahmend verwendet. Und dennoch wird die Leserin/ der Leser mit hineingenommen in ein ermutigendes Bild der Hoffnung auf „Orte“, wo sich das Evangelium entfalten kann, und eine Zukunft des Glaubens, wenn es gelingen würde, „jenseits politischer Machtspiele hier den geistgewirkten Sensus fidei wahrnehmen zu können. […] Es wäre ein Weg in eine gelassene und spannende Freiheit“ (177). Die Lektüre dieses anregenden Buches lohnt sich für alle, besonders aber für diejenigen, die den Mut nicht verlieren und sich immer noch einbringen wollen.

 

Hubertus Schönemann