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Die Logik der Digitalität

Herausforderung für Kirche und Pastoral

Kirche tut sich schwer, sich in die heutige Kultur der Digitalität einzufinden. Das liegt wesentlich daran, wie Andrea Imbsweiler ausführt, weil die Logiken der Digitalität herkömmlichen kirchlichen Logiken entgegenlaufen. Und doch kommt Kirche nicht darum herum, den Schritt in die Digitalität zu wagen, will sie nicht ihre Kommunikationsbasis verlieren.

Es ist mittlerweile tausendfach gesagt und geschrieben worden: „Corona hat einen Digitalisierungsschub gebracht“, auch in der Kirche. In der Notsituation des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 boomten digitale pastorale Angebote. Zahlreiche Formate sind experimentell entstanden und oft – sobald es wieder möglich war, sich vor Ort zum Gottesdienst zu versammeln – schnell wieder vergangen. War bisher pastorales Handeln im Digitalen ein Randphänomen, dessen sich nur wenige Exoten im kirchlichen Dienst annahmen, für das in den Bistümern nur wenige Ressourcen bereitgestellt wurden und das oft nebenbei und halb privat ohne expliziten dienstlichen Auftrag bespielt wurde, scheint das Thema nun breit im Bewusstsein vieler pastoraler Akteure und zumindest mancher Entscheider angekommen zu sein. Viele haben experimentiert und Erfahrungen damit gemacht, als Seelsorger:in oder einfach als Gläubige:r im digitalen Raum unterwegs zu sein. In Studien wie CONTOC oder einer Befragung einiger evangelischer Landeskirchen äußern viele der Befragten, auch in Zukunft „nach Corona“ digitale Formate anbieten oder nutzen zu wollen. Andere dagegen waren und sind froh, wenn sie zu den vertrauten Arbeitsweisen vor Ort zurückkehren können.

Was viele in dieser Zeit gelernt haben dürften: Es ist nicht damit getan, das im Analogen Gewohnte einfach eins zu eins in diverse digitale Kanäle einzuspeisen – das klassische Beispiel: Der Gottesdienst, in der Kirche ohne Gemeinde gefeiert, wird abgefilmt und als Livestream übertragen. Dass das so nicht passt, spürten und spüren viele. Aber was ist es, was da nicht passt, und was wäre zu tun, um es zu ändern?

Das kirchliche Fremdeln mit dem Digitalen

Die Kirchen, insbesondere die katholische, tun sich mit der vom Digitalen geprägten Gegenwart nach wie vor schwer. Die digitale Technik ist ihr lange fremd geblieben – dafür schien es im Zusammenhang von Seelsorge, Glaubensvermittlung oder Liturgie weder Notwendigkeit noch Platz zu geben. Die Entwicklungen in der Computertechnik und der Datenverarbeitung waren zunächst beflügelt durch den Bedarf in Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft, komplexe Berechnungen auszuführen, Prozesse zu steuern und große anfallende Datenmengen zu verarbeiten. Einen solchen Bedarf hatten die Kirchen nicht oder allenfalls am Rande im Bereich der Verwaltung.

Die Lage hat sich allerdings entscheidend geändert, als ein immer größerer Teil der Kommunikation digital wurde und es für die Mehrheit selbstverständlich wurde, so zu kommunizieren – denn Kommunikation gehört zum kirchlichen Kerngeschäft. Das Internet, dann dessen alltägliche mobile Nutzung und die Vernetzung durch Social Media haben in den letzten Jahrzehnten unsere Lebenswelten und unsere Kommunikation mitgeprägt und verändert. Die „typisch kirchliche“ Haltung dazu war – und ist oft noch immer – eher abwartend bis kulturpessimistisch: Für den profanen Alltag ist das Digitale mehr oder weniger akzeptiert, aber wenn es um das „Eigentliche“ geht, ist es doch besser, ganz analog und physisch im gleichen Raum zu sein. Digital unterwegs zu sein, gilt innerhalb der Kirche nach wie vor, trotz des „Digitalisierungsschubs“, oft als Notbehelf.

Die Kultur der Digitalität

Spätestens mit der Veränderung der Kommunikation ist es notwendig, nicht nur auf Digitalisierung als Prozess technischer Entwicklung zu schauen, sondern auch Digitalität in den Blick zu nehmen: die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene. Es zeigt sich, dass deren Auslöser nicht der technologische Wandel allein ist, sondern dieser zusammen mit bereits seit langem laufenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen wirkt. Es ist also nicht der Computer, wahlweise das Internet oder das Smartphone, Grund der gesellschaft­lichen Veränderungen und der für viele damit einhergehenden Verunsicherungen, sondern das Zusammenspiel mit vorausgehenden und parallel vorhandenen Strömungen, die durch die neuen Technologien verstärkt und in besonderer Weise sichtbar werden.

Erforderlich und lohnend wurde die technologische Weiterentwicklung durch die wachsende ökonomische Rolle von Informationen und Daten: Immer mehr Arbeitsbereiche basierten auf deren Erhebung, Verarbeitung und Kommunikation, die zunehmende Komplexität im Umgang damit erforderte technische Unterstützung. Die Verfügbarkeit technischer Informationsverarbeitungs- und Kommunikationssysteme wiederum verstärkt die Entwicklung zur Wissensökonomie und radikalisiert den Wandel – zwei sich gegenseitig vorantreibende Prozesse (vgl. Stalder 2016, 24–34). Das allgemein verfügbare Internet macht große Mengen an Informationen und Wissen für jede:n zugänglich und ermöglicht auch allen, dazu weiter beizutragen – man denke allein an Projekte wie Wikipedia.

Ein anderes Beispiel: Durch die verschiedenen Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts konnten sich immer vielfältigere Gruppen von Menschen am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen, die zuvor weniger gehört wurden – Frauen, homosexuelle und queere Menschen, People of Color kamen gegenüber der vorherigen männlichen, heteronormativen, weißen Dominanz immer mehr zu Wort. Das Internet mit seinen grundsätzlich für jeden zugänglichen Kommunikationswegen und Veröffentlichungsformen bot neue Möglichkeiten des breiten und ortsunabhängigen Meinungsaustauschs, der Vernetzung Gleichgesinnter, der Bildung von Subkulturen und konnte so helfen, die Vielfalt der Perspektiven und Lebenswelten sichtbar zu machen und im Kleinen und Großen in den Diskurs einzubringen. Die technische Weiterentwicklung der Kommunikation vergrößerte so wiederum die soziale Basis des Diskurses und damit den Bedarf für weitere Kommunikationsmöglichkeiten; auch hier eine gegenseitige Verstärkung. Die im Internet mögliche Many-to-many-Kommunikation schließt, anders als stark von Gatekeepern geprägte Medien, im Prinzip alle ein, die teilnehmen wollen.

Mit den beiden großen Entwicklungssprüngen des Internets – dem Ankommen in der Breite der Gesellschaft um 2000 und der zunehmenden mobilen Verfügbarkeit etwa ab 2007 – durchdringen auch die mit ihm verknüpften Entwicklungen die Gesellschaft als Ganze noch einmal verstärkt. „Die Kultur der Digitalität ist bereits alltäglich und dominant geworden“ (ebd. 94).

Felix Stalder nennt drei zentrale kulturelle Formen der Digitalität: Referentialität, Gemeinschaftlichkeit, Algorithmizität (vgl. ebd. 95):

  • Referentialität ist das Spiel mit Bezügen, Zitaten, Versatzstücken, Anspielungen als Methode des Ausdrucks und Teilnahme an der grundlegenden Verhandlung von Bedeutung in Formen wie Remix, Sampling, Memes, die Vorhandenes und Bekanntes neu kombinieren und in neue Kontexte setzen. Der Einzelne kann sie nutzen, um die kulturellen Prozesse als Produzent mitzugestalten.
  • Gemeinschaftlichkeit gehört zwar grundsätzlich zum Menschsein, funktioniert nun aber auf neue Weise in Gemeinschaften, die sich selbst durch Kommunikation frei und freiwillig konstituieren, eher in sich überschneidenden und durchdringenden Netzwerken als in stabilen Gruppen mit fester Zugehörigkeit; die Gemeinschaften handeln ihren Bezugsrahmen bis hin zur Bedeutung von Raum und Zeit selbst aus. Der Einzelne findet seine Identität nicht in seiner Zugehörigkeit zu Gruppen, sondern in der Entwicklung seiner Individualität und dem Feedback seiner Netzwerke darauf.
  • Algorithmizität meint den Einsatz von Programmen und Bewertungsmechanismen, die die Menge verfügbarer Information für den Menschen auf das jeweils Relevante reduzieren und so für ihn bewältigbar machen – und sich dabei selbständig an den Nutzer und sein Verhalten anpassen und so jedem Einzelnen eine andere, eigene Sicht der Welt vermitteln.

Das Problem der Kirche mit der Digitalität und der digitalen Welt

Die Vermutung liegt nah, dass die Kirchen (und insbesondere wieder die katholische) weniger mit der Technik an sich Schwierigkeiten haben als mit den gesellschaftlichen Entwicklungen, mit denen sie verquickt ist, die sie verstärkt und sichtbar macht. Vieles, an dem die Kirche festhält – klar bestimmte und begrenzte Rollen und Beziehungen etwa von Mann und Frau, fest gefügte, hierarchisch und territorial strukturierte Gemeinschaftsformen, die Behauptung und Verteidigung einer unveränderlichen, objektiven Wahrheit, die Logik der von oben her verwalteten Amtsvollmacht –, wird in einer von der Digitalität geprägten Welt permanent in Frage gestellt. Die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Entwicklungen hat gerade die katholische Kirche nicht (oder so wenig wie möglich) mitvollzogen und sie versucht in großen Teilen nach wie vor, das zu vermeiden. Dennoch versucht sie sich in die digitale Gegenwart einzufinden, denn ignorieren kann sie sie nicht: Wie gesagt, es ist die immer mehr vom Internet geprägte Kommunikation, die der entscheidende Gamechanger ist.

Und so versucht die Kirche nun, das Digitale, vor allem digitale Kommunikation, zu „nutzen“, um Menschen zu „erreichen“, am besten noch „Fernstehende“, aber allzu oft, ohne sich in der Tiefe der Logik dieser Kommunikation und damit der Logik der Digitalität zu stellen. Um auf den Corona-Schub zurückzukommen: Einen Gottesdienst abzufilmen, wie er „normalerweise“ gefeiert wird, und ins Internet zu streamen, zu übertragen, hat erst einmal wenig mit Digitalität zu tun. Einen Schritt näher dran ist es, Wege zu suchen, in diesen „normalen“ gestreamten Gottesdienst dialogische und partizipative Elemente einzubauen, wie es digitalen Kommunikationsformen (und übrigens auch der Liturgie) eigen ist – das wäre eine Übersetzung in das Medium hinein. Der Digitalität eher gerecht wird es, den Gottesdienst ins Digitale zu transformieren, ihn sowohl vom Medium als auch von den Mitfeiernden her zu denken – und dann landet man möglicherweise, wie die Netzgemeinde da_zwischen, bei einem Messenger-Gottesdienst statt bei einer gestreamten Messe.

Die Angst vor dem Kontrollverlust

Dass man es im Digitalen „anders“ machen muss als im Analogen, ist vielen bewusst. Dabei geht es aber nicht nur darum, die richtige Ästhetik, die richtige Sprache und die optimale Postingfrequenz zu treffen, sondern vor allem um die Frage, ob wir nur zum Verkündigen und Impulse-Geben dort sind – weil wir diejenigen sind, die wissen, was wahr ist, und beauftragt sind, dieses Wissen weiterzugeben – oder ob wir uns auf einen echten Dialog einlassen. Das wäre dann in der Logik der Digitalität ein Aushandlungsprozess miteinander um Deutung und Bedeutung, der auch uns und unsere Sicht verändern kann, vielleicht sogar das, was wir für die Wahrheit halten. Sind wir dazu in der Lage, oder fühlen wir uns verpflichtet, unsere Deutungen unverändert weiterzutragen und andere dazu zu bringen, sie genau so zu übernehmen? Dass die Kirche die Deutungshoheit und die Kontrolle über „ihre“ Gläubigen verloren hat, die sie doch faktisch immer noch beansprucht, hat auch mit der Logik der Digitalität zu tun.

Digitalität ermächtigt die Einzelnen, sich öffentlich zu äußern, in Blogs, in Social Media. Sie macht es ihnen möglich, sich zu vernetzen und sich vielstimmig Gehör zu verschaffen. Das gilt auch für alle, die sich – von innen oder außen, ob aus traditionell, liberal oder säkular orientierter Perspektive – mit Zustand und Handeln der Kirche kritisch auseinandersetzen. Dass es Abwehr, auch Angst auslöst, wenn Kritik und Infragestellung offen und ohne falsche Rücksichten vorgetragen wird und öffentliche Resonanz findet, ist verständlich. Aber die Kirche kann unter den Bedingungen der Digitalität nicht mehr anders damit umgehen, als sich dem wirklich zu stellen, wenn sie und ihre Deutungen überhaupt noch eine Chance haben sollen, gehört zu werden. Wie hart, aber notwendig das sein kann, lässt sich ermessen, wenn man hört, wie – laut Matthias Katsch, dem Mitbegründer der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ – der kirchliche Missbrauchsskandal 2010 auch dadurch ins Rollen kam, weil Betroffene sich durch ein Blog zusammenfanden und gemeinsam in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit finden konnten. Zuvor war das Thema immer wieder aufgetaucht, aber auch wieder verschwunden, solange die Betroffenen sich allein fühlten. Erst die digital ermöglichte Vernetzung und damit die Ermächtigung der Betroffenen gegenüber der bisher übermächtigen Kirche half, es in der Öffentlichkeit zu halten und so eine echte Auseinandersetzung damit und einen Umkehrprozess in Gang zu bringen. Es ist eine qualvolle Umkehr, aber sie ist unvermeidbar – niemand kann ehrlich wünschen, die Tatsachen wären besser unter dem Deckmantel des Schweigens geblieben. Vielleicht ist dies das krasseste Beispiel für den Kontrollverlust, der aber unumgänglich ist und akzeptiert werden muss.

Digitale Pastoral – Pastoral in der Digitalität: ein Lernfeld

Wer in Sachen Pastoral im digitalen Raum unterwegs ist und sich wirklich darauf einlassen will, kann dort vieles erproben und lernen, was auch für die klassisch-analoge Pastoral in der digitalen Gegenwart wichtig ist. Der neue Kontext fordert heraus, vermeintlich Unhinterfragbares zu hinterfragen und möglicherweise als irrelevant oder gar widersinnig zu erkennen. Aber auch weiterzudenken, neue Sichtweisen zuzulassen und zu integrieren; neue Wege, Deutungen, Formen zu entdecken, durch die das Evangelium in Zeiten der Digitalität ausgedrückt und erfahren werden kann, in einer offenen Vielfalt, die der Individualität und Freiheit der von der Kultur der Digitalität geprägten Menschen Raum bietet. Sich dem länger zu verweigern, hieße, die Kommunikationsbasis mit den Menschen dieser Gegenwart immer mehr zu verlieren.