re:publica – Eindrücke und Überlegungen
Jährlich treffen sich Anfang Mai in Berlin einige tausend Menschen zur re:publica, einer internationalen Konferenz für Internet, Social Media und Gesellschaft. In diesem Jahr waren es rund 7000 Teilnehmer und 850 Sprecher, die an drei Tagen rund 500 Stunden Programm gestalteten. Die Menschen, die sich hier treffen, voneinander lernen und sich austauschen, sind tendenziell jung, links, skeptisch gegenüber Staat, Wirtschaft und Religion, gesellschaftlich und politisch interessiert, wissenschafts- und technikaffin – und sie arbeiten in irgendeiner Weise im oder mit dem Internet. Durch die Milieubrille betrachtet, finden sich hier wohl überproportional die Milieus der rechten oberen Ecke der Sinus-Grafik, die in kirchlichen Zusammenhängen meist eher fehlen: Performer und Expeditive. Insgesamt ist das Publikum bunt und vielfältig.
Das Themenspektrum ist ähnlich bunt – außer Medien- und Netzthemen im engeren Sinn auf verschiedenen Ebenen von der konkreten praktischen Nutzungsstrategie bis zur medienethischen und -soziologischen Metabetrachtung stehen Politik und Gesellschaft, Kultur, Bildung, Wissenschaft, Musik, Gesundheit und vieles mehr auf dem Programm.
Mittlerweile nimmt eine beachtliche Anzahl von Menschen, die in den Kirchen mit dem Internet arbeiten, an der re:publica teil. Den Sprung auf die Bühne haben die kirchlichen Internetleute allerdings noch nicht geschafft – unter Hunderten von Rednerinnen und Rednern, die ihre Erfahrungen, Erkenntnisse und Gedanken oft auch aus kleinen Nischen des Internets oder recht speziellen Fachgebieten teilen, sucht man solche mit kirchlichem Hintergrund bisher vergeblich. Ob das daran liegt, dass keine entsprechenden Vorschläge eingereicht werden (ich weiß bisher von keinem kirchlichen Internetaktiven, der das tatsächlich versucht hätte), oder daran, dass es solche Vorschläge zwar gibt, sie aber bei der Auswahl nicht zum Zuge kommen, ist schwer zu sagen – es scheint sich auf jeden Fall hier ein gewisses Fremdeln zu zeigen zwischen den Kirchen und dem Mainstream der Teilnehmer und Redner. Andererseits ist diese Situation, nicht auf der Bühne vertreten zu sein, vielleicht auch eine besondere Herausforderung und Chance für uns Kirchenleute, erst einmal ausgiebig zu lernen, zuzuhören und wahrzunehmen.
Tatsächlich spielen in diesem Umfeld Themen, die uns sehr vertraut sind, durchaus eine Rolle. Auf einer sehr offensichtlichen Ebene gibt es in den Vorträgen und Gesprächen häufig Positionierungen zu Glaube, Religion und Kirche – oft abgrenzende und kritische, bisweilen uneindeutig-ironische, eher selten positive und anerkennende. Es gibt aber überraschenderweise auch Berührungspunkte, wo man sie nicht vermutet hätte: im letzten Jahr bei der rp14 fand ich z. B. im Vortrag „Get real, Netzgemeinde“ von Yasmina Banaszczuk Aspekte wieder, die auch in der missionarischen Pastoral eine Rolle spielen – Fragen etwa nach Zugehörigkeit, nach Sprachfähigkeit, wenn es um die Themen geht, die man gern anderen ans Herz legen möchte, nach der Gefahr, dass eine Gruppe von Insidern sich selbst genügt und immer mehr abschließt von denen „draußen“.
In diesem Jahr war es unter anderem der Vortrag von Friedemann Karig „Die Abschaffung der Wahrheit“, an dem ich länger gedanklich hängenblieb: Was macht das Internet- und Medienzeitalter mit der Wahrheit? Jeder kann seine Meinung publik machen, und so stehen die verschiedensten Positionen und Perspektiven nebeneinander; sowohl Manipulation und Fehlinformation als auch deren Aufdeckung bedienen sich des Internets. Es ist eine immense Menge an Informationen jederzeit allgemein zugänglich – etwa in der Wikipedia –, die aber trotz aller Versuche, ihre Richtigkeit abzusichern, auch immer durch absichtliche oder gutgläubige Verfälschung bedroht sind und daher kritisch bewertet werden müssen. Autoritäten und Experten stehen ständig auf dem Prüfstand: Wessen Expertise ist zu trauen? Diese Anfragen an die Zugänglichkeit und Erkennbarkeit von Wahrheit sind selbstverständlich nicht neu, es hat sie wohl immer in irgendeiner Form gegeben und sie haben sich mit der Pluralisierung der Gesellschaft vergrößert – sie haben sich aber offenbar mit dem Internet, das jedem einzelnen Benutzer ermöglicht, seine eigene Wahrheit auf den Markt der Wahrheiten zu werfen, weiter verschärft und zugespitzt. Im Internet vielleicht noch mehr als in anderen Zusammenhängen ist daher auch jeder Einzelne gezwungen, die angebotenen Wahrheiten zu hinterfragen und zu bewerten.
Der Wahrheitsanspruch des Glaubens bleibt davon natürlich nicht unberührt; auch er steht für den Menschen, der sich ständig mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen konfrontiert sieht, unter ihnen wählen und sich entscheiden muss oder aber sie miteinander vereinbaren und versöhnen muss, grundsätzlich in Frage. Es ist mit dieser Vorprägung kaum noch vorstellbar, dass Wahrheit ungebrochen zugänglich und erkennbar sein kann und unverändert von Generation zu Generation weitergereicht und angenommen wird. Zu erfassen scheint nicht das Ganze wie aus einer Vogelperspektive, sondern nur Stücke und Ausschnitte, die dann zu finden sind, wenn man sich in das Gewimmel und den Widerstreit der Wahrheitsansprüche hineinbegibt. Kann die Kirche noch glaubwürdig den Anspruch erheben, den Überblick zu haben, die eine Wahrheit durch die Jahrtausende unverändert und unveränderbar weiterzutragen? Wie sieht eine Theologie, eine Pastoral aus, die die Erfahrung der Bruchstückhaftigkeit heutiger Wahrheitssuche ernstnimmt, eine Verkündigung, die die fest eingeübte skeptische Prüfung annimmt und ihr standhält? Letzten Endes kann sie sich nicht heraushalten, kann ihr der Schritt hinein in die Unsicherheit und das Sich-Entäußern von ihrer absoluten Gewissheit nicht erspart bleiben. Das heißt nicht, die Wahrheit aufzugeben – aber sie „in zerbrechlichen Gefäßen“ (2 Kor 4,7) zu tragen, statt sie hinter unerschütterbaren Tresorwänden festzusetzen. Konkret stehen dann gerade auch Glaubenskommunikation und Seelsorge im Internet mitten auf diesem Kampfplatz der angefochtenen und zweifelhaften Wahrheiten und werden sie auch hier aus dem kirchlichen Binnenraum kaum herauskommen, wenn sie versuchen, den Glauben jeder Infragestellung zu entziehen, und ihn nicht auch aussetzen und so angreifbar und verletzbar machen.
Ein Eindruck, den die re:publica 2015 in ihrer Gesamtheit bei mir hinterließ, war der einer wachsenden, nicht immer eingestandenen Ratlosigkeit der Netzaktiven. Einerseits ist nach wie vor die Faszination für den Fortschritt des technisch Machbaren da, eine Lust, mit allen sich neu bietenden Möglichkeiten zu spielen und sie für die eigenen Werte und Freiheitsideale fruchtbar zu machen. Andererseits aber zeigt sich auch immer mehr, dass die Schattenseiten dieser Entwicklung nicht mehr zu ignorieren und womöglich auch nicht mehr zu entschärfen sind. Der Einsatz der gleichen Möglichkeiten (und der in aller Stille gesammelten Daten) für die staatlich betriebene Überwachung der Bürger einerseits und ihre oft zunächst verdeckte Kommerzialisierung andererseits bedrohen eben diese Freiheit, die die technische Entwicklung einmal zu vergrößern schien. Diese negativen Seiten werden gesehen und benannt, aber letzten Endes doch weitgehend kampflos hingenommen – denn was soll man tun, wie sich wehren? Vielleicht wären gerade die hier gefragten Bereiche Medienethik und Netzpolitik Punkte, an denen die Kirchen sich in die Diskurse der Netzgemeinschaft einbringen könnten und sollten, ob im Rahmen der re:publica oder in anderen Zusammenhängen.