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Gott hinter der Gefängnistür

Das Projekt „Jail House College“ möchte Gefangene stärken, dem Lebenssinn nachzugehen

Das ökumenische Projekt „Jail House College“ möchte den im Gefängnis Inhaftierten mit einer „Theologie der Stärkung“ eine Stimme und geist­orientierte Sinnhaftigkeit geben und sie mit den Menschen im Bistum Fulda und der weiteren Gesellschaft in Kontakt bringen. Mithilfe der drei Säulen Musik, Bildung und Kultur versuchen die Seelsorger eine Präsenz von Glaube und Hoffnung im Gefängnis zu schaffen. Das inno­vative diakonische Projekt ist aus dem Herzensanliegen von einzelnen Gefangenen, Mitarbeitern und Seelsorgern entstanden, die diese Brücke der Menschlichkeit und des Evangeliums bauen. Es ist zudem einer der Preisträger des <link ausgabe-1-2020 termine-berichte innovation-statt-resignation>Preises für pastorale Innovation, den das Bistums Fulda im Oktober 2019 vergeben hat.

Was begegnet uns im Gefängnis? Wir machen viele unterschiedliche Erfahrungen, aber das Leben in einer Justizvollzuganstalt ist vor allem gekennzeichnet von einem massiven Freiheitsverlust, der nicht zu un­terschätzen ist: Die Türen sind zu, es gibt strikte Abläufe und unzählige Ge- und Verbote. Sinn- und Hoffnungslosigkeit entstehen durch mono­tone Routine, die alle Kreativität und persönliche Initiative erstickt. In dieser Situation und an diesem Ort „Gott“ auf die Spur zu kommen und die Menschen mit dem Evangelium zu stärken, ist eine besonders her­ausfordernde Aufgabe. Die Gefängnisseelsorge heute muss über Aus­dauer, Kreativität und eine gute Menschenkenntnis mit viel Verständnis verfügen, um mit den existenziellen Bedürfnissen, Schmerzen und Leiden im Leben der Gefangenen, aber auch des Anstaltspersonals umzugehen.

Foto: © privat.

Glaube und Hoffnung im Gefängnis

Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland sagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sie ist zu achten, sie ist zu schützen, und das ist unsere Bürgerpflicht – auch hinter Gittern. Als Kirche in Deutschland dürfen wir nämlich nicht vergessen: Am Rande der Gesellschaft werden auch Menschen weggeschlossen, die in unseren Bistümern, Dörfern und Städten aufgewachsen und jahrelang in die Kirche gegangen sind. Sie sind Teil von unserer Glaubensgemeinschaft. Sie haben ähnliche Lebensthemen und teilen mit uns das Drama des Menschseins in unserer heutigen säkularen und komplexen Gesell­schaft. Auf kleinem Raum im Gefängnis sind Hunderte von verschie­densten Schicksalen, Lebensorientierungen und Nationalitäten geballt zusammengebracht. Das sorgt für Spannungen und große Unzufrieden­heit, für Negativität und Aggression, das bewirkt eine andauernde Hoff­nungslosigkeit und Depression. Inhaftierte brauchen wie wir alle Zei­chen der Hoffnung, Perspektive und neue Gedanken. Sie benötigen Verarbeitung ihrer Gefühle und Gedanken, ihrer verlorenen Träume. Sie brauchen Kultur, Zivilisation und „Normalität“, kurz eine Brücke mit einer stärkenden und ermutigenden Botschaft.

Das „Jail House College“ möchte den Inhaftierten mit einer „Theologie der Stärkung“ (Theology of Empowerment) eine Stimme und geistorien­tierte Sinnhaftigkeit geben und sie mit den Menschen im Bistum Fulda und der weiteren Gesellschaft in Kontakt bringen. Mithilfe der drei Säu­len Musik, Bildung und Kultur versuchen wir als Seelsorger eine Prä­senz von Glaube und Hoffnung im Gefängnis zu schaffen. Dieser Ver­such, einen funktionierenden theologischen Ansatz zur existenziellen Frustration in Gefängnissen zu finden, wobei die Suche nach Sinn zen­tral ist, ist eine große Herausforderung in einem System, in dem Sicherheit und Ordnung an erster Stelle stehen.

Einführung von Diakon Coetiers in der JVA Hünfeld. Foto: © Hartmut Zimmermann, Fuldaer Zeitung.

Versuch eines praktischen theologischen Ansatzes

Das ökumenische Projekt „Jail House College“ versucht, auch in schwierigen Zeiten (Corona usw.) einer „Theologie der Stärkung“ nachzugehen, um einen Unterschied in der Art und Weise zu bewirken, wie Gefängnisseelsorge den Sinn und Wert des Lebens verbessern kann. Es ist deswegen weniger ein „missionarisches Projekt“ im klassischen Sinn, sondern der Versuch, einen „Horizont der Sinnhaftigkeit“ zu kreie­ren, der trotz aller gescheiterten Initiativen und gefühlter Erfolg­losig­keit hinter den grauen Mauern Gottesbegegnungen und eine tiefe menschliche Verbindlichkeit ermöglichen möchte. Wir reden lieber über einen „Horizont“, da Projekte kommen und gehen und immer wieder scheitern in einem verknackten und vergitterten Alltag. Es ist wichtig, so einen spirituellen Horizont zu haben, um die Hoffnung auf bessere Zeiten für und mit den Gefangenen nicht zu verlieren.

Klar ist, dass jeder Mensch Hoffnung und das gleiche Maß an mensch­lichem Wert und Menschenwürde benötigt. Wir versuchen, die Inhaf­tierten in der JVA Fulda und der JVA Hünfeld mit Literatur, Kunst, Musik und Poesie und einer guten Dosis Humor zu ermutigen und zu stärken. Das heißt im Kleinen: mit Papier, Buntstiften, Büchern und Musik-CDs auf der Zelle, aber auch mit einer Reihe von größeren Ver­anstaltungen und dynamischen Aktionen in Gemeinschaftsräumen: „Gitarre Dojo“, „Admissio“, „Humor hinter Gittern“, „Knast Cinema“, „Väter in Haft“, „Divine Concern“, „Finnischer Blues-Rock“, „Ein Abend in New York“ und noch mehr.

Im Gitarren Dojo. Foto: © Gefängnisseelsorge JVA Hünfeld/JVA Fulda.

Admissio“ mit dem Fuldaer Weihbischof Prof. Dr. Karlheinz Diez.
Foto: ©
Gefängnisseelsorge JVA Hünfeld/JVA Fulda.

Ein Abend in New York. Foto: © Gefängnisseelsorge JVA Hünfeld/JVA Fulda.

Stärkung hinter Gittern

Es bleibt die spannende Frage, ob wir wirklich die Menschen dauerhaft erreichen können, aber es ist sicherlich einen Versuch wert. Mit dem „Jail House College“ möchten wir mithilfe der drei Säulen Musik, Bil­dung und Kultur die Menschen im Gefängnis zum Evangelium inspi­rieren. Dem heiligen Ignatius von Loyola, Gründer des Jesuitenordens, war schon klar: ohne Bildung keine Freiheit. Ohne Bildung, Musik und Kultur können Menschen und Inhaftierte ihre Potenziale nicht entfalten und wird Resozialisierung eine unmögliche Aufgabe.

Wir Seelsorger erfahren bei Inhaftierten den Mangel an grundlegenden Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben. Wir sehen aber auch die emotio­nalen Anlagen und gebrochenen Leben Einzelner und deren einge­schränkte religiöse und kreative Möglichkeiten, Talente zu entwickeln. Dies alles macht es ihnen unmöglich, ein selbstbestimmtes Leben zu führen ohne Drogen, Alkohol und Straftaten. Aufgrund der immensen Bedeutung für die Perspektiven von Gefangenen einerseits und des reli­giösen Stellenwertes für die Entwicklung der Gesellschaft und Kirche anderseits setzen wir uns mit dem „Jail House College“ im Rahmen einer Theologie der Stärkung für gerechtere Bildungschancen ein.

Kreativität als ein Weg, verschlossene Türen zu öffnen

Kreativität ist sehr wichtig, sowohl für kirchliche Innovation generell als auch im Knastalltag. Deswegen versuchen wir seit einiger Zeit, unsere Projekte kreativ zu finanzieren und u. a. das Netzwerk mit unseren Kooperationspartnern (Justiz, evangelische Kirche, Fördervereine der jeweiligen JVAs, Dekanat Hünfeld-Geisa, verschiedene Pressestellen, Ehrenamtliche, die u. a. als Musiker, Lehrer und Ausbilder fungieren, usw.) zu vergrößern. Vor der Corona-Zeit arbeiteten wir eng mit dem Verein „Förderung der Bewährungshilfe in Hessen e.V.“ zusammen, speziell mit ihrem Projekt „Theater hinter Gittern“  zur Unterstützung der JVAs im Bereich Theater, Kunst, Musik und Literatur. Auch hatten wir geplant, Vorlesungen von Hochschulreferenten ins Gefängnisleben zu integrieren. Leider ist es uns derzeit nicht möglich, dies umzusetzen. Ebenso wenig können Musiker, Bands und Chöre engagiert werden, um ins Gefängnis zu kommen und sowohl für die als auch mit den Gefangenen zu singen und zu spielen.

Erja Lyytinen – finnischer Blues-Rock. Foto: © Gefängnisseelsorge JVA Hünfeld/JVA Fulda.

Gospel-Chor. Foto: © Gefängnisseelsorge JVA Hünfeld/JVA Fulda.

Erja Lyytinen – finnischer Blues-Rock. Foto: © Gefängnisseelsorge JVA Hünfeld/JVA Fulda.

Die Band „Shotgun Joes“ hat schon mehrmals für die Inhaftierten in der JVA gespielt. Foto: © Gefängnisseelsorge JVA Hünfeld/JVA Fulda.

Die COVID-19-Pandemie hat wie überall signifikante Schwierigkeiten und Probleme für die Projektumsetzung mitgebracht und vieles im Leben hinter den Mauern verändert, vor allem in den täglichen Sicher­heitsabläufen der JVAs. Wir hoffen, „nach Corona“ mit unserem „Jail-House-College“-Musikprojekt „Divine Concern“ wieder intensiver weitermachen und JVA-Musikworkshops anzubieten zu können: einen Schlagzeugkurs, einen Bassgitarrenkurs, Gesangsunterricht usw. Und hoffen dabei vor allem, dass wir auch hier den Humor hinter den Mauern nicht verlieren!

Divine Concern. Foto: © MetalWerner / Gefängnisseelsorge JVA Hünfeld/JVA Fulda.

Theologie der Stärkung?

Im gemeinsamem Kreativ-Sein, Talente-Entdecken und Charismen-Wecken helfen wir einander und denen in Gefangenschaft, uns unserer gottgegebe­nen Würde im Licht des Evangeliums bewusst zu werden. Auf diesem Weg kann unser Glaube heute als lebendig und relevant hinter Gittern erfahren und die Menschenwürde wieder ins Bewusst­sein der Gesell­schaft gebracht werden: So bekennen sich unsere „Theo­logie der Stär­kung“ (Theology of Empowerment) und das pastorale Gemeinschaftspro­jekt „Jail House College“ insbesondere zur Barm­herzigkeit Gottes, zur menschlichen Gemeinschaft des Friedens und zur Gerechtigkeit in der Welt.

Diakon Meins Coetsier und Addi Haas beim Tag für Pastorale Innovation des Bistums Fulda (Oktober 2019). Foto: © Dr. Arnulf Müller.

Wir setzen uns als Kirche vor Ort ein, damit die Inhaftierten die Ge­meinschaft mit der Außenwelt nicht verlieren und umgekehrt die Außenwelt ihre Brüder und Schwestern am Rande der Gesellschaft nicht vergisst. Es bedarf Brücken der Barmherzigkeit. Das „Jail-House-College“-Projekt und die Theologie der Stärkung sind aus diesem Her­zensanliegen – eine Brücke der Sinnhaftigkeit zu bauen – entstanden. Mit Musik, Bildung, und Kultur möchten wir die Beziehungen der Gefangenen nicht nur auf die Freunde und Angehörigen beschränken, sondern die weitere kirchliche und gesellschaftliche Gemeinschaft verantwortlich und zur Stärkung mit den Worten Viktor Frankls miteinbeziehen:

Das erste Mal in meinem Leben erfahre ich die Wahrheit dessen, was so viele Denker als der Weisheit letzten Schluß aus ihrem Leben herausgestellt und was so viele Dichter besungen haben; die Wahrheit, daß Liebe irgendwie das Letzte und das Höchste ist, zu dem sich menschliches Dasein aufzuschwingen vermag. Ich erfasse jetzt den Sinn des Letzten und Äußersten, was menschliches Dichten und Denken und – Glauben auszusagen hat: die Erlösung durch die Liebe und in der Liebe! (Frankl 2016, 63)