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Digitale Verkündigungsformate während der Corona-Krise

Eine Ad-hoc-Studie im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland

Das Versammlungsverbot und die Kontaktbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie haben ab Mitte März 2020 die christlichen Kir­chen und auch andere Religionsgemeinschaften vor die Herausforde­rung gestellt, dass für sie grundlegende und normalerweise selbst­verständliche Vollzüge wie der gemeinsame öffentliche Gottesdienst wochenlang nicht möglich waren. In dieser besonderen Situation ent­standen schnell zahlreiche digitale Angebote, von denen in der evange­lischen ebenso wie in der katholischen Kirche ein Großteil gottesdienst­lichen Charakter hatten – von der Audio- oder Video-Liveübertragung oder -Aufzeichnung von in kleinstem Rahmen gefeierten Gottesdiens­ten bis zu neuen Formaten, die sich an liturgische Formen anlehnen. Dies wurde bald als Digitalisierungsschub und disruptive digitale Transformation in den Kirchen interpretiert.

Mit der Ad-hoc-Studie, die die Evangelische Arbeitsstelle für missiona­rische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) im Auftrag des Kirchenamtes der EKD zu digitalen Verkündigungsangebo­ten dieser Zeit innerhalb der evangelischen Landeskirchen durchgeführt hat, liegt nun zeitnah eine erste größere Erhebung vor, die diese Ent­wicklung untersuchen und quantifizieren will. Als digitale Verkündi­gungsformate gelten hier Gottesdienste, Andachten sowie andachtsähn­liche Formate, worunter Angebote mit eher impulsartigem und weniger liturgischem Charakter verstanden werden, jeweils live übertragen oder aufgezeichnet und somit auch zeitversetzt abrufbar.

Die Studie entstand innerhalb von sechs Wochen von Ende April bis Mitte Juni, also im Wesentlichen unmittelbar nach Ende der bundes­weiten Versammlungsverbote, unter der Leitung von Daniel Hörsch. Sie nimmt die Anbieterseite, vorwiegend also die Kirchengemeinden, aber auch andere Träger, in den Blick. Befragt wurden Ende Mai Gemeinden und weitere Träger digitaler Formate in vier möglichst repräsentativ ausgewählten Landeskirchen (Württemberg, Mitteldeutschland, Kur­hessen-Waldeck und Nordkirche) in Form einer freiwilligen Online-Umfrage. 729 Rückläufe mit Erfahrungen zu digitalen Verkündigungs­angeboten gingen ein und bilden die Grundlage der Studie.

Dafür, dass tatsächlich ein Digitalisierungsschub stattgefunden hat, spricht, dass 78 % der Teilnehmenden vor der Corona-Zeit noch keine digitalen Verkündigungsangebote gemacht und nun neu damit begon­nen hatten. „Waren es vor der Covid-19-Pandemie vermutlich so ge­nannte ‚Pioniere‘, die sich auf den Weg der Digitalisierung gemacht hatten, so wurde aus der Not der Corona-Krise heraus eine disruptive digitale Transformation in der Breite der jeweiligen Landeskirchen vollzogen“ (22). Die Aussage von 72 % der Teilnehmer, die Angebote „auch nach dem Lockdown“ fortführen zu wollen, wird als Zeichen eines nachhaltigen Digitalisierungsschubs verstanden; allerdings bleibt offen, ob hier jeweils eine dauerhafte oder vielleicht eine auf die Zeit von fortbestehenden Versammlungsbeschränkungen aufgrund der Pandemie begrenzte Fortsetzung geplant ist. Die Autoren der Studie rechnen in Zukunft vermehrt mit hybriden, also sowohl in der physisch versammelten Gemeinde als auch digital mitvollziehbaren Formaten, wohl unter der Annahme, dass in der Regel wegen des Zeitaufwands nicht Gottesdienste vor Ort und eigene digitale Formate parallel angeboten werden können.

Der Gottesdienst war der Angebotstyp, mit dem die meisten Teilneh­men­den Erfahrungen gemacht hatten (73,8 % gegenüber 69,3 % für Andachten und 43,6% für Andachtsähnliche). Betrachtet man die absolute Anzahl der angebotenen Feiern der drei Typen, lag der Anteil der beiden Kurzformen Andacht und Andachtsähnliche bei 60 %; hier sieht die Studie eine Ausdifferenzierung der Formate, die die Logik der digitalen Medien und das Nutzerverhalten berücksichtigt.

Von den bereits vor der Corona-Zeit vorhandenen digitalen Verkündi­gungsangeboten bestand ein Großteil aus auf Websites gestellten Tex­ten (63,6 %); nur für insgesamt etwa ein Fünftel wurden Interaktion erlaubende Kommunikationswege wie Facebook, Instagram, Youtube etc. gewählt. In der Corona-Krise nun stieg der Anteil mit Interaktions­möglichkeit, insbesondere über soziale Plattformen deutlich an; Youtube mit 39,6 %, Facebook mit 13,4 % und Instagram mit 7,7 % der Angebote insgesamt sind hier zu nennen. Podcasts wurden bei 5,6 % und Zoom bei 3,4 % eingesetzt. Dennoch sind Texte noch mit 38,5 % vertreten – offenbar hat also auch ein nicht kleiner Anteil der „digitalen Neueinsteiger“, die ja den weit überwiegenden Teil der Teilnehmenden stellen, (auch) auf diesen doch sehr klassischen Weg gesetzt.

Die Reichweite der digitalen Verkündigungsangebote, gemessen nach Views und Aufrufen, gibt die Studie insgesamt für die betrachtete Zeit­spanne mit insgesamt 6,5 Mio. an. Ausgehend von rund 69.000 Gottes­dienstbesuchern in den teilnehmenden Gemeinden an einem normalen Sonntag und der durchschnittlichen digitalen Reichweite der Gottes­dienste eines Sonntags in der Corona-Zeit von rund 198.000 konstatiert die Studie einen „Nachfrage-Boom“ und einen Zuwachs von 287 % (offenbar beträgt jedoch die Anzahl der Abrufe 287 % der Gottesdienst­besucher, damit läge der Zuwachs bei 187 %). Die Frage, ob diese Zahlen wirklich so vergleichbar sind, thematisiert die Studie jedoch auch selbst. Wie viele Personen sich jeweils wie lange und wie intensiv mit den digitalen Formaten beschäftigen, geht aus der Zahl der Abrufe und Views nicht hervor. Ob also tatsächlich mehr Menschen von digitalen als von analogen Verkündigungsformen erreicht werden, wie die Autoren feststellen (32), und wie sie daran teilnehmen und sich damit auseinan­dersetzen, wäre also noch näher zu untersuchen, etwa durch Studien, die die Nutzerperspektive erfassen.

Was die Interaktivität der Angebote angeht, gaben 39 % der Teilneh­menden an, Interaktionen und Beteiligung seien möglich gewesen, 60 % verneinten dies. Bei den Formaten, die Beteiligung ermöglichten, ist großenteils die Gelegenheit mitzubeten (65 %) und mitzusingen (59 %) und des klassischen (nachträglichen) Feedbacks (64,3 %) gege­ben; tatsächliche Interaktivität bieten deutlich weniger dieser Angebote (Live-Chat 25,8 %, Einbringen von Gebetsanliegen 33,6 %, also rund 10 % bzw. 13 % der digitalen Angebote insgesamt). 12 % gaben an, eine digitale Abendmahlfeier (die medial Mitfeiernden empfangen da­bei das Abendmahl in Form von Brot und Wein, die sie selbst bei sich bereitstellen) angeboten zu haben.

Initiiert wurden die meisten Angebote von der Pfarrperson oder zumin­dest unter deren Beteiligung (81,6 %), bei 38,4 % waren Ehrenamtliche Mit- oder Hauptinitiatoren. In den meisten Fällen (64,9 %) wurden die Angebote in einem Team produziert, oft unter Beteiligung von mehre­ren Ehrenamtlichen.

Bedeutend ist der Zeitaufwand für die digitalen Formate; Arbeitszeiten von einem Arbeitstag oder mehr fielen bei 33,1 % für die inhaltliche und bei 22,9 % für die technische Vorbereitung sowie bei 37 % für die technische Realisierung an.

Die Anbieter wurden auch nach ihrem subjektiven Eindruck befragt, wie die Formate in der Gemeinde aufgenommen wurden. 88 % schätz­ten die digitalen Formate als hilfreich oder sehr hilfreich für die Ge­meindeglieder ein, allerdings überwiegend als gewöhnungsbedürftig (56,7 %) oder sogar stark gewöhnungsbedürftig (5,2 %).

Insgesamt stellt die Studie große Fortschritte in Sachen „digitale Kir­che“ und einen nachweisbaren Digitalisierungsschub fest und ist zu­versichtlich, dass auch die klassische Gottesdienstgemeinde diesen Schritt mitvollzogen hat. Es intensivieren sich durch diese Entwicklung Fragen nach dem Gottesdienstverständnis und der Bedeutung von Prä­­senz, Beziehung und gemeinsamem Handeln der Gottesdienstteilneh­mer/innen, die sich durch digitale Formate bereits bisher stellten. Die Autoren sehen in der hohen Nachfrage eine Sehnsucht nach Nähe und Beziehung in der Situation stark eingeschränkter Kontaktmöglichkei­ten, der die digitalen Formate entgegenkommen. Bei der Berücksichti­gung der digitalen Logiken – wie Interaktivität, Zeitsouveränität, Selbstbestimmtheit der Nutzer/innen u. a. – konstatiert die Studie Fortschritte, sieht aber noch „Luft nach oben“.

Die Ad-hoc-Studie liefert interessante erste Zahlen zu den digitalen Verkündigungsangeboten in der evangelischen Kirche während der Corona-Zeit. Vieles davon dürfte mehr oder weniger für die katholi­schen Angebote ähnlich zutreffen. Vertiefende Ergebnisse sind vom ökumenisch und international angelegten CONTOC-Forschungsprojekt zu erhoffen, für das derzeit Online-Befragungen laufen.