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Kirche in der Welt von heute

Ekklesiologische und pastoraltheologische Reflexion im Blick auf das Zukunftsbild des Bistums Essen

Ökumene als das Zusammenwirken vieler zur Gestaltung des gemein­samen Lebenshauses fordert die Kirche dazu heraus, ihre Binnenpers­pektive zu verlassen und Kirche in der Welt von heute zu sein, wach im Blick auf Welt und Zeitgeschehen, vielfältig im Tun, lernend im Dialog mit den Menschen. Gerade darin findet Kirche zu ihrer Sendung, indem sie zeugnishaft die Zu­wendung Gottes zu dieser Welt realisiert. Michael Dörnemann, Leiter des Seelsorgeamts des Bistums Essen, reflektiert auf diesem Hintergrund den Prozess des pastoralen Wandels, der sich für das Bistum Essen in der Erar­beitung eines „Zukunftsbildes“ realisiert hat. Es wartet nun darauf, in Haltungen, Handeln und Strukturen Niederschlag zu finden und Bewusst­sein zu verändern.

In Zeiten des Wandels und der Veränderung haben Christinnen und Christen – so zeigt es die Kirchengeschichte – Erneuerungsprozesse in der Kirche angestoßen und durchgeführt, indem sie auf die Ursprünge geschaut haben, auf Jesus und die Anfänge in den frühchristlichen Ge­meinden. Das Zweite Vatikanische Konzil vor 50 Jahren hatte ebenfalls, ermutigt durch Bibelbewegung und Liturgische Bewegung im 20. Jahr­hundert, die Ursprünge christlichen Glaubens und Lebens in den Blick genommen und wollte eine Antwort geben auf die vielfachen gesell­schaftlichen und globalen Veränderungen seit dem Ende des 19. Jahr­hunderts. Das letzte verabschiedete Dokument des Konzils, die Pasto­ralkonstitution „Gaudium et spes“ mit dem Titel „Kirche in der Welt von heute“, macht diese Absicht des Konzils sehr deutlich. Viele Zeit­genossen des Zweiten Vatikanischen Konzils, die heute zur älteren Generation gehören, beschreiben die Lebendigkeit, die sie als junge Menschen in der Kirche der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts spürten. Aber schon damals gab es viele in der Kirche, nicht zuletzt die Konzilsväter und die sie beratenden Theologen selbst, die nüchtern auf die Situation und die Zeit nach dem Konzil schauten. So formulierte der Konzilsberater von Franz Kardinal König, Karl Rahner, 1966: „Seien wir ehrlich und nüchtern! Es ist zwar viel in den letzten vier Jahrzehnten vom Erwachen der Kirche in Geist und Herz der Gläubigen gesprochen worden, davon, daß die Christen die Kirche sind und nicht nur als deren Sorge- und Schutzbefohlene gesehen werden dürfen“ (Rahner 1971b, 330f.).

Rahner formuliert hier eine wesentliche Aussage des Konzils, die in der Bewusstwerdung neutestamentlicher und patristischer Theologie eine grundlegende Veränderung im bis dahin zentralen Kirchenverständnis bedeutete: Kirche sind alle Getauften! Kirche ist da lebendig, wo Getauf­te im Namen und in der Nachfolge Jesu Christi wirken und nicht nur dort, wo Priester und Bischöfe tätig werden. Aber Rahner war ein zu nüchterner Mann, als dass er nicht bereits damals erkannte: Für das Wirksamwerden dieser zentralen Aussage braucht es nicht nur Jahre, sondern ganze Jahrzehnte. „Wir dürfen uns also nicht darüber täuschen und darüber wundern: wir stehen in der Wirkung des konkreten, wirk­samen Bewußtseins dieser aktiven Funktion aller Christen in der Kirche noch am Anfang. Gebe Gott, daß seine Vorsehung die Aktualisation die­ses Bewußtseins, auf die der Geist Gottes in der Kirche spürbar hin­drängt, nicht dadurch erreichen muß, daß die Kirche so zur kleinen Her­de gemacht wird, daß die, die ihr angehören, von selbst in eine innigste brüderliche Nähe zueinander kommen und jeder, auch jeder im Klerus, merkt, daß es nun auf alle und jeden ankommt, und man darum jedem gern einen Raum aktiven Mittragens der Kirche einräumt, weil es nur zu wenige sind, die auf eine solche Ehre und Würde, die Last, Gefahr und Bereitschaft zum letzten Opfer bedeutet, überhaupt Anspruch erheben“ (Rahner 1971b, 331).

Wie sieht es 50 Jahre nach dem Konzil in Kirche und Gesellschaft, vor allem in Deutschland, aus? Hat Karl Rahner mit seiner Ahnung und seiner Sorge Recht behalten?

2010 erschütterte die Kirche in Deutschland die Aufdeckung sexueller Missbrauchsfälle in den vergangenen 60 Jahren. Jahre zuvor war dies bereits in den USA und in Irland geschehen.

Der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Zollitsch, forderte als Konsequenz im Herbst 2010: „Es gibt für uns kei­nen anderen Weg als den der Offenheit, der Ehrlichkeit und den des Zuhörens“ (Zollitsch 2010, 7). In der Verunsicherung des Jahres 2010 griff Zollitsch in der Forderung von Konsequenzen zurück auf wesent­liche Aspekte der Theologie des Zweiten Vatikanums, dass alle Getauf­ten Kirche sind und dass Kirche wesentlich vom Dialog lebt: „Wir (fin­den) den Weg zu den Menschen und die Pilgerstrecke zum Herrn nur, wenn Bischöfe, Priester und Laien, Ehrenamtliche und Hauptberufliche, auf authentische und enge Weise miteinander verbunden sind. Dialog und gemeinsame Wegsuche sind unverzichtbar“ (Zollitsch 2010, 4).

Neben der Aufdeckung der Missbrauchsskandale war es auch die immer bedrückender werdende Erfahrung, die einen Veränderungsprozess of­fenkundig machte, dass nämlich die Zahl der aktiven Christinnen und Christen, deren Lebensalltag sich aus dem Geist des Evangeliums und der christlich-katholischen Tradition gestaltet, immer weniger wird. Der Religionssoziologe Detlef Pollack hat in einer neuen Studie aufge­zeigt: „Die Wahrscheinlichkeit individueller Religiosität steigt nicht mit dem Abstand zur Institution Kirche, sondern mit der Einbindung ins kirchliche Leben, dem Besuch eines Gottesdienstes, dem personalen Kontakt zum Pfarrer und der Beteiligung an kirchlichen Gemeinschafts­zusammenhängen. Allerdings nimmt sie ab, wenn die kirchliche Ein­bet­tung als bevormundend erlebt wird“ (Pollack 2015). Zu­dem ist vielen das Engagement in der Kirche heute nicht mehr so wich­tig. Vor allem „sobald die mit Hilfe der religiösen Gemeinschaften ange­strebten politischen und ökonomischen Ziele erreicht sind, geht das kirchliche und religiöse Engagement zurück“ (ebd.). Dagegen können die etablier­ten Kirchen auch nur sehr wenig ausrich­ten, so das Fazit von Pollack.

In einer sehr städtisch geprägten Region wie dem Ruhrgebiet setzten die­se Tendenzen wesentlich früher ein als anderswo. Bereits in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, als in den meisten katholischen Gegenden Deutschlands noch weit über 60 % der Bevölkerung regelmäßig den Sonntagsgottesdienst mitfeierten, taten dies im Ruhrgebiet bereits nur knapp 35 % der Katholiken. Auch die gesamtgesellschaftlichen Um­bruch­prozesse nach 1968 zeigten sich im kirchlichen Leben des Ruhr­bistums rascher als anderswo. Lebten 1962 noch knapp 1,5 Millionen Katholiken im Bistum Essen, sind es derzeit ca. 815 000. Zudem ist die Ruhrregion seit der Mitte der 60er Jahre einem enormen Prozess des Strukturwandels von einer fast reinen Industrieregion zur Dienstleis­tungsregion unterworfen, u. a. mit den Folgen wesentlich höherer Ar­beitslosigkeit und Abwanderungsbewegung als in anderen Gebieten Deutschlands. Aufgrund einer extremen wirtschaftlichen Schieflage waren in den Jahren 2005–2008 der damalige Bischof von Essen, Dr. Felix Genn, und sein Generalvikar, Dr. Hans-Werner Thönnes, gezwungen, eine radikale Veränderung gewachsener kirchlicher Struk­turen vorzunehmen. Im Kern beinhaltete diese Strukturreform die Zusammenlegung von damals 259 eigenständigen Pfarrgemeinden zu 43 (Groß-)Pfarreien mit 174 Gemeinden. Erst erfolgte die strukturelle Veränderung, die nach 2008 auch inhaltlich-theologisch mit allen Gläu­bigen reflektiert werden sollte. Bischof Genn wurde jedoch Anfang 2009 nach Münster versetzt. Diese Aufgabe hinterließ er seinem Nachfolger, Dr. Franz-Josef Overbeck, dessen Amtsantritt Ende 2009 mit der Aufde­ckung der Missbrauchsskandale zusammenfiel. So hat der Bischof von Essen im Jahr 2011 begonnen, im Bistum Essen einen Weg des Dialogs zu gehen: „Mein Wunsch ist es, dass wir im Miteinander-Sprechen Wege finden, um die in Teilen spürbare Lähmung und Resignation zu über­win­­den. Die Veränderungen der letzten Jahre machen vielen in unse­rem Bistum schwer zu schaffen. Die strukturellen Umbrüche sind dabei nur ein äußeres Zeichen für das Ende einer kirchengeschichtlichen Epoche“ (Overbeck 2011, 82).

Die Krisenerfahrungen der vergangenen Jahre innerhalb der Kirche haben dazu geführt, dass die Ahnung Karl Rahners aus dem Jahr 1966 sich erfüllte, „daß es nun auf alle und jeden ankommt“ (Rahner 1971b, 332).

Im Folgenden möchte ich deutlich machen, dass das aus dem zwischen Sommer 2011 und 2013 durchgeführten Dialogprozess entstandene Zu­kunftsbild im Bistum Essen in einer breit verständlichen Begrifflichkeit des 21. Jahrhunderts versucht zu realisieren, was das II. Vatikanische Konzil und die Theologie Karl Rahners beinhalten, nämlich: Kirche in der Welt von heute zu sein.

Das Zukunftsbild als Ergebnis des Dialogprozesses wurde durch Bischof Overbeck und Generalvikar Pfeffer am 13. Juli 2013 verkündet. Dieses Zukunftsbild enthält sieben Begriffe, beginnend mit dem Begriff „be­rührt“. In der Erläuterung dieses Adjektivs scheint das Kirchenbild des Zweiten Vatikanischen Konzils, von dem Rahner prophezeite, dass es Jahre der Wirksamwerdung brauche und die Erfahrung der Krise, damit es zur wirklichen Realisation komme, gleich zu Beginn auf: „Im Bistum Essen leben wir aus der Berührung Gottes in Taufe und Firmung. Zu glau­ben heißt für uns, in lebendiger Beziehung mit Gott zu stehen. Dies ist der Antrieb unseres Christseins und die Erfahrung, die wir weiter zu geben haben … Um eine berührte Kirche zu werden, entdecken wir unsere in der Taufe begründete Berufung als Christinnen und Christen neu und nehmen sie ernst“ (Zukunftsbild, berührt).

In dieser Orientierung für „Kirche-Sein im Bistum Essen“ steckt noch eine weitere These Karl Rahners aus der unmittelbaren Nachkonzilszeit, in der er die Subjektwerdung des Glaubens in jedem Christen für unver­zichtbar hielt, damit der Glaube in den Zeiten von Post- und Spätmo­der­ne lebendig und glaubhaft sein kann: „Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im Voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird, die bisher übliche religiöse Erziehung also nur noch eine sehr sekundäre Dressur für das religiöse Institutionelle sein kann. Die Mystagogie muß von der angenommenen Erfahrung der Verwiesen­heit des Menschen auf Gott hin das richtige ‚Gottesbild‘ vermitteln, die Erfahrung, daß des Menschen Grund der Abgrund ist: daß Gott wesent­­­lich der Unbegreifliche ist …“ (Rahner 1971a, 22).

Die weiteren sechs Begriffe des Zukunftsbildes versuchen ebenso in ei­­­ner möglichst einfachen Sprache, die Theologie und das Kirchenver­ständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils für das Handeln der Kirche im Ruhrbistum bestimmend werden zu lassen.

Aus dem Berührt-Sein von Gott in der Taufe, „das für alle die Grundlage ihres Christseins in allem und jedem ist“ (Rahner 1971b, 333), folgt ein „wacher Blick für die Wirklichkeiten an unserem Wohnort, in unseren Städten, in unserer Region. Wir sind aufmerksam für alle Menschen, die mit uns leben“ (Zu­kunftsbild, wach). Jeder der sieben Begriffe des Zu­kunftsbildes wird bewusst nicht nur mit einem Text aus dem Evange­lium verdeutlicht, sondern erfährt ergänzend eine Erläuterung durch ein Zitat aus der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“.

Kirche hat den Auftrag, immer neu die Botschaft des Evangeliums in­kar­natorisch, sehr konkret wirksam werden zu lassen. Um das tun zu können, benötigt sie einen wachen Blick auf das Zeitgeschehen, was das Konzil mit dem Begriff „Zeichen der Zeit“ (Gaudium et spes 4) beschrie­ben hat. In den Zeichen der Zeit spricht Gott zu uns. Sie gilt es im Licht des Evangeliums zu deuten (Gaudium et spes 4). Rahner drückt dies so aus: „Weil das Heil im Fleische Christi kommt, und weil der Mensch heil werden soll in und durch alle Dimensionen seines Daseins hindurch, in deren gegenseitiger Interferenz und gegenseitiger Abhängigkeit, darum muß Gnade leibhaftig, geschichtlich und gesellschaftlich werden. Und wenn sie das wird, dann heißt sie Kirche“ (Rahner 1971b, 335).

Ein für viele schillernder Begriff ist der dritte im Zukunftsbild des Bis­tums Essen: „vielfältig“. Diesen Begriff nenne ich deshalb schillernd, weil er in der Gefahr steht, zur Rechtfertigung von allem und jedem im kirchlichen Handeln zu dienen. Das Zukunftsbild setzt aber nicht gel­ten­des kirchliches Recht außer Kraft. Vielfältig meint nicht beliebig. Auch hier ist entscheidend, die Theologie der Pastoralkonstitution als Folie dieses Begriffs zu nehmen. Das Konzil hat bewusst die Komplexität und Vielfältigkeit modernen Lebens im 20. Jahrhundert in den Blick ge­nommen. Diese Komplexität und Vielfalt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten noch vergrößert. Nimmt man allein das Phänomen der technischen Beschleunigung, so fühlen wir alle instinktiv, was eine The­se so beschreibt, dass die „Geschwindigkeit der Kommunikation um den Faktor 107, die des Personentransports um 10² und die der Datenverar­bei­­tung um 106 gestiegen“ sei (Rosa 2013, 20). Die Auswirkungen sol­cher Beschleunigungsprozesse auf das soziale Leben – einschließlich des kirchlichen Lebens – sind enorm. Auch auf Glaubensverständnis und Glaubensvollzug haben solche massiven Veränderungsprozesse im Le­ben der Menschen erhebliche Wirkungen. Vielfältigkeit zeigt sich in der Ruhrregion auch darin, dass hier seit vielen Jahrzehnten und zukünftig noch verstärkt Menschen unterschiedlichster Kulturen, Religionen und Nationen zusammenleben. Schon heute leben knapp 150 000 Katho­liken anderer Muttersprachen im Bistum Essen.

Für Rahner ist der Sinn und das Ziel von Kirche zu allen Zeiten, „daß nämlich der Mensch, je ich, Gott mehr liebe, glaubender, hoffender, liebender zu Gott und den Menschen werde, besser Gott ‚im Geist und in der Wahrheit‘ anbete, die Finsternis des Daseins und den Tod williger annehme, seine Freiheit freier auf sich nehme und bestehe“ (Rahner 1971a, 12). Das kann nur gelingen, wenn die heutigen prägenden Lebens­bedingungen und Lebensformen wahr- und ernstgenommen werden. Ein Glaube, der wesentlich bestimmt ist von der Überzeugung, dass „Gott die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen einzigen Sohn für sie dahingab“ (Joh 3,16), kann die Prägungen heutigen Lebens nicht übergehen.

Aus der Vielfalt menschlicher Lebensprägungen ergibt sich, dass die Christinnen und Christen in der Kirche sich als „lernend“ verstehen. Rahner formulierte: „Gott kommt mit seiner Gnade auch dort an, wo kein eigens errichteter Altar Gottes steht. Wenn Gott selbst nach dem II. Vatikanum auch noch das Heil dessen sein kann, der meint, in wirkli­cher Redlichkeit und so in Unschuld ein Atheist sein zu müssen, dann kann er auch im Leben des Christen noch dort sein, wo ohne ausdrück­liche Frömmigkeit das weltliche Leben fröhlich, frisch, ernst und tapfer gelebt wird“ (Rahner 1971a, 24). Erzbischof Zollitsch stellte 2010 als eine bittere Erkenntnis aus dem Missbrauchsskandal fest: „Man sagt über die Kirche – und meint oft konkret uns Bischöfe –, wir würden zu sehr als Wissende und Lehrende und zu wenig als Lernende auftreten, meist als Sprechende und selten als Hörende. Man wirft uns mangelnde Lernbe­­­reitschaft vor und sagt, unsere eigene Lebenswelt sei zu weit entfernt von der Lebenswelt der Menschen, sowohl in der Kirche als auch ins­gesamt der Gesellschaft. Dahinter steht der Eindruck, wir seien zu wenig vertraut mit der Welt als unserer Heimat in der Fremde. Oder auch die Einschätzung, wir würden sie auf Distanz halten, um nicht ihre Aporien und Tragödien erkennen und nicht die Konstrukte der Realität aufgeben zu müssen, denen unsere Zeitgenossen Realitätsferne beschei­nigen“ (Zollitsch 2010, 4f.). Es ist darum kein Zufall, dass das Partizip Präsens „lernend“ genau in der Mitte der sieben Begriffe des Zukunfts­bildes steht.

Wer lernend unterwegs ist, versteht sich als von Gott gesendet. „Gesen­det“ ist darum der fünfte Begriff des Zukunftsbildes. Kirche ist nicht Selbstzweck, sondern hat einen Auftrag von Jesus Christus. Er hat Män­ner und Frauen in seiner Nachfolge ausgesandt, die Botschaft vom Le­ben in Fülle (Joh 10,10), das er durch seine Hingabe seines Lebens er­öffnet hat, in Wort und Tat zu bezeugen. Dieses Verständnis von Gesen­det-Sein hat bereits Rahner in seiner theologischen Sprache so formu­liert: „Sendung des getauften Laien in die Aufgabe der Kirche sagt zuerst und zuletzt nicht ein frommes Sonntagsvergnügen …, sondern sagt das radikale, alles revolutionierende Bewußtsein davon, daß ein Ge­taufter, wenn er in seinem ganz normalen Beruf, in seiner Familie, in seiner Ge­meinde, in seinem Volk und Staat, in seinem menschlichen und kultu­rellen Milieu lebt und steht, er genau da eine unendliche Aufgabe als Christ hat, nämlich da die Gottesherrschaft der Wahrheit, der Selbst­losigkeit und der Liebe sich durchsetzen und so die Kirche in ihrem eigentlichsten Wesen anwesend sein zu lassen“ (Rahner 1971b, 340). Das Zukunftsbild von 2013 drückt es so aus: „Im Bistum Essen haben wir eine zentrale Sendung: Gott zu verkünden. Das Versprechen, alle Tage bei uns zu sein, hält Gott auch hier und heute. Unsere Aufgabe ist es, den Glauben an Gottes Gegenwart zu ermöglichen“ (Zukunftsbild, ge­sendet). Sehr konkret werden unter diesem Stichwort Forderungen ge­stellt, die deutlich machen, dass wir nicht „Herren über den Glauben der Menschen sind“ (vgl. 2 Kor 1,24), sondern Glauben ermöglichen wollen. Gott selbst ist bei jedem Menschen bereits am Werk. Vor allem werden Forderungen bezüglich einer verständlichen Sprache in Ver­kündigung und Liturgie gestellt und nicht zuletzt die Verbindung von Glaubens- und Lebenswelt wird angemahnt. Hier geschieht der Über­gang zum nächsten Begriff: „wirksam“. Der Glaube muss wirksam wer­den im Leben der Christen. Rahner erkannte bereits, dass die Welt sich im 20. Jahrhundert massiv verändert hat, und dass diese Verände­run­gen sich fortsetzen. Unter diesen Veränderungen hat der Christ wirksam zu sein: „Der Mensch lebt nun einmal nicht nur in einer vorgegebenen Welt, heute macht er sie. Dadurch sind ihm Möglichkeiten, Aufgaben, Verantwortungen und Gefahren zugemutet, die es früher einfach nicht gab. Christliche Frömmigkeit von morgen wird auch auf diesem Gebiet gelebt. … Wenn das II. Vatikanum die Christen mahnt, ihre Aufgabe in der Welt von heute zu sehen, mitzuarbeiten mit allen an der Erbauung einer größeren, freieren, menschenwürdigeren Welt, Verantwortung und Mut zu haben …, dann paßt sich die Kirche nicht in Verrat ihrer Botschaft von Kreuz, Demut und Verlangen nach dem Ewigen einer säkularistisch gewordenen Welt an, sondern befiehlt ihren Gläubigen christlich ihre Aufgabe wahrzunehmen, die es früher so nicht gab, aber jetzt gibt …“ (Rahner 1971a, 25f.). Die gleiche Herausforderung wird im Zukunftsbild benannt, wenn es dort unter „wirksam“ heißt: „Wir sind keine Zuschauerinnen und Zuschauer bei der Verbesserung von Lebens­bedingungen, sondern treiben diese aktiv und nachhaltig voran.“

Die Theologie Karl Rahners ist wesentlich bestimmt von der Erfahrung der Unbegreiflichkeit Gottes, der sich dem Menschen in seiner Mensch­werdung in Jesus gezeigt hat, ihm „nahe“ gekommen ist und ihn erlöst hat. Die Nähe Gottes – bei aller Unbegreiflichkeit Gottes – zu bezeugen, ist wesentliche Aufgabe der Kirche. Nähe kann nur wirksam vermittelt werden, wenn jede/jeder Getaufte als Teil von Kirche diese Nähe sehr konkret vermittelt. Hier schließt sich der Kreis zum ersten Begriff „be­rührt“. „Überall wirken Getaufte“ (Zukunftsbild, nah) als von Gott Be­rührte. Rahner hat dies vor 50 Jahren so ausgedrückt, „daß der Christ, weil und insofern er Glied der Kirche ist, an seinem Weltplatz kraft sei­ner Taufe den Sieg der Gnade, der Liebe und des Glaubens, das Ange­kommensein des Reiches Gottes zu repräsentieren habe (und) für diese ewigen Wirklichkeiten des Heiles verantwortlich zeichne in der Welt“ (Rahner 1971b, 341). Was unter dem Stichwort „nah“ an sehr konkreten Realisierungen benannt wird, u. a. die Etablierung eines modernen Ehrenamtskonzeptes, ist im 21. Jahrhundert eine Realisierung dessen, was „Lumen gentium“ und „Gaudium et spes“ benannt haben und Rahner so formuliert hat: „Jeder Christ ist durch die Taufe und durch alle anderen Sakramente mitverantwortlich an der Aufgabe der Kirche: daß durch sie die Gnade Gottes greifbar und überzeugend da sei in der Welt, die durch die Liebe Gottes erlöst ist und doch noch erlöst werden muß dadurch, daß sie diese Tatsache ihrer Erlöstheit erfährt und an­nimmt … Der Laie in der Kirche ist kein Laie, sondern – ein Christ“ (Rahner 1971b, 349f.).

Seit dem 21. März 2015 sind die ersten Ehrenamtskoordinatoren in sechs Pfarreien des Bistums Essen tätig, um mit Hilfe von zeitgemäßen Formen ehrenamtlichen Engagements gemeinschaftliches Leben im Sinne des Evangeliums vor Ort zu realisieren. Am 20. Mai 2015 sind erstmalig sechs ehrenamtliche Frauen und Männer beauftragt worden, den Dienst an den Verstorbenen auf ihrem letzten irdischen Weg und an den trauernden Angehörigen zu tun. Ab Spätsommer dieses Jahres er­mu­tigen wir Gruppen und Initiativen in den Pfarreien unseres Bistums mit anderen Akteuren vor Ort, durch ganz konkrete Projekte – bewusst auch ökumenisch – das Zukunftsbild Wirklichkeit werden zu lassen, in dem es nicht zuletzt darum geht, die Lebensbedingungen aller Men­schen in den Ortsteilen unseres Bistums zu verbessern, gemeinsam mit vielen Menschen guten Willens. Hierfür stellt das Bistum 6 Millionen Euro bis Mitte 2018 in einem „Pastoralen Innovationsfonds“ zur Verfügung.

Vieles hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren in unserer Gesell­schaft und in der Kirche verändert. Damals war es in unseren Breiten, auch im Bistum Essen, wesentlich selbstverständlicher, an den Gott Jesu Christi zu glauben und aus diesem Glauben seinen Alltag zu ge­stalten. Die Konzilsväter und die Theologen vor allem in der westlichen Hemisphäre erahnten, dass diese Selbstverständlichkeit in den kom­men­den Jahrzehnten so nicht mehr existieren wird. Die neueste Studie von Detlef Pollack zeigt das. Der Glaube wird nicht mehr vererbt, son­dern muss von jedem und jeder immer wieder neu in seinem Leben existentiell bejaht und umgesetzt werden. Karl Rahner gehörte zu denen, die das früh erkannten und daraus Folgerungen formulierten. Das Bistum Essen versucht, diese Heraus- und Anforderungen anzuneh­men und mit Hilfe eines Zukunftsbildes – angepasst an Sprache und Umstände unserer Zeit – umzusetzen, was vor 50 Jahren bereits for­muliert und gefordert wurde.

Karl Rahner wusste, dass theologische Beschlüsse von Konzilien in der Realisation sehr viele Jahre brauchen werden. Er ahnte, dass vor allem Krisensituationen die Kirche zwingen werden, diese Realisation vorzu­nehmen. Im Bistum Essen wollen wir mit dem Zukunftsbild bewusst aktualisieren, was das Konzil und der damalige Konzilsberater Rahner forderte: Kirche in der Welt von heute zu sein, von Gott durch Jesus Christus im Heiligen Geist berührt, wach im Blick auf Welt und Zeitge­schehen, vielfältig im Tun, lernend im Dialog mit den Menschen, ge­sendet die Gnade Gottes wirksam werden zu lassen, die schon am Werk ist, noch bevor wir als Christen tätig werden, und nah bei den Men­schen, weil Gott uns und allen Menschen in Jesus nahe gekommen ist und uns befreit hat. In der Realisierung seiner theologisch-pastoralen Dimension steht das Bistum Essen beim Zukunftsbild erst in den An­fängen. Erste Schritte sind getan, wie das Beispiel von Qualifizie­rungs­maßnahmen für Ehrenamtliche zeigt. Es ist vor allem eine Veränderung in Haltungen und Einstellungen. Das braucht Zeit. Darum werden wei­tere Schritte in den kommenden Jahren angesichts vielfacher Verände­rungen folgen.