Hospiz und Mission – einige Erwägungen in ökumenischem Horizont
1. Theologische und diakoniegeschichtliche Erwägungen
Hospiz ist ein sehr alter Gedanke. Seine Wurzeln finden sich in der mehrtausendjährigen orientalischen Tradition der Pflicht zur Gastfreundschaft. Eine der ältesten biblischen Überlieferungen in diesem Kontext ist der Bericht über die Gastfreundschaft des Abraham gegenüber Gott selber, der hier dem Abraham in Gestalt von drei Männern begegnet (Gen 18,1–8). Abraham interpretiert diese Begegnung als eine unmittelbare Begegnung mit seinem Gott: „Herr, habe ich Gnade gefunden vor deinen Augen, so gehe nicht an deinem Knecht vorüber“ (V. 3). Als Knecht der drei Besucher nimmt sich Abraham wahr und dient ihnen in vollumfänglicher Weise. „Ich will euch einen Bissen Brot bringen, dass ihr euer Herz labet“ (V. 5). Und so erleben wir auch Jesus Christus in seinem Gleichniswort über das Weltgericht (Mt 25,31–46). Er erzählt dort, dass in der Begegnung mit Menschen (in Not) Gottesbegegnung stattfindet. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (V. 40b).
Diese beiden biblischen Belege weisen uns hin auf das Wesen der mittelalterlichen „Hospizarbeit“. Gerade durch Mönchsorden – aber nicht nur durch diese – wurden Hospitäler begründet; vielfach an den Wegrändern der Kreuzzüge. Ihr Ziel war es, die Zurückgebliebenen, die Kraftlosen und Kranken zu stärken und zu stützen und wieder auf eigene Beine zu stellen oder aber diese in ihrem Siechtum und Sterben nicht allein zu lassen. Brot fürs Herz wollten diese Häuser bieten – heute würden wir von ganzheitlicher Zuwendung sprechen.
Eine spannende Beobachtung bei alledem ist, dass Mission im „klassischen“ Sinne des Missionsbefehls (Mt 28,18–20 – „Jünger machen“) gar nicht gedacht wird. Es geht hier vielmehr darum, dass ich mich Gott zuwende, indem ich mich für den Nächsten in seiner Not öffne. Es geht hier sozusagen um das tätige Christentum – sehr wohl aber um die persönliche Beziehung des Handelnden zu seinem Gott: „Herr, habe ich Gnade gefunden …“ (s. o.).
Um nun die „neuzeitliche“ Hospizarbeit in den Blick zu nehmen, werden wir auch hier nicht umhinkommen festzustellen, dass Hospiz in erster Linie ein Hinwenden zum Bedürftigen ist. Am Anfang der modernen Hospizbewegung steht sicherlich die Krankenschwester und Ärztin Cicely Saunders. Indem sie für die Hospizbewegung den Leitspruch Alexis Carrels „Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben zu geben“ zum Motto machte, wird deutlich, dass es Saunders darum ging, sich in ihrem Tun an den Bedürfnissen der ihr Anbefohlenen zu orientieren.
Damit ist Hospizarbeit in diesem Sinne mehr Reaktion denn Aktion. Not wird gesehen und es wird nach Wegen des adäquaten Reagierens gesucht – sind diese gefunden, wird gehandelt. Damit bewegt sich die Hospizbewegung im Rahmen modernen Wohlfahrtshandelns.
Johann Hinrich Wichern und Friedrich von Bodelschwingh als zwei prägende Gestalten in der Geschichte der Diakonie genauso wie Lorenz Werthmann als Begründer des Deutschen Caritasverbandes waren „Reagierer“. Sie sahen sich mit den Nöten der Menschen ihrer Zeit konfrontiert – und hier standen die Nöte in Folge der Industrialisierung im Zentrum – und suchten nach Wegen, diesen zu begegnen. Ausgangspunkt dieses Handelns ist dabei immer die zutiefst christliche Überzeugung, im Nächsten Gottes Ebenbild (Gen 1,26) und somit ebenfalls ein geliebtes Geschöpf Gottes zu erkennen.
Ob Abraham oder das Gleichnis vom Weltgericht, ob Cicely Saunders, Wichern, von Bodelschwingh oder Werthmann – am Anfang des Tuns stand die Begegnung mit der Not, den wahrgenommenen Bedürfnissen. Wenn wir nun den Begriff der Mission in den Kontext hospizlichen Arbeitens einführen, bekommt dieses Feld eine neue Konnotation. Als Gründungsdatum der deutschen Diakonie gilt der Evangelische Kirchentag zu Wittenberg vom 21. bis 23. September 1848, als in Folge einer Rede Wicherns der Central-Ausschuss für Innere Mission gegründet wurde. In Folge der Kriege der vorangegangenen Jahrzehnte war in Deutschland gerade in den Städten eine verarmte und kirchenferne Bevölkerungsschicht entstanden. Wichern und vielen seiner Mitstreiter war es ein Anliegen, diese Menschen wieder in die Mitte der Gesellschaft (das bedeutete in Zeiten des landesherrlichen Kirchenregiments auch: in die Kirche zurück) zu holen; und dies sollte in materieller wie geistlicher Hinsicht geschehen – deshalb wurde die in der Wittenberger Rede skizzierte Aufgabe analog zur (Welt-)Mission Innere Mission genannt. Die Innere Mission sollte eine Antwort auf die von der industriellen Revolution aufgeworfene soziale Frage des 19. Jahrhunderts sein. Für Wichern war dabei die kirchliche soziale Arbeit gleichzeitig eine zeitgemäße Form der Evangelisation, die auf den modernen, dem christlichen Glauben entfremdeten Großstadtmenschen ausgerichtet war. Wenn damals Rettungsanstalten für Trinker, für Knaben und für Sieche gegründet wurden, dann ging es hier um Rettung im doppelten Sinn. Die Gründungsgeschichte der Caritas weist ebenfalls diese doppelte Ausrichtung in ihrem Tun auf.
2. Praktische Erfahrungen
Ausgangspunkt für die Gründung ambulanter und stationärer Hospize ist in der Vergangenheit in der Regel die Wahrnehmung einer Not gewesen. Im Fall des christlichen Hospizes „Haus Geborgenheit“, das der Verfasser mit aufgebaut hat, war es die Not der Pflegekräfte eines evangelischen Krankenhauses, in einer Phase vermehrter Sterbefälle ihren sterbenden Patienten nicht ausreichend gerecht werden zu können. Gemeinsam entwickelten Leitung und Mitarbeitende vor diesem Hintergrund die Idee, ein stationäres Hospiz in Ergänzung zu dem bereits vorhandenen Hospizdienst aufzubauen. Als konfessioneller Träger in Mitteldeutschland – einer weitgehend entkirchlichten Region – war es uns von Anfang an wichtig, einerseits sämtliche mögliche kirchliche Mitstreiter in Konzeption und Vorbereitung mit einzubinden und andererseits in allen Planungsschritten mit im Blick zu haben, dass die meisten Menschen, für die wir unser Hospiz öffnen, zunächst einmal keinen Bezug zu Kirche und Glauben haben.
Vor dem Hintergrund dieser beiden Momente wurden frühzeitig zwei Entscheidungen getroffen:
- Neben unserem „Evangelischen Fachkrankenhaus“ wurde ein „Christliches Hospiz“ entwickelt. Von vornherein war klar, dass unsere Motivation im Namen der Einrichtung ablesbar sein sollte. Weiter wollten wir mit diesem Attribut deutlich machen, dass in diesem Projekt Christen verschiedener Denominationen engagiert sind. Es wurde dabei Kontakt aufgenommen in Richtung evangelischer Kirchenkreis und dessen Gemeinden genauso wie in Richtung der katholischen Gemeinden. Auch die evangelischen Freikirchen vor Ort wurden auf das Projekt hingewiesen.
- Weiter wurde entschieden, im christlichen Hospiz auch dann, wenn die meisten Gäste ohne kirchlichen Hintergrund sein würden, christlich geprägte Angebote zu unterbreiten. Neben der Seelsorge ging es hier um Gottesdienste/Andachten sowie das Angebot von Aussegnungen und entsprechend geprägten Gedenkfeiern. All diese Angebote sollten dabei aber einen zurückhaltenden, dennoch durchaus einladenden Charakter haben und vor allem dazu einladen, sich mit den eigenen oftmals verschütteten geistlichen Bedürfnissen auseinanderzusetzen.
So galt es vor dem Hintergrund dieser Entscheidungen zu klären, wie die spezifisch christliche Arbeit eines Hospizes aussehen würde. Andachten halten, geistliche Angebote vorhalten, Gäste und Angehörige einladen, am ganzen Leben im Haus teilzuhaben, ist das eine. Wie aber füllen wir diese Angebote? Denn eines war auch klar: Den Gästen eines Hospizes und auch ihren Angehörigen gilt es unbedingt mit Respekt zu begegnen; mit Respekt gegenüber ihren Lebensleistungen – aber auch, und das gehört in unseren Zusammenhang: mit Respekt vor ihrer Weltanschauung, ihrem Glauben. Dieser Respekt sollte unser Handeln leiten. Dabei galt es folgenden Spagat auszuhalten: Einerseits soll jeder Besucher des Hospizes mit seiner Art zu glauben und zu leben willkommen sein – andererseits soll auch (unaufdringlich) eingeladen werden zur Teilhabe am geistlichen Leben im Haus. Als christlicher Betreiber war es uns dabei wichtig, solche Angebote zu entwickeln, die auch für kirchenferne Menschen gut annehmbar sind und dennoch klar auf die Perspektiven des christlichen Glaubens verweisen.
Dieser Prozess wurde gemeinsam mit den Mitarbeitenden im Hospiz (die bei Weitem nicht alle konfessionell gebunden sind) und den Freunden aus der regionalen Hospizarbeit gestaltet. Dabei haben evangelische und katholische Christen, Kleriker und Laien bzw. Hauptamtliche und Ehrenamtliche, gemeinsam nach Wegen gesucht, wie die Begegnung mit den Gästen des Hospizes und ihren Angehörigen unter diesen Vorgaben geschehen kann. So wird heute die seelsorgerliche Begleitung der Hospizgäste durch einen katholischen und einen evangelischen Mitarbeiter abgesichert. Ebenfalls werden z. B. Angebote wie Aussegnung und Erinnerungsfeier in ökumenischer Weite gestaltet. Hier ist es das Ziel, die Angebote so auszurichten, dass sie nicht nur Christenmenschen eine Hilfe sind, sondern auch darüber hinaus Hilfe bei der Lebensdeutung sein können. Hier zeigt nun die Resonanz von Gästen und Angehörigen, dass es in den vergangenen Jahren gelungen ist, Angebote zu kreieren, die tatsächlich hilfreich sind. Allerdings – und das muss in diesem Zusammenhang auch Erwähnung finden – missionarisch im Sinne von Mt 28 wird eine solche Arbeit eher nicht sein, zumindest werden die Wirkungen solcher spirituellen Begleitung nicht eindeutig sichtbar.
3. Gemeinsame Mission
Nähern wir uns dem Thema noch einmal aus einer anderen Richtung und fragen wir nach der gemeinsamen Mission (oder vielleicht besser: Passion – mehr im Sinne von Leidenschaft als von Leiden), die Menschen verschiedener Denominationen und darüber hinaus in der Hospizarbeit verbindet. Dabei ist dann noch voranzustellen, dass in der Bundesrepublik Deutschland nur etwa die Hälfte aller stationären Hospize in kirchlicher Trägerschaft sind (lt. Caritas-Statistik per 31.12.2012 60 in katholischer und per 1.1.2012 47 in evangelischer Trägerschaft). Von den rund 1500 ambulanten Hospizdiensten werden sogar nur etwa 18 % durch die Kirchen getragen.
Bedeutet dies, dass Hospiz-Arbeit in Deutschland durch die Kirchen und ihre sozialen Dachverbände nicht als vordringliche Aufgabe wahrgenommen wird? Diesen Schluss könnte man ziehen, wenn man die reinen Zahlen betrachtet. Führt man sich aber die bundesdeutsche Hospizszene vor Augen, dann wird man bald feststellen, dass Hospiz als bürgerschaftliches Engagement in einer ganz großen Breite durch Menschen mit christlicher Prägung getragen wird – auch in den vielen Einrichtungen, die nicht in kirchlicher Trägerschaft sind. Der Schluss, der sich aus den oben genannten Zahlen ziehen lässt, kann höchstens lauten, dass auch dem kirchlich getragenen Bereich der Sozialwirtschaft zu einer Zeit, als die Hospizfinanzierung noch ungewiss war (vor der Einführung einer gewissen Refinanzierung hospizlicher Arbeit 1997 durch den § 39a SGB V), schlicht der Mut oder die Kraft gefehlt hat, sich in diesem Bereich zu engagieren.
Und an dieser Stelle kommt dann die Mission oder Passion vieler zum Tragen. Wie in den Jahrhunderten und Jahrtausenden zuvor gab es Menschen, die Not und Bedürfnisse sahen und danach handelten. Sie konnten nicht mit ansehen, wie in unserer Gesellschaft Tod und Sterben marginalisiert wurden. Sie wollten das Sterben zurück in die Mitte der Gesellschaft, zurück ins Leben holen. Verbunden durch diese Leidenschaft bildeten sich zumeist Vereine, in denen Wege nach einer „modernen“ Sterbebegleitung gesucht wurden; die ambulanten Hospize entstanden. Ganz ähnlich vollzog sich die Entwicklung der ersten stationären Hospize. Da waren Menschen, deren Herzen brannten dafür, in unserer Gesellschaft wieder neu Räume zu schaffen für Sterbende und ihre Angehörigen. Und mit dieser Mission im Herzen – und wie gesagt auch oft geprägt durch die eigene christliche Lebensgrundhaltung – zogen sie durchs Land und bildeten bald eine große Bürgerbewegung, die in vielfältiger Weise ihre Ideen bekannt machte.
4. Hospiz ist Haltung
Leidenschaft und Sendung, das sind die beiden Stichworte, die den Treibstoff dieser Bewegung darstellen. Verbunden sind alle Hospizler durch die sie einende Überzeugung, dass es zutiefst menschlich ist, einander im Leben und Sterben zur Seite zu stehen, Sterbende und ihre Angehörigen auf diesem Weg nicht alleine zu lassen, sondern sie vielmehr auf diesem Weg zu begleiten. Hierin drückt sich das aus, was vielfach als Hospiz-Kultur beschrieben wird oder auch dadurch zum Ausdruck gebracht wird, wie das ein Leitfaden für die ehrenamtliche Hospizarbeit überschreibt: Hospiz ist Haltung (Bödiker/Graf/Schmidbauer 2011).
Abschließend möchte ich nun noch versuchen zu beschreiben, was mit Kultur bzw. Haltung gemeint ist. Beide Begriffe stehen für das, was hinter einem bestimmten Handeln steht, sind in unserem Zusammenhang also als Metabegriffe zu fassen. Kultur steht für das, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt. Hierzu gehören neben Ackerbau und Viehzucht (Agrikultur) auch Technik und bildende Kunst (Hochkultur) sowie die vorherrschenden Gesellschaftswissenschaften und die Religion. Diese Kultur, in die der Einzelne hineingestellt ist, führt schließlich dazu, dass Menschen Haltung einnehmen. Dass nun ein Kulturkreis unterschiedliche Haltungen hervorbringt, können wir derzeit u. a. in der Diskussion um den „assistierten Suizid“ ablesen. Dies weist darauf hin, dass Kultur kein monolithischer Block ist, sondern vielmehr etwas sehr Lebendiges, in dem es ganz verschiedene, durchaus auch einmal gegenläufige Strömungen geben kann. Dabei zeigt die Begriffskombination Hospiz-Kultur an, dass es sich hier um eine besondere Strömung handelt. Und diese kommt dann in der Haltung der einzelnen „Kulturteilhaber“ zum Ausdruck.
Haltung kann nur jemand einnehmen, der in seinem eigenen Leben Halt gefunden hat, über ein eigenes Lebensfundament, eine eigene Lebensgrundlage verfügt. Und die Pflege einer solchen Lebensgrundlage vollzieht sich im Kult oder Kultus – womit zunächst einmal Religionsausübung gemeint ist, was durchaus aber auch Pflege von Weltanschauung implizieren kann (dies wird deutlich in dem Begriff der Jugendweihe, die bewusst jenseits des Religiösen angesiedelt sein will, aber an einem klassischen Kult-Begriff nicht vorbeikommt).
Entscheidend bei alledem ist dann aber, dass wir uns dieser Haltung vergewissern. Dabei ist Hospiz dann durchaus etwas, das die Grenzen zwischen Religionen und Weltanschauungen überwindet, da die gemeinsame Haltung zum Thema Tod, Sterben, Sterbebegleitung vielleicht unterschiedliche Ursachen, Fundamente oder Überzeugungen hat, dabei aber Menschen zusammenführt, die gleiche Ziele vor dem Hintergrund unterschiedlicher Grundlagen verfolgen.
5. Fazit
Dabei gelangen wir dann zu einer Art Ökumene der Weltanschauungen und Religionen in dieser einen Frage. Menschen bewegen und prägen gemeinsam eine Gesellschaft und ihre Kultur. Viele Tausend Menschen versuchen an einer bestimmten Stelle, nämlich im Umgang mit den Fragen um Tod und Sterben, in unserer Gesellschaft ein Umdenken zu gestalten, Kultur zu prägen.
Die Gründerväter der modernen Ökumene im 20. Jahrhundert hatten damals zu Recht entschieden, zunächst zwei Organisationen zu gründen, von denen sich eine zunächst nur um die Fragen von Glaubenslehre und Kirchenordnung (faith and order) kümmern sollte, da man hier einen sehr langen und schwierigen Weg erwartete. Die zweite Organisation, und hier war man sehr viel optimistischer, was das Erreichen von Ergebnissen anbelangte, sollte nach gemeinsamen Wegen im gelebten praktischen Christentum suchen (life and work).
Und als eine solche, vielleicht noch etwas weiter gedachte Ökumene stellt sich mir die Hospizbewegung mit ihrer besonderen Kultur und Haltung dar. Hier haben sich Menschen mit durchaus ganz verschiedenen Lebensfundamenten zusammengefunden, um gemeinsam in einem Feld, nämlich der Hospizarbeit, das Leben in unserer Gesellschaft voranzubringen, ihr vielleicht sogar ein menschlicheres Antlitz zu verschaffen.