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Queer, Queer-Theorie und queere Theologien

Eine Einführung

„Queer“, das einstige Schimpfwort für Homosexuelle, ist zur Selbstbezeich­nung für alle geworden, die nicht der heterosexuellen Geschlechternorm entsprechen. Der Begriff zeichnet sich dadurch aus, dass er Identitäten nicht scharf abgrenzt, sondern sich selbst ständig verschiebt. Miriam Leidinger gibt einen Überblick über den Begriff, das Nachdenken über ihn und darüber, was er für die Theologie bedeutet.

Der Begriff queer ist längst auch im deutschen Sprachraum angekom­men. Er begegnet uns in Serien oder Nachrichten – und auch in der Theologie. Nichtsdestotrotz bleiben seine Bedeutungen und Geschichte häufig unverstanden. Sich mit queer und queerer Theologie auseinan­derzusetzen, verlangt nach einer längeren Einordnung und systema­tischen Analyse. Dabei gilt es stets vorweg zwei Vorurteile auszuräu­men: Queer ist erstens mehr als eine Bezeichnung für das, was nicht heterosexuell ist. Und queer ist zweitens – ähnlich wie der Begriff gender, die englische Bezeichnung für das sozial-kulturelle Geschlecht – mehr als ein inhaltsloses Modewort aus dem angloamerikanischen und angelsächsischen Sprachraum. Hinter dem Begriff queer verbergen sich im Gegenteil sehr diverse Erfahrungen und Kämpfe, persönliche Schick­sale von Verletzung und Befreiung und eine andauernde Suche nach und Kritik von Identität. Deshalb ist zunächst eine vertiefte Auseinan­dersetzung mit queer, queeren Lebensweisen und queeren Anliegen notwendig, um schließlich queere Theologien einordnen und verstehen zu können.

„Out of the closets and into the streets“: Der Begriff queer und die Suche nach queerer Identität

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Wortebene: Etymologisch steht der Begriff queer in Verbindung mit dem deutschen „quer“ oder dem altenglischen Wort „cwer“ (krumm, ungerade). Er steht für das, was vom Normalen oder Gewöhnlichen abweicht, also für das, was eigen­artig, verschroben, komisch, verrückt, absurd, suspekt ist. Das Verb „to queer“ bedeutet entsprechend „jemanden in die Irre führen“, „etwas verderben“ oder „verpfuschen“. Queer ist die Abweichung vom Be­kannten und Anständigen oder sogar das, was ihm gegenübersteht. Bereits auf der Wortebene ist queer somit ambivalent und negativ konnotiert; dem Begriff ist paradoxerweise die „Verweigerung einer Definition“ inhärent (Degele 2008, 11).

Die ambivalente Bedeutung von queer ist zugleich eng geknüpft an seine wechselvolle Geschichte und die Suche nach queerer Identität. Der Be­griff queer hat einen regelrechten Umbenennungsprozess unterlaufen: Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts galt die Bezeichnung queer in den USA als alltagssprachliches Schimpfwort für Homosexuelle. Insofern war der Begriff zunächst mit Beschuldigungen, Pathologisierungen, Beleidigungen gleichgesetzt. Erst im Zuge des Entstehens der Schwu­len- und Lesbenbewegung in den 1960er und 1970er Jahren in den USA und Europa wurde queer positiv umgedeutet und zum Inbegriff eines Minderheitenaktivismus. Die Gruppe der sogenannten LSBTTI* (Les­ben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Transsexuelle, Intersexuelle und alle, die sich darüber hinaus nicht zuordnen lassen – symbolisiert durch das Sternchen) eignete sich den Begriff an, um ihre vormals als „ab­norm“ bezeichnete Identität neu zu bestimmen und so den Begriff für sich zu reklamieren. Queer wurde zur positiven Selbstbezeichnung, zum Ausdruck einer nicht-heteronormen Identität.

Dies erreichte mit dem Erstarken sozialer Bewegungen in den 1980er Jahren seinen Höhepunkt. Zunächst waren es insbesondere die Homo-Befreiungsbewegung (gay liberation) und der lesbische Feminismus, also Schwule und Lesben, die für die Rechte von Homosexuellen auf die Straße gingen. Sie forderten An­erkennung, Schutz und Gleichstellung und bekannten sich stolz zu ihrer queeren Identität. Sie wollten dadurch sichtbar werden, in der Politik Gehör finden sowie sich gegen die erfah­renen Verletzungen und Stigmatisierungen zur Wehr setzen. Ihr Ziel war das Erlangen von Minderheitenrechten und gesellschaftlicher Anerkennung – im Englischen auch identity politics genannt, denn Identität galt als notwendige Voraussetzung effektiven politischen Handelns (zur Geschichte schwul-lesbischer Bewegungen vgl. Jagose 2001).

In den 1990er Jahren, geprägt durch die Folgen der AIDS-Pandemie, gründeten Aktivist*innen in New York die Organisation Queer Nation. Sie war die erste Organisation, die queer im Namen trug und damit auch zur positiven Umdeutung des Begriffs beitrug. Die Initiator*innen wählten bewusst einen proaktiv-aggressiven Umgang mit dem Thema „Coming-out“ und fanden dafür griffige Slogans wie z. B. „Out of the Closets and into the Streets“ oder „We’re here, we’re queer! Get used to it!“.

Zunehmend wurden in den 1990er Jahren aber auch andere queere Stimmen laut, die forderten, dass Anerkennung und Schutz nicht das alleinige Ziel bleiben dürften, und die auf die Grenzen lesbisch-schwu­ler Minderheitenpolitiken hinwiesen: Vom Mainstream anerkannt zu werden, reiche nicht aus, um homophobe Machtstrukturen und das heteronormative Gesellschaftssystem zu transformieren. Dies rief wiederum Gegenstimmen und Proteste derjenigen hervor, die die Errungenschaften schwul-lesbischer Politik durch das Verwenden des ambivalenten Begriffs queer als Marker einer unbestimmten und spielerischen Gegen-Identität gefährdet sahen. Ein kritischer Diskurs entwickelte sich und fand Widerhall im akademischen Umfeld.

Auf der Identitätsbaustelle: Debatten um queer an den Universitäten

Die Diskussionen um queer fanden zu Beginn der 1990er Jahre Einlass in den akademischen Diskurs. Dabei stand schnell fest, dass mit queer nicht nur anderen, nicht-heterosexuellen Lebenswelten Rechnung getragen werden sollte, sondern im Gegenteil queer als Anti-Kategorie und Aufstand gegen die Hetero-Norm, als die Verweigerung von Iden­tität und Spiel mit Identitätskategorien, herangezogen wurde. Im Ge­gensatz zu den Identitätskämpfen auf der Straße entwickelte sich der Begriff queer an den Universitäten zum Ausdruck der Kritik von Iden­tität. Für die Queer-Theorie ist queer eine „Identitätsbaustelle, ein Ort beständigen Werdens“ (Jagose 2001, 165). Gleichzeitig rekurrierten die Queer Studies und die Queer-Theorie auf die Vorarbeiten der Gay and Lesbian Studies sowie der Women’s Studies und Gender Studies und entwickelten diese weiter.

Die Queer-Theorie entwickelte sich dabei von Anfang an nicht als ein einheitlicher Theorieansatz, sondern als ein Konglomerat unterschied­licher theoretischer Impulse, Entwicklungen und Methoden – mit dem Ziel, Geschlecht und Sexualität als normierende und regulierende Kate­gorien gesellschaftlichen Zusammenlebens in den Blick zu nehmen. Die queeren Ansätze wurden beeinflusst durch die Hinwendung zu postmo­dernen und poststrukturalistischen Theorieansätzen aus Psychoanalyse und Literaturtheorie wie z. B. von Sigmund Freud, Jaques Lacan und Michel Foucault. Dies zeigt sich auch in den zentralen Grundlagen­dokumenten bekannter Queer-Autorinnen: Eve Kosofsky Sedgwicks „Epistemologie des Verstecks“, Judith Butlers „Das Unbehagen der Geschlechter“ sowie Teresa de Lauretis „Queer Theory. Lesbian and Gay Sexualities“. Die Queer-Theorie entwickelte sich von Beginn an im interdisziplinären Austausch zwischen den Sozial-, Literatur- und Kulturwissenschaften und etablierte sich als ein Querschnittsthema. Ihr Anliegen in allen Diskursen war und ist es, Heteronormativität kritisch zu reflektieren und grundsätzlich die Begrenztheit und Kontingenz von Identitätskategorien bewusst zu machen.

Als prominenteste Queer-Theoretikerin gilt die US-amerikanische Phi­losophin Judith Butler. Sie wurde in Deutschland zunächst vor allem im Rahmen der Frauen- und Geschlechterforschung rezipiert und kontro­­vers diskutiert; und zwar insbesondere ihre These, dass sex, also das biologische Geschlecht, immer schon gender sei – also dem sozial-kul­turellen und damit konstruierten Geschlecht in dem Sinne gleichzu­setzen, dass es kulturell bestimmten Interpretationen unterliegt. Nach Butler können die biologischen Grundlagen von Geschlecht und Sexua­lität niemals von Geschlechtsidentität und ‑rolle getrennt, ge­schweige denn ausgelebt werden. Die auf den ersten Blick vermeintlich offen­sichtlichen „fleischlichen Tatsachen“ seien immer schon eingebettet in sogenannte performative Handlungen, sprich unser Tun: Wir sind, was wir aktiv tun und vor allem auch passiv reproduzieren, und dabei sind wir unweigerlich von unserem Umfeld bestimmt. Das beginnt bereits in der Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen und definieren – eben auch die Geschlechter.

Butler stellt also fest, dass die Grenze zwischen unserem Sein und unse­rem Handeln umso mehr verschwimmt, je näher wir bildlich gespro­chen „ranzoomen“, und dass bei genauem Hinsehen biologisches und soziales Geschlecht nicht voneinander zu trennen und damit letztlich gleichzusetzen sind. Der zweite Blick offenbare Geschlecht und Sexua­lität nicht als trennscharfe Linien, sondern als ein weites Grenzgebiet und als Austragungsort gesellschaftlicher Debatten und Konflikte.

Butler findet dafür den Begriff der heterosexuellen Matrix: Es sei das Zusammenspiel von biologischem Geschlecht (sex), sozialem Ge­schlecht (gender) und sexuellem Begehren (desire), das letztlich zähle. Bildlich gesprochen beschreibt Butler Geschlechtsidentität damit als einen Dreiklang. Dieser „klingt“ nach der Wahrnehmung der meisten Menschen „harmonisch“, wenn er sich innerhalb der Heteronorm be­­wegt – Butler würde sagen, wenn das Geschlecht „verständlich“ oder intelligibel ist. Wenn also z. B. eine Frau mit sichtlich weiblichen sekundären Geschlechtsorganen sich „als Frau“ gibt und Männer begehrt. Abweichungen werden hingegen sofort als „Disharmonien“ identifiziert – Butler würde von „nicht-intelligiblen“, also unver­ständlichen Existenzen sprechen. Kurzum: Geschlecht und Sexualität „funktionieren“ und „wirken“ innerhalb dieser Matrix. Misstöne irritieren, fallen aus dem Rahmen oder werden zumindest belächelt.

Zusammengefasst gesagt zeigen die Analysen von queer als Begriff, die Suche nach queerer Identität und die Queer-Theorie die Vielfalt der Be­deutungen und Anwendung von queer. Queer ist ambivalent: sowohl Ausdruck von Pathologisierungen und Stigmatisierungen als auch stolzer Identitätsmarker und dabei gleichzeitig ein Plädoyer dafür, die Pluralität und Widersprüchlichkeiten der Ausdrucksformen von Geschlecht und Sexualität wahr- und anzunehmen. Queeres Denken fordert heraus und lädt dazu ein, Bestehendes zu hinterfragen und Macht- und Normalisierungsdiskurse zu kritisieren.

Die Vielfalt der Geschlechter in der Theologie und die (Weiter-)Entwicklung queerer Theologien

Queere Theologien spiegeln die Vielfalt und Ambivalenz von queer. Auch sie sind mannigfaltig und divers. Es gibt also auch nicht die eine Queer-Theologie, sondern viele verschiedene Strömungen und zahlreiche An­fragen, Impulse und Positionen zu theologischen Fragen aus queerer Sicht – und das bedeutet nicht zwingend aus der Sicht von LSBTTI*. Ebenso wie im Rahmen von queeren Theorien identitätsgestützte wie identitätskritische Ansätze nebeneinander bestehen, werden diese parallel auch in queer-theologischen Ansätzen aufgegriffen und weiterentwickelt.

Grundlegendes Anliegen queerer Theologien ist die Feststellung, dass die Auseinandersetzung mit der Frage nach Gott und dem Göttlichen sowie die Beziehung zwischen Gott und den Menschen eine grund­legende Auseinandersetzung mit den Kategorien Geschlecht und Sexualität erfordert oder impliziert. Queere Theologien gehen von der Grundannahme aus, dass Gott, der* die Liebe ist und dem* nichts Menschliches fremd ist, eben gerade auch im Liebesleben zu finden sein müsse. Dabei geht es vielen queeren Theologien nicht nur um ein Anerkennen und Rechtfertigen von nicht-heterosexuellem Begehren und queeren Beziehungen als gottebenbildlich, sondern vielmehr um eine radikale Form von „love-talk of theology“ (vgl. Cheng 2011). Queere Theologien haben nicht zum Ziel, ein queeres, im Sinne von „abnor­mes“, Verständnis von Sexualität als göttlich zu proklamieren – aber dieses auch nicht zu verurteilen –, sondern vielmehr radikal-inkar­natorische Fragestellungen zu diskutieren.

Gleichzeitig bleiben queer-theologische Ansätze immer noch im theologischen Mainstream umstritten. Zwar gibt es in den USA und Großbritannien einige Theolog*innen, die sich explizit als Queer-Theolog*innen bezeichnen, sowie Universitäten, die dazu Lehrver­anstaltungen anbieten, doch sind queere Theologien vor allem im deutschen theologischen Kontext weit davon entfernt, etabliert, anerkannt oder gar akkreditiert zu werden.

Apologetik, Befreiung, Relationalität, Dekonstruktion – eine Systematik queer-theologischer Ansätze

Queere Ansätze finden nur zögerlich Beachtung und Anerkennung in den theologischen Disziplinen und Diskursen. Dabei gibt es bereits seit Mitte der 1950er Jahre theologische Ansätze, die das Lesbisch- und Schwulsein positiv in den Blick nehmen und in die Theologie hinein­tragen. Grob gesagt lassen sich bis heute (nach Cheng 2011) vier queer-theologische Richtungen oder Strömungen ausmachen: apologetische, befreiungstheologische, relationale und dekonstruktive Ansätze. Die Darstellung dieser Richtungen folgt grob ihrer chronologischen Ent­wicklung. Allerdings schließen sie sich nicht wechselseitig aus, sondern existieren vielmehr oftmals nebeneinander und sind in ihren Anliegen und Fragen bis heute keinesfalls überwunden – analog zur Genese und Entwicklung feministischer Theologien und theologischer Geschlech­terforschung (vgl. Leidinger 2019). Im Gegenteil: In vielen queer-theo­logischen Ansätzen werden die verschiedenen Richtungen häufig ge­meinsam aufgegriffen und nebeneinandergestellt, wenn auch jeweils mit anderer Schwerpunktsetzung.

Die erste Richtung umfasst apologetische Ansätze, die sich grob unter dem Motto „Schwul-und-lesbisch-Sein ist gut!“ zusammenfassen las­sen. Denn Anliegen der ersten Queer-Theolog*innen bzw. schwulen und lesbischen Theolog*innen war es, ihr Schwul- oder Lesbischsein mit ihrem Christ*in-Sein zu versöhnen bzw. zu zeigen, dass lesbische und schwule Menschen „vollwertige“ gläubige Christ*innen sind und sich nicht zu verstecken brauchen. In diesem Sinne war man auch bemüht, die traditionell negative und schwierige Beziehung zwischen Christen­tum und Homosexualität aufzuarbeiten. Besonders bekannt ist in dieser Hinsicht das religionsgeschichtliche Werk von John Boswell von 1980. Im deutschsprachigen Raum hat Michael Brinkschröder eine religions­geschichtliche Anamnese von „Sodom als Symptom“ vorgenommen (Brinkschröder 2006).
Parallel engagierte man sich auf kirchenpolitischer Ebene. 1964 wurde z. B. das Council on Religion and the Homosexual (CRH) von protestan­tischen Pfarrer*innen und Leiter*innen von schwulen und lesbischen Gemeinden in San Francisco gegründet. Im deutschsprachigen Raum gibt es seit 2000 die ökumenische Arbeitsgemeinschaft Schwule Theo­logie, hervorgegangen aus einer Gruppe schwuler Theologen an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie gibt die Zeitschrift „Werkstatt Schwule Theologie“ heraus und bietet eine offene Jahrestagung an.

Die zweite Richtung queer-theologischer Ansätze ist eng verbunden mit dem Entstehen befreiungstheologischer Ansätze. Sie geht insofern über die apologetischen Ansätze schwuler und lesbischer Theologien hinaus, als dass sie nicht nur Akzeptanz, sondern auch Befrei­ung aus dem Sys­tem heterosexistischer und homophober Unterdrückungen fordert. Dies sei grundgelegt in der christlichen Botschaft. Diese Ansätze sind inspi­riert von den ersten befreiungstheologischen Ansätzen aus Lateinameri­ka in den späten 1960er Jahren, die von der Exodusgeschichte, der Be­freiung der Israeliten aus der Sklavenherrschaft in Ägypten, inspiriert sind. Ebenso wie die armen und marginalisierten Menschen vorrangige Adressat*innen der christlichen Botschaft seien und ihre Befreiung im Zentrum stehen müsse, reiche es auch nicht aus, queere Menschen in Theologie und Kirche zu akzeptieren. Ziel müsse vielmehr die Befreiung von Heteroseximus und Homophobie sein – nicht nur für queere Men­schen. Gott verfolge die Geschehnisse auf der Welt nicht teilnahmslos, sondern wende sich im Gegenteil gerade den Armen und Unterdrückten und damit auch den Queers zu. Die von der Befreiungstheologie formu­lierte vorrangige Option für die Armen und Unterdrückten sei insofern immer auch eine Option für queere Menschen.

Die dritte Richtung relationaler queerer Theologien wurde insbesondere von lesbischen Theolog*innen geprägt. Diese sogenannten Theologien der „Freundinnenschaft“ entstanden auch als Reaktion auf und Weiter­entwicklung von schwulen Theologien. Ihnen zugrunde liegt die Über­zeugung, dass Gott sich gerade im Erotischen und in den gleichberech­tigten Beziehungen zwischen Menschen entdecken lasse; dort könne das Göttliche in der menschlichen Liebe aufscheinen. Viele dieser An­sätze stammen aus den frühen 1970er Jahren und sind insofern nicht immer von den apologetischen Ansätzen zu unterscheiden, als dass sie die Gotteskindschaft für alle, insbesondere auch für homosexuelle Menschen fordern. Insbesondere die US-amerikanische Theologin Carter Heyward ist für ihre Theologie des Erotischen und ihre These „Gott ist Macht-in-Beziehung“ bekannt. 1989 veröffentlichte sie „Touching Our Strength: The Erotic as Power and the Love of God“.Wei­tere bekannte lesbische Theologinnen, die relationale Ansätze entwi­ckelten, sind z. B. Mary E. Hunt, Lisa Isherwood und Elizabeth Stuart. Im deutschsprachigen Raum hat u. a. die evangelische Theologin Kerstin Söderblom diese Debatten eingebracht und weitergetrieben und mit dekonstruktiven Ansätzen verbunden.

Die vierte queer-theologische Richtung versammelt dekonstruktive queere Ansätze und ist vor allem durch die akademische Queer-Theorie beeinflusst. Ihr Anliegen ist es, Identitätskategorien, vor allem die binä­ren Geschlechtskategorien, zu destabilisieren und zu dekonstruieren. Diese Ansätze wollen die essentialistischen Vorstellungen von Ge­schlecht und Sexualität überwinden und stattdessen fluide Formen und Ausdrücke finden. Innerhalb des Spektrums queerer dekonstruktiver Theologien entwickelten sich auch bisexuelle und Transgender-Theolo­gien. Aber auch hier sind die verschiedenen Richtungen der Ansätze nicht immer trennscharf zu unterscheiden, so z. B. bei der queeren dekonstruktiven lateinamerikanischen Befreiungstheologin Marcella Althaus-Reid und ihrem Ansatz einer „unanständigen Theologie“ (vgl. u. a. Althaus-Reid 2000). Weitere bekannte Queer-Theolog*innen mit dekonstruktiven Ansätzen, die alle gleichzeitig Elemente der anderen Richtungen aufgreifen, sind u. a. Gerard Loughlin, Robert E. Goss, Lisa Isherwood und Elizabeth Stuart.
Im Rahmen dieser queeren dekonstruktiven Ansätze finden sich zudem auch Vertreter*innen der sogenannten Radical-Orthodoxy-Bewegung, bei der es sich um eine christlich-theologische Bewegung handelt, die im angelsächsischen und anglikanischen Kontext entstanden ist. Hinter dem radikal-orthodoxen Ansatz verbirgt sich das Anliegen, zu einem traditionellen vormodernen kirchlichen Denken zurückzukehren. Denn das „Radikale“ der Theologie sei schon bei den Kirchenvätern zu finden und müsse nur neu gelesen werden. Für manche dieser Theolog*innen (nicht alle!) ist dies ein Anreiz, die relecture mit queerem Denken und queerer Theorie zu verbinden. Schließlich biete die vormoderne Theo­logie Anknüpfungspunkte für Identitätskritik und die Auflösung von Kategorien im Angesicht des Göttlichen und damit Impulse, die sich gegen die Verkürzungen moderner Subjekttheorien und gegen rationale Theologien ins Feld führen lassen. Hier sei nur in aller Kürze angemerkt, dass diese Kritik durchaus problematisch ist, vor allem in der durchge­führten eurozentrischen Perspektive (vgl. dazu Leidinger 2018, 232–240).
Beispielhaft sei hier der queer-theologische radikal-orthodoxe Ansatz des Anglikaners Graham Ward genannt. Er nimmt in seiner queer-theologischen Analyse die „Ab- bzw. Auflösung“ des Leibes Jesu Christi entlang von Inkarnation und Beschneidung, Verklärung, Eucharistie, Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt in den Blick und erschließt so den durchlässigen, trans-körperlichen, allumfassenden Leib Christi. Für Ward steht fest, dass die vormoderne Leib-Christi-Vorstellung eines Leibes, der alle Leiber umfasse, sowohl ur‑christlich als auch zutiefst post-modern und queer sei. Die paulinische Leib Christi-Metapher der Gemeinschaft aller Getauften, in der sich Kategorien und Identitäten auflösten und alle eins werden – Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Männern und Frauen (vgl. Gal 3,28) – sei insofern Ausdruck eines nicht-identitären queeren Denkens im Herzen von Christologie und Ekklesiologie (vgl. Ward 2000).

Heute gibt es mannigfaltige queere Ansätze in der beschriebenen Viel­falt der vier Strömungen in allen theologischen Disziplinen: von queeren Exegesen (siehe z. B. das Handbuch „The Queer Bible Com­mentary“ von 2006) über die Auseinandersetzung mit queeren Heiligen in der Kirchengeschichte bis hin zur queeren Gottesrede, Christologie oder Mariologie in der systematischen Theologie. Und, ganz praktisch-theologisch, findet parallel das Ringen um konkrete Antworten der Pastoral auf die Bedarfe queerer Lebensformen statt.

LSBTI*-Pastoral in den deutschen Bistümern

In der Pastoralarbeit der katholischen deutschen Bistümer besitzen inzwischen elf der 27 Diözesen in Deutschland Beauftragungen für die LSBTI*-Pastoral (Stand März 2020). Diese seelsorgerische Arbeit auf alle Bistümer auszuweiten, war das Anliegen der ersten gemeinsamen Tagung der Seelsorger*innen für LSBTI*-Pastoral in den Bistümern mit katholischen Aktivist*innen, die vom 13. bis 14. März 2020 in Fulda tagte. Das Treffen fand auf Wunsch von Bischof Dr. Franz-Josef Bode (Osnabrück) statt, der die Pastoralkommission der Deutschen Bischofs­konferenz leitet. Es wurde vorbereitet von den Arbeitsstellen für Frau­en- und Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz sowie vom Katholischen LSBT+Komitee, zu dem die ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche (HuK) und das Netzwerk katholischer Lesben (NkaL) gehören. Als Ziel der Zusammenarbeit formulierten die Teilneh­mer*innen, die Würdigung queerer Identität in der Kirche zu befördern und gegen die homophobe Grundstruktur der katholischen Kirche vorzugehen.

Denn die Frage, wie eine angemessene queere Pastoral aussehen kann, die die Würde queerer Menschen ernst nimmt, wird in der römisch-katholischen Kirche erst anfanghaft diskutiert und ist noch lange nicht abgeschlossen. Es braucht viele Neuansätze, z. B. Konzepte für die Fort­bildung pastoraler Mitarbeitender in der Gemeindepastoral, aber auch Änderungen des kirchlichen Dienst- und Arbeitsrechts: Wie können geoutete LSBTTI*-Menschen in der Kirche weiterarbeiten, selbst wenn sie standesamtlich verheiratet sind? Dürfen geoutete LSBTTI*-Men­schen grundsätzlich angestellt werden, ohne dass sie ihre sexuelle Orientierung geheim halten müssen? Dabei kann der Dialog mit den protestantischen Schwesterkirchen hilfreich sein, wie u. a. ein Blick auf die Diskussionen der Blogseite „kreuz & queer“ der Website evangelisch.de zeigt.

Insbesondere aber ist die Frage nach der Segnung schwuler und lesbi­scher Paare aktuell ein zentrales Thema, das auch im Zuge des Syno­dalen Wegs große Aufmerksamkeit erhält. Und es ist ein Thema, das die Geister scheidet. Viele sind überzeugt, dass es endlich an der Zeit sei, queere Lebenswirklichkeiten anzuerkennen und aus kirchlicher Sicht mit diesem Akt der Seelsorge ein Zeichen gegen die Erfahrung der Herabwürdigung von Homosexuellen in der Kirche zu setzen. Diese Frage wird auch intensiv mit der Deutschen Bischofskonferenz dis­kutiert, nicht zuletzt seit der Veröffentlichung des Sammelbandes „Mit dem Segen der Kirche? Gleichgeschlechtliche Partnerschaft im Fokus der Pastoral“ (vgl. Loos/‌Reitemeyer/‌Trettin 2019), zu dem die Bischöfe Franz-Josef Bode und Stefan Heße ein Geleitwort geschrieben haben. Die Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken hat sich bereits dafür ausgesprochen, die Praxis der Segensfeiern für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. Es macht Hoffnung und bleibt abzuwarten, wie diese Diskussion im Zuge des Synodalen Wegs wei­tergeführt und welche Möglichkeiten sie eröffnen wird.

 

Dieser Beitrag greift in gekürzter und aktualisierter Form auf folgende Vorarbeit zurück: Leidinger, Miriam, Queer-Theologie. Eine Annähe­rung, in: Eckholt, Margit/‌Wendel, Saskia (Hg.), Aggiornamento heute. Diversität als Horizont einer Theologie der Welt, Ostfildern 2012, 246–267.