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Erwählte in der Fremde. Der Erste Petrusbrief und die Identität des Christlichen

Der Erste Petrusbrief erfreut sich in der exegetischen Diskussion neuer Beliebtheit. Liegt das möglicherweise an den veränderten Bedingungen des Glaubens (zumindest in Deutschland), die unter den Stichworten Identität, Zeugnis, Verkündigung und Umgang mit Leiden und Aus­gren­zung eine neue Beschäftigung mit der Prima Petri angestoßen ha­ben? Christliche Identität angesichts einer nicht-christlichen Mehrheit, Christsein in der Diaspora lassen den Schluss zu, dass mit 1 Petr eine theologische Krisenintervention derer versucht wird, die aus der heid­nischen Majoritätsgesellschaft ausgestiegen sind. Aber ist 1 Petr wirk­lich ein Aussteigerbrief? Geht es nicht vielmehr, wie Thomas Popp mit seiner 2010 erschienenen Habilitationsschrift (Die Kunst der Konvivenz. Theologie der Anerkennung im 1. Petrusbrief, Leipzig 2010) andeutet, um „Konvivenz“, also um Zusammenleben unter veränderten Bedin­gun­gen? Und was kann als Ertrag festgehalten werden, wenn man sich von der historischen Situation des Briefes löst und seine Bedeutung als Ermutigungs- und Anregungsschreiben für christliche Existenz heute in der modernisierten Gegenwart immer als Subtext mitliest? Der vorlie­gende Band dokumentiert eine Neutestamentler-Tagung, die 2013 in Salzburg stattfand.

In einem einführenden Überblick werden von Christoph Gregor Müller die Adressaten in den Blick genommen: Auserwählte als Fremde. An ihrer Ansprache werden die zentralen Themen entwickelt: Christsein in Exil, Fremde und Diaspora. Im Hintergrund steht das jüdische Ver­ständ­nis der Diaspora, das auf das geschichtliche Heilshandeln Gottes zurückgeführt wird (15). Das Exil kommt als Bedingung der Möglich­keit für nachfolgendes göttliches Heilshandeln in den Blick, zunächst an Gottes Volk selbst, aber auch darüber hinaus an den Völkern, unter die Israel zerstreut wurde (16). So zeigt sich 1 Petr als christ­licher Diaspora-Brief, der mit einem Seitenblick auf antike Exils- und Tröstungsliteratur (Gedanken wie neue Geburt und bereitliegendes Erbe und wie mit Leid umgegangen wird, finden sich auch dort) die Frage nach christlicher Identität aufwirft: Wer sind wir? Wer bin ich? Erwäh­lung und Fremdheit werden zusammengedacht: Die Fremden (1 Petr 2,11) sind die par-epidemoi (kurzzeitig Anwesende); der paroikos ist ein Bewohner, der permanent nicht zur Bürgergemeinde zu rechnen ist. Die Heimat ist im Himmel, wo das Erbe bereitgehalten wird. Eine solche An­­­rede deutet die Situation der Adressierten: Fremdsein ist als Kehrsei­te der Erwäh­lung verstanden, durch das Leben der Glaubenden (1 Petr 1,15) sollen sie Zeugnis geben von der Heiligkeit Gottes. Die neue Exis­tenz ruht auf christologischen Grundlagen: Sie sind wiedergeboren zu neuer Hoff­nung, ihre Aufgabe ist es, Zeugen für diese Hoffnung vor der Welt sein. Es geht jedoch nicht um Rückzug ins Ghetto oder Ausstieg aus der Gesellschaft. Im weiteren Verlauf nimmt die Steinmetaphorik (1 Petr 2) eine Tempelkultmetaphorik auf: Es geht darum, sich zu einer königli­chen Priesterschaft aufbauen zu lassen, um geistliche Opfer darzu­brin­gen, ein heiliges Volk zur Verkündigung zu sein, Gedanken, die in Lumen gentium zum Verständnis christlicher Existenz herange­zo­gen wurden. In 1 Petr findet sich nach Müller keine Negativ-Wertung der Diaspora, vielmehr das Bemühen, nicht in der Binnenperspektive zu verharren, sondern durch authentische Lebensführung und das Aufneh­men von „Gesprächsfäden“ im Kontakt mit der umgebenden Gesell­schaft zu verbleiben.

Karl Gabriel beleuchtet in einem inspirierenden Beitrag aus soziologi­scher Perspektive den Brief. Zur Klärung ihres Verhältnisses zur Welt herausgefordert, das von kämpferischer Umgestaltung bis zu weitge­hen­der Anpassung reichen kann, lösen die Angeredeten in ihrer Umwelt Befremden, Abwehr und feindliche Haltung aus. Gabriel zeichnet den Fremden als sozialen Typus: Das Gegenüber, die Unabhängigkeit und Freiheit des Glaubens von der Mehrheitsgesellschaft bedeuten Gefähr­lichkeit, ein Balanceakt zwischen Nähe und Ferne führt zum Vorwurf der Illoyalität. Als Soziologe zeigt Gabriel, wie Stigmatisierung, Aus­grenzung und Strategien der Stigmaabwehr funktionieren: Ein negati­ves Merkmal einer Gruppe führt zur Zuschreibung anderer negativer Merkmale, in einem weiteren Stadium werden Mitglieder dieser Grup­pe nur noch unter diesen negativen Vorzeichen wahrgenommen (Nega­tivrolle). Die Strategie ist dann einerseits die Betonung des vorbildli­chen Verhaltens, andererseits die Selbststigmatisierung: Zeichen der Erwählung und Erfüllung ist die Teilhabe am Leiden Christi. Mit Beru­fung auf das Konzept der „kognitiven Minderheit“ (Peter L. Berger), das Wirklichkeit als gesellschaftliche Definition und Konstruktion und deren Plausibilitätsstrukturen beschreibt, zeigt Gabriel, dass Christen in modernen säkularen Gesellschaften immer stärker in die Situation der kognitiven Minderheit geraten. Sie sind herausgefordert zwischen den Extremreaktionen Verschanzung oder Anpassung. 1 Petr liefert da einen dritten Weg: Verhandeln. 1 Petr widersteht nach Gabriel der Versuchung der Verschanzung, weil immer wieder die sprachliche und nicht-sprach­liche Kommunikation mit der Mehrheitsgesellschaft gesucht wird (1 Petr 3,15). Vielmehr gibt der Brief den Rat, „Felder gemeinsamer Anliegen, Überzeugungen und Praktiken mit der Mehrheitsgesellschaft zu finden“ (59). Keine alternative Gesellschaftsordnung erzwingen zu sollen, entlastet vom Drang, auch mit Gewalt zur eigenen Wirklich­keits­konstruktion bzw. andere zum „Heil“ bekehren zu müssen. Gabriel zieht die Kriterien der religionssoziologischen Unterscheidung zwischen Sekte und Kirche heran, die jedoch idealtypisch geschärft sei: Anzahl, Beteiligung der Mitglieder, soziale Kontrolle vs. gesetzliches Regelwerk, Bedeutung von Entscheidung. Danach weist 1 Petr eher eine Nähe zum „Sektentypus“ auf. Für Gabriel gewinnt dies neue Aktualität auf dem Hintergrund der Gegenwart, die von neuem religiösen Pluralismus, Menschen ohne Kirchenmitgliedschaft, wachsender Pluralisierung und Entterritorialisierung gekennzeichnet ist. Religionen stoßen auf engem Raum zusammen, alle Religionen nehmen den Charakter von kogniti­ven Minderheiten an, Charismatisierung und Pentekostalisierung weltweit verweisen auf die wachsende Bedeutung intensiven Erfah­rungs­bezugs und starken Gemeinschaftsbezugs, auf die Wichtigkeit intensiver, persönlich geprägter Religiosität und die Tatsache, durch eigene Wahl zum Glauben gekommen zu sein. Folgerichtig wirbt Gabriel für einen differenz-, diaspora- und pluralismusfähigen Glauben und ein Annehmen der „paradoxen“ Situation der Gläubigen als Fremde in einer Welt von Anders- und Nicht-Gläubigen. In einem letzten Gedan­ken wendet Gabriel 1 Petr auch auf die derzeitige Kirchenkrise an, in der der Brief eine „pastorale Pragmatik“ entfaltet. Neben die Aufforderung zum Abschied von der hierarchischen Klerikerkirche stellt Gabriel den Hinweis auf derzeit entstehende Großpfarreien, die eine bestimmte Sozialform des Christentums zu bewahren suchten, obwohl die sozialen Voraussetzungen dafür längst zerfallen seien. Vielmehr werbe 1 Petr hingegen für Grundhaltungen, die in der gegenwärtigen Situation hilfreich sind: „Konsequente Akzeptanz des religiös-weltanschaulichen Pluralismus; Realisierung der Situation der Fremdheit und Marginalität der Gläubigen in einer radikal-pluralen Welt; Betonung der Freiheit des Glaubens und der Befähigung zur Wahl und Entscheidung im Glauben; eine überzeugende Lebenspraxis der Gläubigen als primäres Zeugnis des Glaubens; entschiedene Förderung der Gemeinschaftlichkeit des Glaubens“ (65f).

Karl Matthias Schmidt reflektiert die Pseudepigraphie von 1 Petr, in der die Verfasserfiktion (Petrusbild) an die Realität der angesprochenen Gemeinde angepasst wurde. Prosopopoiie als literarischer Kunstgriff ist die Inszenierung von Figuren. Das „Lebensbeispiel des Petrus hatte der Gemeinde des Ersten Petrusbriefes gerade auch deshalb etwas zu sagen, weil sie nicht mit dem historischen Petrus konfrontiert wurde, sondern mit einem für ihre Situation konstruierten Apostel“ (72). Der Leser (damals wie heute; H. S.) ist sich bewusst, dass es eine Fiktion ist, die es möglich macht, die eigene Situation neu zu reflektieren. Gudrun Guttenberger denkt über die Teilhabe am Leiden Christi als Teil einer Identitätskonstruktion nach. Identität ist in den Sozial- und Kultur­wissenschaften in Spannung von individuellem Selbst („Innen“) und dem „Außen“ des kulturellen und gesellschaftlichen Kontexts zu den­ken. Identitätsfindung wurde seit den 80ern zunehmend als „lebens­langes risikobehaftetes Handeln des Einzelnen“ (101) konzipiert. George Herbert Mead als Vertreter des amerikanischen Pragmatismus formu­liert: „Identität entsteht (…) durch die Wahrnehmung der eigenen Person mittels der Übernahme der Perspektive anderer auf die eigene Person“ (104). Identität, Handlungsfähigkeit und Gemeinschaftsfähig­keit entstehen so in einem komplexen Geschehen, Identität wird als Prozess begriffen. Guttenberger integriert in diese Gedanken Er­kennt­nisse der Konversionsforschung für die Identität der Konvertierten: Frühere Lebensphasen und Lebenserfahrungen werden im Licht der Bekehrung neu interpretiert. Die Bekehrung der in 1 Petr angespro­chenen Christen könne als Outgroup-orientierte Strategie (Identität verbergen und sich als möglichst „normal“ präsentieren, Interaktion mit der Majoritätsgesellschaft suchen und sich an deren Werte halten) oder als Ingroup-orientierte Strategie (offensive Präsentation des Makels, dessen Umwertung als Vorzug) gedacht werden. Der „dritte Weg“ von 1 Petr verbindet Ingroup- mit Outgroup-Strategie. Damit „ermöglicht es der Erste Petrusbrief seinen Adressaten, in ihrem Selbst­bild unabhängig von den Etikettierungen der feindselig eingestellten Umgebung zu werden; zugleich entlässt er sie nicht in eine Subkultur oder Parallelgesellschaft und hält damit an ihrer missionarischen Verantwortung ebenso fest wie am universalen Heilswillen Gottes auch für die Mitglieder der Majoritätsgesellschaft“ (109).

Wilfried Eisele interpretiert auf der Mikroebene des Textes 1 Petr 2,11–4,11 als Ermahnung (Paraklese) und verknüpft die Leitmaximen christlicher Lebensordnung mit der Sklavenparänese, die allen Christen gilt. Das „gute Gewissen“ führt zu dem Gedanken der Verkündigung nicht trotz, sondern gerade vermittels des Leidens. Christoph Niemandstellt in einem „Werkstattbericht“ Beobachtungen zur Textstruktur vor. Nach ihm gibt es in 1 Petr Plan A und Plan B: In Plan A wird ein Verhal­ten zur Konflikt- und daher zur Leidensvermeidung angeraten. Wenn es aber doch Feindseligkeiten und Ausgrenzungen gibt, dann tritt Plan B in Kraft: Deutung des Leidens als Mitleiden mit Christus zum Zeichen der Erwählung. Die vorgestellten Beobachtungen über die geforderten „Un­ter­ordnungen“ in 1 Petr 2 sind interessant: Wenn 2,13a als Grundsatz für den gesamten nachfolgenden Block gelesen wird, entfaltet der Abschnitt unterschwellig eine Ideologiekritik, die davon ausgeht, dass alle Herrschaftsansprüche, politische wie familiale, letztlich als mensch­liche, nicht göttliche Setzungen entlarvt werden, die für die eigentliche Frage nach dem Heil keine Relevanz haben. Im zweiten Teil legen die Beobachtungen der Werkstatt eine Parallelität der Heilsfunk­tion des Leidens Christi mit der als heilsvermittelnd gedachten Leiden der Adressaten von 1 Petr im Sinne einer „Nachahmung des Passions­christus“ nahe, die die Christen von 1 Petr zu „Herolden des Evange­liums“ (151) macht. Markus Schiefer Ferrari macht auf Spannungen zwischen verschiedenen Verhaltens- und Identitätsmodellen aufmerk­sam: ohne Worte vs. gerade durch Bekenntnis, Anpassungs- vs. Standhaftigkeitsstrategie, Begierden der Menschen vs. Wille Gottes. Ferrari versteht dies als Angebot für die Leser, sich selbst zwischen den Polen einen Standort zu suchen, nicht nur Entweder-oder-Positionen zu forcieren, sondern pragmatische Lösungen zuzulassen. So bietet 1 Petr eine Pluralität von Konzepten als Lösungsmöglichkeiten an; damit verbunden ist die Herausforderung, die jeweils eigene Lösung verant­wortet zu suchen. So dokumentiert der Brief Suchprozesse (nicht nur) der jungen Christengemeinden angesichts wachsender Schwierigkeiten: die Frage nach dem Umgang mit Gottes lebendig und ewig bleibendem Wort, ein Verhalten zwischen Beharrung und Anwendung (Tradition als Vermittlung in eine neue kulturelle Situation hinein).

Andreas Merkt schließlich entwirft im Spiegel patristischer Ausle­gungs­tradition ein breites Spektrum und ein Gewebe von Hyperlinks, das sich als Referenzrahmen des NT durch die ars combinatoria und die typologische Auslegungstradition ergibt. Zunächst ein Randdasein führend, sei 1 Petr erst später bedeutsam geworden. Der Kommentar des Beda um 700 habe durch die missionarische Situation auf den britischen Inseln eine Rolle gespielt, Bonifatius bittet daher bei seiner Mission in Germanien um Kopien von Bedas Kommentar der Katholi­schen Briefe, weil er sie bei der Festigung der christlichen Würde verwenden könne (Herkunft der neuen Christen aus dem Heidentum wie die Adressaten von 1 Petr). Die sieben Katholischen Briefe als eigenes Corpus erfahren eine Aufwertung ab der 2. Hälfte des 4. Jhdt. in einer Situation staatlich geförderter Mehrheit, Hauptkonkurrent nun der Manichäismus. So zeigt Merkt auf, wie unter den Bedingungen einer Volkskirche der Brief dadurch aktualisiert wird, dass er auf neue Adressaten angewendet wird. In dieser Zeit nehmen die Bilder des Petrusbriefes eine Rolle in der Tauftheologie (Flut) des Augustinus ein, der dadurch die absolute Heilsnotwendigkeit der Taufe herausstellen will. Im Gnadenstreit gegen den Pelagianismus wird die Passion Christi zum exemplum gegenüber einer theologischen Richtung, die die hohen ethischen Maßstäbe, die den Christen angeraten werden, im Sinne einer Werkgerechtigkeit verstehen will.

Insgesamt bietet der Band eine anregende, durch viele unterschiedliche kontextuelle Zugänge orientierte Lektüre. Für den Leser, der den pasto­ralen Gegenwartsbezug in der aktuellen Situation von Religion, Glaube und Kirche sucht, wird mit Ausnahme des Beitrags von Karl Gabriel leider nur wenig Anregung geboten. Auch heutige Christen, das zeigt gerade der patristische Beitrag sehr deutlich, sind im biblischen Ver­ständ­nis Hörer des Wortes und Adressaten, nicht nur die historischen. Immerhin laufen die heutige Situation und potenzielle Anregungen zum Christsein in der Gegenwart für den Leser immer als Subtext mit. Es erhebt sich dabei die Frage, wie sich die derzeitige Kontextlage in Deutschland zur vermuteten Situation der Adressaten von 1 Petr verhält: Ist die Umgebung den Christen tatsächlich „feindlich“ im Sinne eines aggressiven Atheismus gesinnt, oder dient solche Wahrnehmung nicht auch einer bestimmten Form von Identitätskonstruktion? Fremd­heit, mindestens in den Gebieten im Osten Deutschlands, mag ange­sichts der weit verbreiteten religiösen Indifferenz tatsächlich ein zentra­ler Gesichtspunkt sein. Jedoch ist gerade im Blick auf 1 Petr zu fragen, ob Fremdheit nicht auch als Chance genutzt werden kann, und wie Christen und Kirche als missionarische heute zwischen Rückzug und Anpassung ihre Konvivenz mit den Menschen und den Institutionen der Gesellschaft gestalten können, um ihrem Ursprung und der jeweiligen Situativität gerecht zu werden. Wo und wie gibt es Anknüpfungspunkte für Zeugnis von der Hoffnung? Wie verhalten sich authentisches und „tugendhaftes“ Leben einerseits und explizites Erzählen von dem, was uns als Christen erfüllt und bestärkt, andererseits? Es benötigt wohl einen breiteren Diskurs verschiedener Akteure darüber, den 1 Petr durchaus befruchten könnte. Die missionarische Herausforderung ist aufgespannt: Erwählung durch Christus und Brückenschlag zur Umge­bungsgesellschaft (Sammlung und Sendung), die Stärkung des Bewusst­seins der Würde, in der Taufe zum priesterlichen Gottesvolk zu gehören, damit verbunden die Verantwortung, dies im persönlichen und gemein­schaftlichen Leben, in Verhalten und Sprache auch auszudrücken, um den Dialog mit anderen zu suchen.

Hubertus Schönemann