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Ökumenisches Zusammenwachsen der Kirchen im Dienst für die Welt

Die Ökumenische Versammlung in der DDR

Ökumene als dringend notwendiger Dienst für Welt und Gesellschaft auch unter schwierigen Bedingungen: Die Ökumenische Versammlung am Ende der DDR ist ein prägnantes Beispiel dafür. Heino Falcke berich­tet und analy­siert aus eigener Erfahrung.

Als ein Beispiel für das ökumenische Zusammenwachsen der Kirchen im Dienst für die Welt will ich im Folgenden über die „Ökumenische Ver­sammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöp­fung“ der Kirchen in der DDR (1987–89) berichten. Das soll in drei Schritten geschehen: der Verlauf der Ökumenischen Versammlung (ÖV), ihr Hintergrund im „Konziliaren Prozess“ des Weltrates der Kirchen (ÖRK) und schließlich eine Evaluierung des Gesamtvorgangs.

1. Der Verlauf der Ökumenischen Versammlung

Seit Mitte der achtziger Jahre geriet die DDR-Gesellschaft in einen Ver­änderungsstau. Die SED-Regierung sperrte sich gegen die Reformpolitik Michail Gorbatschows, obwohl sich in der DDR ein wirtschaftlicher Nie­dergang abzeichnete und die Zahl der illegal Ausreisenden dramatisch wuchs. Gesellschaft und Staat trieben auf eine Krise zu. Das Drängen gesellschaftskritischer Basisgruppen, die sich im relativ staatsfreien Raum der Kirchen bildeten, wurde energischer.

So forderte 1986 der Stadtökumenekreis in Dresden die Kirchen auf, eine „Ökumenische Versammlung der Kirchen in der DDR für Gerech­tigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ einzuberufen. Er knüpfte damit an den „Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ an, den die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1983 in Vancouver beschlossen und den der Bund der evangelischen Kirchen in der DDR aufgenommen hatte (vgl. 2.) „Sinn dieser Versammlung ist, im eigenen Haus zu ver­wirklichen, was wir von einer ökumenischen Weltversammlung er­warten: den Weg des Friedens zu gehen und ein Wort zu sagen, das uns bindet und verpflichtet und für die Welt ein Zeugnis unseres gemein­samen Auftrages ist“ (Aktion Sühnezeichen / Pax Christi 1990, 204).

1987 wurden über die „Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen“ (AGCK) Gespräche mit den Kirchen aufgenommen und eine Vorberei­tungsgruppe gebildet. Diese veröffentlichte 1987 einen Aufruf, der „alle Christen, Gemeinden, und in diesen Fragen engagierten Gruppen“ auf­rief, sich an der Vorbereitung der ÖV zu beteiligen und die gesellschaft­lich-politischen Fragen zu nennen, die sie im eigenen Land und im globalen Kontext bewegten (ebd., 200 ff.). Darauf kamen über 10.000 Antworten, die erstmals belegten, dass es unter der Konformitätsdecke der DDR-Gesellschaft eine engagiert-kritische Zivilgesellschaft gab.

Über die AGCK wurde die Zustimmung aller Kirchen erreicht. Die ka­tholische Bischofskonferenz behielt sich zunächst den Beobachterstatus vor, den sie jedoch im Dezember 1987 zur vollen Teilnahme erweiterte.

Die ÖV trat im Februar 1988 mit 150 Delegierten aus 19 Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften zusammen. Sie begann mit neun öffent­lichen „Zeugnissen der Betroffenheit“, die das Leiden an Unrecht und Fehlentwicklungen in der DDR zur Sprache brachten. Es wurden drei­zehn Arbeitsgruppen gebildet, deren erste die theologisch-sozial­ethi­sche Grundlegung erarbeitete. Sie legten im Oktober ihre Ergebnisse der zweiten Vollversammlung vor, die sie diskutierte und zur Überarbei­tung bzw. zur Diskussion in den Gemeinden weitergab.

In der dritten Tagung Ende April 1989 wurden die Texte in zwei Lesun­gen beraten und verabschiedet. Sie wurden im Rahmen eines Gottes­dienstes den Vertretern der Kirchen „in die Verantwortung der Kirchen­leitungen“ übergeben. Ein öffentliches „Wort der Ökumenischen Ver­sammlung“ bündelte den Inhalt:

„Wir haben versucht, die Herausforderungen unserer Zeit vom Evange­lium her zu bedenken. Wir haben erkannt: der biblische Ruf zur Umkehr trifft uns heute neu. Unsere Arbeit in der Ökumenischen Versammlung mündet in drei wichtige Einsichten, die uns binden und verpflichten:

  • Wir bekennen uns zu unserer vorrangigen Verpflichtung, Gerechtig­keit für alle Benachteiligten und Unterdrückten zu schaffen;
  • Wir bekennen uns zu unserer vorrangigen Verpflichtung, dem Frie­den mit gewaltfreien Mitteln zu dienen;
  • Wir bekennen uns zu unserer vorrangigen Verpflichtung, Leben auf dieser Erde zu schützen und zu fördern“ (ebd., 16 f.).

Die Beschlüsse der ÖV wurden von den beteiligten Kirchen in aller Form übernommen. Sie erwiesen sich als eine Orientierungshilfe für die oppo­sitionellen Gruppen und gingen in die Programme einiger sich im Sommer 1989 gründenden Parteien und Initiativen ein. Die Gewaltfrei­heit der „Friedlichen Revolution“ hatte in der Friedensarbeit der Kir­chen und in der ÖV eine ihrer Wurzeln.

Es gab in den neunziger Jahren einige Folgeversammlungen. Im Ganzen ist jedoch zu sagen, dass die völlig veränderten Fragestellungen des deutschen Vereinigungsprozesses die Impulse der ÖV aus dem öffent­lichen Diskurs weithin verdrängten. Die Fragen jedoch, denen sich die ÖV auf den drei Problemfeldern gestellt hatte, brachen in den neunziger Jahren in veränderter und zum Teil sogar verschärfter Form auf. So setzte sich die ÖV in dem „Konsultationsprozess der Kirchen über die wirtschaftliche und soziale Lage in Deutschland“ fort. Auch er bezog die Gemeinden und zivilgesellschaftlichen Veränderungsgruppen ein und führte 1997 zu dem gemeinsamen Wort des Rates der evangelischen Kirchen und der Deutschen Bischofskonferenz „Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“.

2. Der Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung

Der auf den ersten Blick befremdliche Begriff der Konziliarität wurde in den siebziger Jahren von der Ständigen Kommission für Glaube und Kir­chenverfassung (Faith and Order) des Ökumenischen Rates (ÖRK) ent­wickelt. In ihm spricht sich ein Verständnis der Einheit der Christenheit aus, das nicht institutionell und hierarchisch fixiert ist, sondern Einheit als einen lebendigen Prozess auf allen Ebenen kirchlichen Lebens sieht. „Unter Konziliarität verstehen wir das Zusammenkommen von Chris­­ten – örtlich, regional oder weltweit – zu gemeinsamem Gebet, zu Bera­tung und Entscheidung in dem Glauben, daß der Heilige Geist solche Zusammenkunft für seine eigenen Zwecke der Versöhnung, Erneuerung und Umgestaltung der Kirche benutzen kann, indem er sie zur Fülle der Wahrheit und der Liebe hinführt … Dies bedeutet nicht eine Bewegung auf die Uniformität hin … [Vielmehr muss] die Einheit der Kirche, wenn sie der Einheit der Menschheit dienen soll, Raum bieten für eine große Vielfalt von Formen wie auch für Unterschiede und sogar Konflikte“ (Raiser 1971, 226 f.).

Diesem Verständnis entsprechend zielte der „Konziliare Prozess“ zwar auf eine Weltversammlung, die 1990 als zweite Station statt­finden soll­te und auch stattfand. Diese sollte aber den Prozess bündeln, der bis da­hin in hoffentlich vielen Kirchen und sehr pluralen Situationen statt­finden würde. Diesem Verständnis folgte die Ökumenische Versamm­lung in der DDR mit ihrer Zielsetzung, „im eigenen Hause zu verwirk­lichen, was wir von einer ökumenischen Weltversammlung erwarten“.

Neu war in dem Beschluss von Vancouver, dass der Konzilsgedanke auf die sozialethisch-politischen Felder von sozialer Gerechtigkeit, Frieden und ökologischer Verantwortung bezogen wurde. Konziliaren Entschei­dungen eignet eine besondere Verbindlichkeit. In ihnen geht es um das Kirchesein der Kirche, um Bekennen oder Verleugnen. Diese Verbind­lichkeit sollte nun nicht nur dem Zeugnis, sondern dem bezeugenden Tun, nicht nur einer Orthodoxie, sondern einer Orthopraxie, nicht nur einer „reinen Lehre“, sondern einer mit ihrem evangeliumsgemäßen Tun bekennenden Kirche zugesprochen werden.

Es gab dafür zwei Vorbilder:

Dietrich Bonhoeffer hatte 1934 bei der Konferenz von Life and Work auf der dänischen Insel Fanö in klarer Voraussicht, dass „Hitler Krieg bedeu­tet“, die Versammlung aufgerufen, als das „ökumenische Konzil“ der Kirche Jesu Christi zu handeln, die „ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt“ (Bonhoeffer 1958, 219).

Der lutherische Weltbund hatte 1977 auf seiner Vollversammlung in Dar-es-Salaam erklärt, das Apartheidssystem in Südafrika widerspräche dem Bekenntnis der Kirche und sei zu verwerfen (sogenannter status confessionis, vgl. Duchrow 2008, 292).

Der Bund der evangelischen Kirchen in der DDR nahm diese Entwick­lun­gen auf. Nach einem mehrjährigen Gesprächsprozess vollzog seine Synode 1987 eine bekennende „Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“.

Die ökumenische Bewegung war von ihren Anfängen her auf beides aus­gerichtet: auf die Einheit der Kirchen und auf den Dienst der Kirchen für die Welt. Das zeigt sich an den zwei Bewegungen, aus denen der ÖRK zusammenwuchs, als er sich 1948 formell konstituierte. Es waren die Bewegungen „für praktisches Christentum“ (Life and Work) und „für Glaube und Kirchenverfassung“ (Faith and Order). Der Dienst für die Welt, die der ÖRK nach dem zweiten Weltkrieg wahrnahm, hatte drei Schwerpunkte, die der geschichtlichen Entwicklung entsprachen: In der Phase des Kalten Krieges galt es, für die Ächtung der Atomwaffen, für Entspannung und Abrüstung einzutreten. Seit den sechziger Jahren brach der Nord-Süd-Konflikt auf, der sich durch die kapitalistisch domi­nierte Globalisierung verschärfte und vom ÖRK die Parteinahme für die Befreiungs- und Gerechtigkeitsbewegungen in der Dritten Welt forder­te. In den siebziger Jahren nahm der ÖRK sehr wach und früh das ökolo­gische Problem der technisch-industriellen Welt auf. In den achtziger Jahren schließlich wuchs die Erkenntnis, dass alle drei Probleme ein sich wechselseitig verstärkendes Problembündel bilden, ein Krisen­syndrom, das die Zukunft des Lebens schlechthin gefährdet. Diese Be­drohung zeigte sich in den Weltregionen mit sehr verschiedener Bri­sanz, mit Armut und Ungerechtigkeit im Süden, mit der eskalierenden nuklearen Abschreckung im Norden, mit den ökolo­gischen Schäden, die von den Industrieländern ausgingen, aber es waren Spitzen des einen Krisensyn­droms. Ihm mit der Kraft des Evangeliums und dem in allen Verschiedenheiten vereinten Zeugnis und Dienst der christlichen Ökumene entgegenzutreten, das war der Sinn des Aufrufs zu einem „Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“.

3. Versuch einer Evaluierung der Ökumenischen Versammlung

Die ÖV hat unterschiedliche Beurteilungen und skeptische Einschät­zun­­gen besonders ihrer politischen Wirkung erfahren. Solche Ereignisse können jedoch, unabhängig von ihren direkten Auswirkungen, Elemen­te enthalten, die weiterbedacht werden wollen, weil in ihnen Hoff­nungs­symbole und Handlungsimpulse stecken. Einige solcher Punkte möchte ich nennen:

  • Der erste Punkt gehört in die Kategorie des Ereignisses und Erlebnis­ses, nicht in die der geschichtlich-kirchengeschichtlichen Wirkung und Bedeutung. Die Versammlung brachte für viele Teilnehmer das ermutigende bis begeisternde Erlebnis ökumenischer Gemeinschaft. Manche kamen aus konfessioneller Enge und mit Skepsis, viele hat­ten unter der konfessionellen Trennung gelitten und sie besonders in den heißen Fragen des politischen Engagements in der „sozialisti­schen Gesellschaft“ als Absurdität erfahren. In den Vollversammlun­gen und Arbeitsgruppen waren eine wachsende Freude am Zusam­mensein und eine hohe Motiviertheit zu spüren. Während das ganze Land von einem Mehltau von Resignation, ja Depression überzogen wurde, erlebten viele das Zusammenkommen und Zusammenwach­sen der konfessionell getrennten Christen und Kirchen als einen un­verhofften Aufbruch. Im Vorankommen der Gespräche, des Konsen­ses und der gemeinsamen Aussagen wuchs die Ermutigung. Das Er­leb­nis einer communio sanctorum, die in einer gelähmten Gesellschaft kirchliche Verkrustungen aufbricht und Neuland beschreitet, erwies ihr aktivierendes Potential.

    Man sollte solche Erfahrungen nicht enthusiastisch überschätzen, sie aber auch nicht als emotionalen Event oder Träumerei abtun. Es gilt vielmehr die Verheißung zu entdecken, die in solchen Er­eignissen steckt. Sie sind eine Gabe im strengen Sinn des Wortes, und sie er­mächtigen zu der Aufgabe, die in der Gabe liegt.

  • Die ÖV überwand für die Zeit ihres Zusammentretens die konfes­sio­nellen Trennungen. Sie arbeitete mit Delegierten der Kirchen unter einer Geschäftsordnung wie eine Synode zusammen. Der mitarbei­tende katholische Dogmatiker Lothar Ullrich definierte die ÖV als „Zeugnis und Dienstgemeinschaft noch getrennter Kirchen“. Die katholische Bischofskonferenz und der evangelische Kirchenbund haben noch im Sommer 89 die Texte der ÖV offiziell rezipiert. Im Herbst 89 kooperierten dann die evangelische und katholische Kirche bei den anwachsenden Friedensgebeten und Demonstrationen und bei der Moderation der „Runden Tische“ des Winters 89/90. Auch dies waren Früchte des Zusammenwirkens in der ÖV.

    Was ermöglichte diese interkonfessionelle Kooperation?
    Ich denke, es war der Druck der Situation, der oben beschriebene Ver­änderungsstau. Ist die ÖV damit als unwiederholbares Ereignis auf die damalige Ausnahmesituation zu reduzieren? Ich denke nicht. Es ereignete sich vielmehr geschichtlich konkret etwas Exemplarisches. Die ÖV zeigte: In einer geschichtlichen Krisen- oder Umbruchssitua­tion können die Kirchen zusammenfinden, wenn sie sich auf die Her­ausforderung der Stunde wirklich einlassen. Tritt eine Lähmung der Politik ein, können die Kirchen sogar transitorisch eine Stellvertreter­rolle wahrnehmen.
    Daraus ist keineswegs ein ökumenischer Pragmatismus abzuleiten, der die Trennungen in Lehre und Traditionen nivelliert und bagatel­lisiert, um zu gemeinsamem Handeln zu kommen. Die ÖV gründete ihre Arbeit auf eine reflektierte kontextuelle Theologie. Sie begann, wie berichtet, mit den „Zeugnissen der Betroffenheit“ und gewann ihre Aussagen, indem sie die Texte der theologischen Tradition mit dem Kontext der Situation in Korrespondenz brachte. Dieses aktuelle Einswerden setzt seitens der Kirchen freilich voraus, dass sie die Sen­sibilität für das Zeitgeschehen und die Empathie für seine Notlagen aufbringen, die notwendig sind, um sich dadurch aufrütteln und zu­sammenführen zu lassen.

  • Die ÖV überwand nicht nur ad hoc die konfessionellen Trennungen. Sie führte auch die landeskirchlich, freikirchlich und großkirchlich verfassten Kirchen mit den gesellschaftskritischen Gruppen zusam­men. Diese Gruppen hatten sich vor allem im Raum der Kirchen als dem in der DDR einzigen relativ staatsfreien Raum gebildet. Die Be­ziehung zwischen ihnen und den Kirchen gestaltete sich gleichwohl sehr konfliktreich. Die verfassten Kirchen waren darauf angewiesen, in Gesprächen mit der Regierung und damit in einem sehr begrenz­ten Toleranzraum kirchenpolitische und gesellschaftliche Verbesse­rungen auszuhandeln. Die Gruppen dagegen sammelten sich um radikalere Kritikpunkte vor allem in Friedens-, Umwelt-, Lebensstil- und Menschenrechtsfragen. Sie brachten überdies ihre Anliegen in Aktionen vor, die die Konflikte öffentlich inszenierten und skanda­lisierten.
    Die politische Bedeutung dieser Gruppen wuchs in den achtziger Jah­ren, als sich in den osteuropäischen Ländern, anfangend mit Soli­dar­nosz in Polen, der Systemwiderstand aus den Zivilgesellschaften erhob und wuchs. Politologisch gesehen handelte es sich bei den Spannungen zwischen Gruppen und Kirchen in der DDR um das Spannungsverhältnis zwischen bürgerlich geprägten Großinstitu­­tio­nen und zivilgesellschaftlichen Veränderungsgruppen. In der Vorbe­rei­tung der ÖV gelang es, im Delegierungsschlüssel der Kirchen eine Quote für Vertreter der Gruppen zu beschließen. So saßen in der ÖV Oberkirchenräte neben Gruppenvertretern, deren Existenzrecht in der Kirche die Ersteren vorher noch angefochten hatten.
    Die Rolle und Bedeutung der Zivilgesellschaft kam in den friedlichen Revolutionen des Herbstes 89 voll ans Licht. In der DDR übernahmen die Gruppen, die sich im Sommer 89 zu politischen Parteien formier­ten, die Vorreiterrolle. Die Kirchen schlossen sich sehr bald an. So gin­gen die Demonstrationen des Herbstes von den Friedensgebeten in den Kirchen aus. Die ÖV hat zur Überwindung der Kluft zwischen Kirchen und Gruppen den Weg bereitet. In Westeuropa, nicht zuletzt in Westdeutschland, haben schon vorher und in noch stärkerem Maße zivilgesellschaftliche Bewegungen und Basisgruppen den Konziliaren Prozess vorbereitet und zum Teil gegen Widerstände in den Landeskirchen und der EKD durchgesetzt (vgl. Duchrow 2008, 291 ff.).

    Auch hierin sehe ich einen Vorgang, der exemplarische Bedeutung gewinnen könnte. Die Kirchen haben sich in der Vergangenheit, be­sonders im deutschen Protestantismus, primär auf den Staat bezogen und als sein Partner Mitverantwortung für die Pflege tradierter Werte und so für den Zusammenhalt der Gesellschaft übernommen. In der Ausdifferenzierung der modernen demokratischen und pluralisti­schen Gesellschaften müssen die Kirchen dem Modell der Konziliari­tät folgen, um in offenen Beratungs- und Entscheidungsprozessen zu gemeinsamem Reden und Handeln zu kommen. Sie werden dabei nicht zuletzt den Kontakt zu den Kräften der Zivilgesellschaft suchen müssen. Dort wird in vielgestaltiger, konfliktorientierter, aber macht­freier Kommunikation nach dem erstrebenswerten und zukunfts­fähigen Leben gesucht. In diesen Diskurs müssen sich Christen und Kirchen mit der spezifischen Kompetenz ihrer Botschaft und ihres Auftrages einmischen.
    Es wird dabei zu Bündnissen und Gegnerschaften mit säkularen ge­sellschaftlichen Kräften kommen, die zu binnenkirchlichen Arran­gements querliegen können. Das ökumenische Zusammenwachsen darf nicht binnenkirchlich abgeschottet werden. Es steht ja im Dienst der oikumene (griechisch), die ursprünglich den bewohnten Erdkreis, genauer noch: den Haushalt der bewohnten Erde, meint (oikos = Haus). Darum sucht das ökumenische Zusammenwachsen das Zu­sam­menspiel mit der Vernunft, die das Leben im Haushalt / in den Haushalten der bewohnten Erde regelt.