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Frauen in kirchlichen Leitungspositionen

Möglichkeiten, Bedingungen und Folgen der Gestaltungsmacht von Frauen in der katholischen Kirche

In einer Zeit, in der in der deutschen Kirche das Thema Leiten in Bewe­gung gekommen ist, hat die Studie von Andrea Qualbrink, die sie in einer umfangreichen Dissertation vorlegt, einen zentralen Nerv getrof­fen. Angestoßen durch die MHG-Studie befasst sich der Synodale Weg mit den zentralen Themen Macht und Machtausübung, Priesterbild und Frauen in der Kirche. In vielen Bistümern werden (nicht erst in der Nachfolge des Bischofspapiers „Gemeinsam Kirche sein“) neue Perspek­tiven und Formate von Leitung diskutiert und ausprobiert: Leitung im Team, Leitung durch beauftragte Getaufte, Leitung auf Zeit, Leitung nicht nur durch Berufung, sondern durch Wahl und Beauftragung. Es geht dabei nicht nur darum, wie die bestehende Kirche in ihren derzei­tigen Strukturen angesichts von Priestermangel erhalten bleiben und gestärkt werden kann, sondern darum, wie die Kirche mit Sendungs­orientierung und neuen Formen von Beteiligung und im Teilen von Verantwortung unter Einbeziehung der Gaben möglichst vieler eine andere, den veränderten Kontexten adäquate Gestalt und Praxis ent­wickeln kann. Dazu ist ein eminent wichtiger Gesichtspunkt, wie Leitung (nicht nur durch Ordinierte) verstanden und ausgeübt wird. Daher ist es auch richtig und schlüssig, dass Qualbrink die Thematik Frauen in kirchlichen Leitungspositionen in der Veränderungsdynamik und Innovation des Systems verortet.

In dem informativen Band wird eine Forschungstätigkeit ausgebreitet, die sich bereits über zehn Jahre erstreckt und daher eingebettet ist in die Entwicklung, die der Diskurs über das Thema und die entsprechen­de Praxis in dieser Zeit genommen hat. Ausgangspunkt war die Pro­blemstellung der Unterrepräsentanz von Frauen in kirchlichen Lei­tungs­positionen. Andrea Qualbrink verfolgt einen geschlechterbewuss­ten Forschungsansatz, der einerseits pastoraltheologisch in der Ver­schränkung von Theorie und Praxis fundiert wird und anderseits in seiner Intersektionalität einen Blick auf Kategorien richtet, die Ursache für gesellschaftliche Differenzen und Ungleichbehandlungen sind. Konkret geht es im Zentrum des Buches um die Ergebnisse und die Kontexte einer qualitativen Studie über Frauen in hohen Leitungs­positionen in Ordinariaten katholischer Bistümer in Deutschland. Qualbrink befragt neun Interviewpartnerinnen u. a., wie die Frauen in diese Leitungspositionen kommen, welche Handlungsstrategien sie entwickeln, welche Ressourcen sie im Umgang mit den Möglichkeiten und Grenzen ihres beruflichen Agierens mobilisieren. Wie nehmen sie die organisationalen Bedingungen wahr und welche Deutung geben sie selbst den Veränderungsprozessen an sich selbst und in der Organisation?

Die Forscherin zeichnet diese Studie ein in den Kontext der Entwicklung des Themas Frauen in Führungspositionen in der katholischen Kirche seit dem Hirtenschreiben der deutschen Bischöfe „Zu Fragen der Stel­lung der Frau in Kirche und Gesellschaft“ von 1981. Qualbrink zeigt auf, dass nach der Phase der Jahre 2000–2009, wo es zunächst hauptsächlich um Frauenförderung und Gleichstellung ging, erst im Gefolge der öffentlich gewordenen Missbrauchskrise auch in das Thema Frauen in Führungspositionen Bewegung kam, nicht zuletzt durch den Studientag auf der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz „Das Zusammenleben von Männern und Frauen im Dienst und Leben der Kirche“ (2013). Eine erste quantitative Studie 2013 zeigte seinerzeit auf, dass noch viel Luft nach oben ist, was die Zahlen von Frauen in kirch­lichen Führungsaufgaben betrifft.

Seitdem hat sich eine Dynamik entwickelt, die das Thema in vielen Bistümern befördert. Es gibt Willensbekundungen der Bischöfe, einen Anteil von 30 % Frauen in kirchlichen Leitungspositionen erreichen zu wollen. Es gibt mittlerweile eine verstärkte Präsenz von Frauen insbe­sondere im Bereich der Leitung von Seelsorgeämtern.

Ein für den Leser besonders spannender Abschnitt ist die Beschreibung der Problemkontexte: Kirche und Führung, Frauen und Kirche sowie Frauen und Führung. Hier findet die Leserin viel kompetent aufberei­tetes Material aus Führungsforschung, Kirchenrecht, Pastoraltheologie sowie theologisch-systematische Reflexionen über Führen und Leiten. Es zeigt sich, dass das Thema Führung in der Kirche bislang sehr unter­komplex thematisiert wurde. Es zeigen sich Dilemmata und Aporien wie z. B. das ekklesiologische Nebeneinander von Hierarchie und Com­munio, was zu unterschiedlichen kirchenrechtlichen Ansätzen führt, die sich in der Perspektive auf Verkündigung, Machtausübung und Gehorsam wie auch zum Verhältnis von getauften Christgläubigen und ordinierten Hirten deutlich unterscheiden. Hinzu kommen Hinweise über Organisationskulturen von Ordinariaten und zum Umgang mit Macht in der Kirche. Es werden Frauenbilder und Beteiligungsformen von Frauen in der Kirche reflektiert. Was den Problemkontext Frauen und Führung angeht, zeigt sich, dass es (nicht nur in der Kirche, dort aber wohl besonders) gläserne Wände und Decken und männlich dominierte Karrierenetzwerke gibt, die homosoziale Reproduktion unterstützen und problematische Rahmenbedingungen für Aufstieg und Sichtbarkeit weiblicher Leitungswahrnehmung darstellen.

Qualbrink hat einschlägige quantitative und qualitative Studien, z. B. des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, des Deutschen Caritas­verbandes und der Deutschen Bischofskonferenz (diese hatte die Au­torin selbst durchgeführt), in ihre Dissertation aufgenommen. Das Zentrum stellt jedoch, wie gesagt, ihre umfangreiche qualitative Studie dar. Breiten Raum nimmt die Beschreibung von Anlage, Methodik und wissenschaftlicher Qualitätssicherung der Studie ein (Sampling, Inter­views, Auswertung, Ergebnisgewinnung). Hier kann der der empiri­schen Sozialforschung nicht so kundige Leser viel lernen, wie das reflektiert geht.

Als Ergebnisse der Interviews arbeitet die Forscherin sieben Achsen­kategorien heraus (321), die mit Einzelaspekten aus dem empirischen Material generiert und an denen die Ergebnisse dargeboten werden: ‚Berufung ergreifen‘, ‚gestalten wollen‘, ‚Kirche begrenzt gestalten‘, ‚Führung übernehmen‘, ‚Differenzierungen als Frau kompensieren‘, ‚Empowerment erfahren und kultivieren‘, ‚begrenzt integrieren und wirken‘.

Allein die entwickelten Achsenkategorien lassen schon viel von den grundsätzlichen Ergebnissen der Studie erahnen, was Antriebe, Um­gangsformen, innere und äußere Stützsysteme der befragten Frauen betrifft. Vor allem sind die signifikanten Unterschiede interessant, die auf der Mikroebene der Unterkategorien herausgearbeitet werden: So sind bspw. einige der Interviewpartnerinnen erst im Laufe ihrer Tätig­keit für geschlechtergerechte Aspekte aufmerksamer geworden. Gerade die Art und Weise, wie die befragten Frauen ihr Frausein in das beruf­liche Agieren einbringen, differiert bisweilen. Es ist aufschlussreich zu lesen, wie die Interviewpartnerinnen z. B. mit der Unterrepräsentanz als Frau umgehen oder mit der Tatsache, dass auf diesen Hierarchie­stufen eine mehrheitlich männlich und durch Ordinierte geprägte Kultur sich durch das Engagement von Frauen verändert. Gleichzeitig sehen die Frauen selbst die Möglichkeiten, aber auch Grenzen dessen, dass sie nicht als Ordinierte, sondern aus der Rolle als Getaufte, als Laiinnen heraus ihre Beteiligung legitimieren und gestalten.

Die Frauen tragen insofern nach Qualbrink einerseits zu Innovation bei, da sie viele Dinge anders wollen und gestalten. Sie merken aber auch, dass sie durch ihre Tätigkeit auch zur Erhaltung und Stabilisierung eines Systems beitragen, das sich in der Spannung von Hierarchie und plura­ler Partizipation, von Beharrung und Innovation, von juridischer Grun­dierung und charismatischer Geistbegabung bewegt.

Soweit der Renzensent das beurteilen kann, wird das empirische Mate­rial in dieser Studie kompetent generiert, bearbeitet und gedeutet. Dennoch bleiben Fragen offen: Sind nicht manche Erfahrungen von Frauen auch vergleichbar mit der von nicht-ordinierten Männern im kirchli­chen Kontext? Ist die Tatsache, dass für Personen in hohen Leitungs­positionen offenbar zu wenig Vorbereitungs-, Unterstützungs- und Begleitungsmaßnahmen am Beginn zur Verfügung stehen, nur ein frauenspezifisches Thema, oder ist hier nicht insgesamt ein Mangel an personalentwicklerischen Kompetenzen und Praktiken im beruflichen Raum der Kirche angezeigt?

Obwohl es für den Leser auch ein wenig Mühe bedeutet, sich durch das breit dargelegte empirische Material hindurchzuarbeiten, öffnet sich hier doch ein spannungsreiches und interessantes weites Feld von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Deutungen, die Perspektiven sowohl auf die handelnden Frauen selbst als auch auf die kirchlich-organisationalen Realitäten werfen.

Qualbrink verdichtet ihre diversen Erkenntnisse auf die Kernkategorie ‚nüchtern gestalten‘ (474). Die befragten Frauen sind motiviert, kom­petent, kennen aber auch ihre Grenzen, können kreativ mit Situationen umgehen und als Führungskräfte das Feld gestalten. Sie sind nach Qualbrink handlungsfähig und erleben sich als selbstwirksam, haben Lust auf Gestaltung, zeigen sich gleichzeitig fachlich und kommunikativ kompetent, dem kirchlichen Arbeitgeber gegenüber hochloyal und spi­rituell geerdet. Ihre Macht erscheint jedoch prekärer und verletzlicher im Vergleich mit der Macht priesterlicher Rollenträger auf derselben Hierarchiestufe. Qualbrink verbleibt stets bei einer kompetenten Be­schreibung und verantworteten Deutung ihrer Ergebnisse, kennzeich­­net Vermutungen als solche, nennt mögliche weitergehende Fragen und Forschungsdesiderate. Zum Schluss des Buches bietet sie eine Deutung der zentralen Ergebnisse und stellt sie in den Horizont kirchlicher Ent­wicklung hinein: Frauen tragen – so ihre These – durch die positiv-kreative Irritation des Gewohnten dazu bei, dass Kirche als lernende Organisation pastorale Innovation generiert (Ekklesiogenese).

Das Buch wird so – unbeschadet der fachlichen Qualität der For­schungs­arbeit – zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für Führen (nicht nur, aber auch durch Frauen) in Leitung ohne Teilhabe am ordinierten Amt. Dadurch veränderten sich Leitungsstrukturen, Kirchenbilder und Frau­enbilder. Durch die Einbeziehung des Beitrages, den Frauen als selbstbewusster und unverzichtbarer Teil der Kirche für die Ausge­staltung ihrer Sendung zu geben und beizutragen haben, ergeben sich hier Anschlusspunkte zu den derzeitigen Debatten über Charismen­orientierung, über Leitung, über die Veränderung von Rollen, Ämtern und Diensten in der Kirche. Man kann nur hoffen, dass der Schwung, der im Augenblick da ist, bleibt. Und dies um einer lernenden Kirche willen, die in einer veränderten Zeit ihre Botschaft und damit ihr inneres und äußeres Leben, ihre Abläufe, ihre Werte, ihre Kommuni­kationsprozesse und ihre Selbstbilder neu und anders materialisieren muss.

Hubertus Schönemann