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Gesucht: die Pfarrei der Zukunft

Der kreative Prozess im Bistum Essen

Leider musste die entsprechende Fachveranstaltung des Bistums Essen über die „Pfarrei der Zukunft“ in Mülheim/​Ruhr pandemiebedingt ab­gesagt werden. So blieb nur übrig, das kurz davor erschienene Buch über die Voten des Pfarreientwicklungsprozesses im Bistum Essen einfach so zu lesen.

Das Bistum Essen ist sicher eines derjenigen Bistümer, die derzeit Ver­änderungsprozesse in der Pastoral mit Energie, aber auch verantwortet und reflektiert vorantreiben. Nach einer erfolgten ersten Strukturre­form wurde in partizipativer Weise ein diözesanes Zukunftsbild („Du bewegst Kirche“) erarbeitet, das sich in sieben Adjektiven bündelt. Das Thema des Buches, das Verantwortliche für diesen Prozess herausgege­ben haben, ist nun der daran angeschlossene Prozess einer inhaltlichen Pfarreientwicklung, verstanden als Kirchenentwicklung.

Einerseits besteht für das Bistum die Herausforderung einer zukünfti­gen Reduzierung der Kosten (Personal und Gebäude). Es ist aber den Herausgebern klar, dass es nicht um ein ressourcenbedingtes Down­sizing des herkömmlichen „Kirchenmodells“ geht: Kirche muss neu gedacht werden. Bischof Overbeck spricht im Vorwort sogar vom „Ende der alten Zeit“ (10).

Was das aber wirklich bedeutet, Mentalitäten, liebgewordene Kirchen­tümer (Gemeinde als „Heimat“) oder gar den Blick auf Kirche als Insti­tution oder Organisation zu verändern, und mit wie viel Hemmnissen dies auf verschiedenen Ebenen verbunden ist, davon handelt dieses Buch nicht nur zwischen den Zeilen.

Die Erneuerung zielt einerseits auf eine zukunftsfähige Gestalt von Kirche vor Ort, die aber verbunden ist mit einem Wandel von Kirchen­bildern und pastoralen Praktiken. All dies bündelt sich in der Vorstel­lung und Praxis der Pfarrei. Die Bistumsleitung hat allen Pfarreien zugemutet, ein pastorales Votum zu erstellen, wie sie ihre Situation sehen und zukünftig pastoral agieren wollen. Der Hauptteil des Buches ist die Darstellung der Ergebnisse der wissenschaftlichen Auswertung der Voten durch Björn Szymanowski vom Zentrum für angewandte Pastoralforschung (ZAP).

Viel Material wurde in 17 Kategorien in 5 Oberkategorien geordnet und aufbereitet. Die Ergebnisse sind naturgemäß vielfältig und unterschied­lich. Einige Thesen drängen sich dem Leser jedoch auf:

Obwohl Markus Potthoff in seiner Einführung betont, dass der als eine lokale Kirchenentwicklung verstandene Prozess „nicht als ein rein strukturell und finanziell begründeter Rückbauprozess oder als ‚Schrumpfungsprozess‘ einer kleiner werdenden Kirche – obwohl er dies zweifellos auch ist“ (23) – zu sehen ist, begleitet den Leser die Frage, ob und wie das wirklich vor Ort wahrgenommen und gedeutet wird. Welche Kirchenvorstellungen und -hoffnungen zeigen sich in den Bildern und Narrativen und wie sie verwendet werden?

Hervorgehoben wird die hohe Beteiligung der lokalen Ebene. Es wird aber auch erwähnt, dass es letztlich die Verantwortungsträger der Pfar­reien sind, die die Endfassung eines Votums verantworten, sich also eine ganz bestimmte Perspektive durchsetzt und mögliche andere Shareholder (z. B. die treuen Kirchenfernen oder gar Menschen, die als anders oder nicht Glaubende auf eine spezifische Weise mit dem Han­deln einer sendungsorientierten Kirche zu tun bekommen könnten) dann doch nicht so partizipieren können.

Vorausgesetzt ist die Pfarrei als Handlungs- und Referenzrahmen, in­nerhalb dessen sich lokale Gemeinschafts- und Handlungsformen von Kirche ereignen (sollen). Es geht nach Potthoff um „vitale kirchliche ‚Orte‘“ (28), um „das kooperative Zusammenspiel kirchlicher und nicht-kirchlicher Institutio­nen“ (ebd.). „Im Zusammenwirken der Institu­tionen, Orte, Projekte, Kontaktflächen und Gelegenheiten entsteht Resonanz“ (28). Soweit die Hoffnung und Perspektive des Hauptabtei­lungsleiters Pastoral und Bildung im Generalvikariat.

Wie das im differenzierten Praxiskontext aussieht, zeigen die Ergeb­nisse der Auswertung der Voten eindrücklich. Positiv wird gewertet, dass sich alle Gedanken machen mussten, wie sie ihre kirchliche und pastorale Präsenz und Arbeit sehen und deuten und worauf sie für die Zukunft Wert legen wollen. Vielfältige Perspektiven, pastorale Motive und Priorisierungen sind so dokumentiert. Dabei scheint es entschei­dend, wie die entsprechenden Formulierungen verstanden werden. Vorweggenommen der entscheidende Punkt: Sind die Akteur*innen tatsächlich bereit, durch Ermöglichung erweiterter Partizipation sich selbst mit anderen Menschen, in unterschiedlichen Situationen und Gelegenheiten auf einen Weg zu machen, um mit anderen das Evange­lium im lokalen Kontext neu zu entdecken und zur Gestalt zu bringen? Oder geht es – zwischen den Zeilen ist das immer wieder spürbar – doch wieder darum, andere als „Adressaten“ oder „Objekte“ zu erreichen, um sie dem „Eigenen“ als erwünschte Mitglieder, Teilnehmer oder gar als Aktive zuzuführen? Die eigene Gemeinde und ihr Gemeinschaftsleben doch im Zentrum und als Ziel der pastoralen Bemühungen. Dies zeigt sich auch im zentralen Motiv „Weitergabe des Glaubens“. Die anderen werden als defizient bestimmt. Wir haben etwas, was die anderen un­bedingt auch brauchen: einen bestimmten Inhalt, eine bestimmte Ge­meinschaftsform, eine bestimmte soziale Praxis. Szymanowski sieht das nach Auswertung der Voten sehr deutlich: „Die vermutete spirituelle Bedürftigkeit der Menschen wird so zum latenten Movens kirchlicher Selbstbildungsprozesse. […] Für den Entwurf eines theologischen Selbstverständnisses der Pfarrei und damit auch von Kirche insgesamt ist es von erheblicher Tragweite, wenn die Subjekte der pfarreilichen Umwelt als defizitäre Empfänger, die glaubwürdigen Christinnen und Christen hingegen als scheinbar spirituelle Avantgarde, als rettende Lichtgestalten stilisiert werden“ (47).

Von diesem Grundverständnis her – das sicher nicht überall in dieser Weise so vorhanden ist, aber doch bei kirchlichen (vor allem „gemeind­lichen“) Akteur*innen vor Ort sehr verbreitet scheint – zeigt Szyma­nowski auf, dass auch in anderen Bereichen diese Grundmentalität vorherrschend ist und möglicherweise gerade eine echte Neuorien­tierung verhindert. Besonders deutlich kann man dies am Bereich Kinder- und Jugendarbeit zeigen, der einerseits quantitativ zu den Spitzenreitern der Nennungen in den Voten gehört (wohl unter der auch irgendwie realistischen An­nahme, dass Jugendarbeit eine Investition in kirchliche und gemeind­liche Zukunft bedeutet) – gleichzeitig liegt der Vorrang deutlich auf der Erhaltung oder Verstärkung einer gemeind­lichen Jugendarbeit. Ande­rerseits entspricht die starke Quantität und Bedeutung, die das Thema in den Voten erreicht, offenbar nicht einer ausgefalteten Realität, die hier beschrieben werden könnte. „Die enorme Aufladung und Bedeu­tungszuschreibung dieses pastoralen Handlungsfeldes in den Voten steht der geringen Menge konkret genannter Angebote diametral ent­gegen“ (76). Es bleibt also bei einer ausgesprochenen Hoffnung, dass mit einer verstärkten Jugendarbeit „die Gemeinde“ Zukunft haben möge. Jugend wird so zur (virtuellen) Symbolik einer erhofften Zukunftsfähigkeit.

Ähnlich sieht es offenbar mit dem Thema ehrenamtliches Engagement aus. Einerseits wird tauf- und charismentheologisch begründet, dass Menschen ihre persönlichen Fähigkeiten entdecken mögen, anderseits wird das Thema als dem Mangel an priesterlichem und hauptberuf­lichem Personal geschuldet verstanden. Allerdings sehen die Voten ehrenamtliches Engagement doch – insbesondere in den beschriebenen Aufgabenfeldern – sehr stark orientiert auf ein passendes langfristiges Engagement in einem Bereich der klassischen Gemeindevollzüge. Es ist also noch ein weiter Weg, dass kirchliches Engagement nicht primär der Selbsterhaltung, sondern gerade dem Wohl des anderen Menschen und der sozialen Gemeinschaft gilt, mit denen die Christen leben.

Gesellschaftliches Engagement, Öffentlichkeitsarbeit, Sozialraum­orientierung: Auch hier ist zumeist der Grundtenor spürbar, dass es darum geht, Menschen außerhalb der Gemeinde zu „erreichen“, mit dem Ziel, ihnen die „Angebote“ und Veranstaltungen und Vollzüge der Gemeinde zu kommunizieren, dies wiederum mit dem Ziel, sie zur Teilnahme zu bewegen. Begrifflichkeiten der pastoraltheologischen Diskurse werden zwar in den Voten aufgenommen, scheinen aber wenig reflektiert oder praktisch durchgearbeitet. Sie stellen eher Hoffnungs­signale dar. Auch wenn sich Formulierungen vom „Suchen und Gehen noch nicht beschrittener Wege, vom Ausprobieren innovativer Ideen und vom Zulassen neuen Denkens“ (56) in den Voten finden, so ver­bleiben sie offenbar doch inhaltlich recht blass und fleischlos. Der Leser erhält den Eindruck, dass ein bestimmter Kirchenentwicklungssprech zwar vorhanden ist und immer wieder bemüht wird, die praktische Relevanz jedoch oft nicht erkennbar ist. Der Forscher resümiert sogar im Blick auf ein bestimmtes Votum: „Der Raum der Innovation ist damit das Alte und Bewährte“ (58). Es bleibt seltsam unkonkret, wie das Neue wirklich anfangen und Raum greifen soll und was die Akteur*innen vor Ort dazu tun oder besser: (zu‑)​lassen müssten.

Szymanowski erkennt einen gemeinde- und einen pfarreiorientierten Typ in den Voten und formuliert für Ersteren: Es wird zwar „ein Zusam­menwachsen der Gemeinden in der Pfarrei durchaus als Bereicherung von Glaubenserfahrungen gedeutet“. Aber: „Ein Territorialverständnis, das ohne die Größe der Gemeinde auskommt, ist nicht im Blick“ (169).

Es bleibt in den Voten unklar, wie sich die bisherige Struktur einer (sich als Zielpunkt verstehenden pfarrgemeindlichen) Organisation zu den diversen kirchlichen „Orten“ und Gelegenheiten, die sich in der großen Pfarrei als sozialer Raum mehr als (dezentrale und informelle) Netz­werke, Projekte oder Ereignisse vollziehen, verhält. Es ist das Verdienst der Auswertung des ZAP, hier deutlich aufzuzeigen, welche gedank­lichen Beharrungen die Voten über die Entwicklung der Pfarrei immer noch enthalten.

Der Band wird komplettiert durch theologische und zeitgeschichtliche Reaktionen. Der Systematiker Hans-Joachim Sander verweist auf die zukünftig liquide Qualität der Kirchenbildung vor Ort. Die Pfarrei ringt um ihre ekklesiologische Dignität und versucht sich in die pastoralen Diversifikationen hinein zu vermitteln. Bleibende Gefahr ist eine Ver­heißung von Komplexitätsreduktion in einer „einfachen, von territo­rialer Sicherheit bestimmten Pfarrei“ (237). Sander macht deutlich: „Ein Raum, der anders geworden ist, lässt sich nicht mit den Mitteln bearbeiten, die auf eine frühere und kleinere Version hin entwickelt wurden und dort erfolgreich waren“ (238). Im Blick auf eine sich neu entwickelnde öffentliche Religion macht er Mut, sich auf solche public religion, auf die „tieferen Fragen und Probleme von Gesellschaft und Existenz zu beziehen“: „Glauben wächst über die Grenzen seiner Mög­lichkeiten hinaus, wenn er diesen Raum mit den Menschen teilt“ (244). Die Pastoraltheologin Birgit Hoyer schlägt vor, „statt in Zielgruppen konsequent in Sozialräumen zu planen“ (255). Die fünf Prinzipien der Sozialraumorientierung, wie sie beispielsweise im Caritasverband ent­­wickelt wurden, sind für sie ein Schlüssel für eine alternative kirchliche Transformation. Wolfgang Reuter sieht als Psychotherapeut „Entwick­lung als dauerhaftes Ereignis in Beziehung zwischen Menschen“ (260). Er votiert dafür, die Verlusterfahrungen ernst zu nehmen, aber auch die Verführung zur Selbstoptimierung in einer „Angebotspastoral“ kritisch zu sehen. Kirchenhistorische Beiträge von Andreas Henkelmann und Martin Belz machen deutlich, warum gerade in der historischen Ent­wicklung des Ruhrgebietes ein kleinräumiges, lokales Verständnis von Kirche und Lebenswelt so attraktiv geworden ist. Weitere Beiträge befassen sich mit den Themen Partizipation, Dialog und Kommunika­tion in Prozessen der Ekklesiogenese sowie mit pastoraler Qualität, Community-Organizing und Leitbildarbeit. Sie tragen je spezifische Einzelaspekte zu der Frage nach kirchlicher und pastoraler Erneuerung und Transformation bei, mehr oder weniger an dem konkreten Voten­prozess orientiert.

Die Bedeutung des vorliegenden Bandes liegt in der Breite der Perspek­tiven, die hier in Auswertung eines Bistumsprozesses versucht werden. Nach meiner Kenntnis ist eine solche Evaluation eines Bistumsprozes­ses mit der Weiterentwicklung der pastoraltheologischen und organi­sationsbezogenen Fragen mit Ausnahme des Bistums Rottenburg-Stuttgart, das seinen Prozess „Kirche am Ort, Kirche an vielen Orten“ ebenfalls einer wissenschaftlichen Evaluation unterzog, in der Bistums­landschaft bislang einzigartig. Es ist sicher wichtig, die jeweiligen Erfah­rungen und Erkenntnisse anderer Bistümer hinzuzulegen und gemein­sam – auch im Hören auf den Geist Gottes – zu guten, tragfähigen We­gen zu einer neuen und relevanten „Gestalt“ und „Praxis“ von Kirche in der Zukunft zu kommen.

Hubertus Schönemann