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Herunter-gekommen: Zur Mystik des Dialogs

Reflexion über den Dialog mit Religionsfreien

Mit der Entscheidung, Nicht-Religiöse in ihren inneren Kreis aufzunehmen, hat sich die Fokolar-Bewegung einem Dialog mit säkularen Zeitgenossen ver­pflichtet. Die Spiritualität der Bewegung führt dazu, diese Ökumene der „drit­ten Art“ als etwas wahrzunehmen, das bereichert und zu einem gerei­nig­ten Christuszeugnis beiträgt. Dieser Dialog und die Form der Zugehörig­keit durch Identifizierung mit den Zielen der Bewegung weist hin auf neue Formen der anregenden Zeitgenossenschaft von Christen und Nicht-Christen.

Weltweit stehen etwa 12.000 Religionsfreie in Kontakt mit der Fokolar-Bewegung, etwas über 200 von ihnen identifizieren sich mit den Inhal­ten, Zielen und Projekten der Bewegung, sie gehören ihr also an. Schwer­punktmäßig finden sie sich im südlichen und östlichen Europa und Lateinamerika. Ansätze gibt es auch anderswo, etwa in Südost­asien. In meinen weiteren Ausführungen beziehe ich mich auf den engeren Kreis von Atheisten und Agnostikern innerhalb der Fokolar-Bewegung.

Zeit meines Lebens stand ich immer wieder in der Auseinandersetzung mit von der Säkularität geprägten Milieus und Personen. Im Jahr 1998 ergab sich aus einer glücklichen Fügung der Kontakt mit Führungsper­sön­lichkeiten der Kommunistischen Partei Österreichs. Daraus ist ein beständiger Dialog zwischen der KPÖ und der Fokolar-Bewegung ge­wachsen. Von 2007 bis Ende 2014 war ich als Mitglied des Generalrates der Fokolar-Bewegung in Rom für den Dialog mit Menschen nichtreli­giöser Weltanschauung zuständig. Mein reflektierter Erfahrungsbericht kann sich eine Länder übergreifende Perspektive zunutze machen und wird einige von diesen Menschen direkt zu Wort kommen lassen.

Gibt es für Säkularität und Christentum einen gemeinsamen Sinnhorizont?

Nach meinem Studium hatte ich den Zivildienst in einem Krankenhaus abgeleistet, das wenige Jahre später wegen mehrfacher Morde an Pati­en­ten traurige Berühmtheit erlangen sollte. Die damaligen Geschehnis­se waren für mich keine wirkliche Überraschung, war doch das Wertege­füge der Anstalt schon Jahre zuvor hoffnungslos ausgehöhlt gewesen. War die Ursache vielleicht auch der Mangel jeglichen religiösen Hinter­grundes? Nach diesem Super-GAU drückte der säkulare Krankenhaus­träger jedenfalls die Reset-Taste und stellte das Haus komplett neu auf.

Jahrzehnte später landete ich selbst in diesem Krankenhaus als Patient auf der Intensivstation. Mit dem Wiedergewinn der Wahrnehmungs­fähigkeit wuchs mein Erstaunen: unaufdringlicher Fleiß, zielstrebige Zusammenarbeit in flacher Hierarchie, grenzüberschreitendes Mitein­ander von Ärzten und Pflegepersonal, davon fast zwei Drittel ‚Auslän­der‘ aus der Slowakei, aus Serbien, Nahost und Südostasien, keine Sprachbarrieren, alle beherrschten Deutsch fast perfekt. Vor der Verle­gung in den Bettentrakt interviewte mich die Leiterin der Intensiv­sta­tion anhand eines Fragebogens. Da merkte ich, dass das Qualitätsniveau von Arbeit, Sprachkenntnis und Umgangsformen nicht einem glückli­­chen Zufall geschuldet war, sondern planvoller Absicht entsprang.

Die fünf Tage waren für mich mehr als ein medizinisches Ereignis, sie waren eine starke innere Erfahrung. Am zweiten Tag nach meiner Verle­gung ging der Anstaltsgeistliche von Bett zu Bett. Als letzter in der Reihe bekam ich den stereotypisch frommen Wortwechsel des Seelsorgers mit den Zimmerkollegen mit. Kurz bevor ich an der Reihe war, erlöste mich ein Telefonanruf aus der beklemmenden Erwartung und ich verhehle nicht, dass ich das Telefonat absichtlich in die Länge gezogen habe, bis der Geistliche schlussendlich das Zimmer verließ, ohne mit mir gespro­chen zu haben.

Bis zu diesem Krankenhausaufenthalt waren für mich die Verhältnisse recht klar: Die Liebe kann ein gemeinsamer Sinnhorizont zwischen Christen und Säkularen sein. Das bestätigen nicht nur namhafte Auto­ren von Ludwig von Feuerbach über Karl Marx bis Erich Fromm, ich konnte es auch an meinen nichtreligiösen Freunden sehen. Dazu kommt, dass quantitativ in der Geschichte keine noch so christliche Gesellschaft die Liebe auf so breiter Basis in konkrete gesellschaftliche Formen umgemünzt hat, wie es unserer säkularen Gesellschaft gelun­gen ist: z. B. Solidarität in Gestalt staatlicher Wohlfahrt und des Versi­che­­rungswesens. Trotzdem schrieb ich dem Christentum bis dahin ei­nen qualitativen Mehrwert zu, eine größere Empathie für die Einzelper­son, in Einzelfällen vielleicht größere Opferbereitschaft usw. Diese Unterscheidung kann ich nach der Erfahrung dieser zwei Wochen nicht mehr aufrechterhalten. M. E. können sich säkulare Institutionen auch in diesen Punkten mit vergleichbaren religiösen Einrichtungen messen, ja sie können ihnen an Professionalität sogar ein Stück voraus liegen.

‚Gottlose‘ Glaubensboten

Gott lässt sich keinesfalls Sinn für Humor absprechen, wenn man sieht, wie er bisweilen den Lauf der Dinge fügt. So steht die Wiege der Fokolar-Bewegung in Albanien im Haus des Atheisten Luan Omari, eines Neffen des vormaligen Diktators Enver Hoxha, der sich gerühmt hatte, Ober­haupt des ersten atheistischen Staates der Welt zu sein. Der Verfas­sungsrechtler Luan Omari und seine Frau Donika, eine Übersetzerin, waren bei einem internationalen Kongress in Neapel bei einer Familie einquartiert, die zur Fokolar-Bewegung gehört. Die zunächst rein per­sönliche Freundschaft führte die beiden nun selbst in diese Bewegung. Sie begannen Schriftkommentare der Fokolar-Gründerin Chiara Lubich unentgeltlich ins Albanische zu übersetzen. „Ich glaube nicht, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist, doch seine Botschaft ist auch für mein Leben maß­geblich“, resümiert Luan Omari. Das Ehepaar ist nicht der einzige Fall von Nichtglaubenden, die zu Evangelisierenden geworden sind.

Auch der katalanische Kommunikationstechniker Jordi Illa aus Barcelo­na ist sozusagen ein nicht-religiöser Glaubensbote. In seiner Freizeit lei­tete der brillante Gitarrist eine Band, in der neben anderen auch seine beiden pubertierenden Söhne spielten. Außer Musik versuchte er den jungen Leuten die Inhalte zu vermitteln, die für ihn selber wichtig ge­worden sind. Heute gehören einige Bandmitglieder zum harten Kern der Fokolar-Jugendszene in Barcelona. Jordi Illa erzählt, wie er selber seinen Weg in die Fokolar-Bewegung gefunden hat:

„In mir wuchs das Bedürfnis, Weisheitselemente auszumachen und zu verin­nerlichen, um die letzten Fragen beantworten, meinem Dasein Halt geben und verstehen zu können, warum das WORT so mannigfaltig und wider­sprüchlich zutage tritt. Schließlich stieß ich auf die Weisheit von Chiara Lubich. Das war eine Relecture des Evangeliums, einfach und völlig neu, unterstrichen durch einen stimulierenden Lebensstil. Trotz ihrer Konfes­sions­gebundenheit war diese Frau imstande, mit Menschen anderer Über­zeugung eine Beziehung aufzubauen, sie einzubeziehen. […] In Chiara fließen die Botschaft Jesu und die säkularen Werte zusammen. […] Sie bewirkte, dass religiöse und laizistische Welt zueinander finden und so ein Bezugspunkt entsteht für Glaubende und Nichtglaubende, sofern beide nur aus sich selber herausgehen wollen.“

Der Katalane spricht ein zentrales Dialogmerkmal an: Die Gesprächs­partner gehen aus sich heraus; sie verhandeln oder diskutieren nicht, vielmehr öffnen sie sich, um dem anderen Anteil zu geben am eigenen Leben, an ihren Fragen, Entdeckungen und Erfahrungen. Der andere nimmt das in größtmöglicher Offenheit auf, lässt sich beschenken und schenkt (sich) danach in der gleichen Weise. Auf diesem Weg werden beide mit dem jeweils Besten des anderen bereichert.

Herunter-gekommen (I) – Dialog als Lebensmitte

Sich selbst zum anderen hin zu transzendieren, ist genuine Mystik, in der sogar atheistische Denker wie Ernst Tugendhat ein anthropologi­sches Faktum sehen, während sie Religion für eine Fata Morgana halten. Der italienische Architekt Moreno Orazi beschreibt sein Erleben, das ich fast als ‚Glaube durch Teilhabe‘ bezeichnen würde:

„Sie [Chiara Lubich] hat praktisch ein kleines Wunder vollbracht und uns Nichtglaubende der Liebe Gottes teilhaftig gemacht. […] Gott antwortet nicht dem Einzelnen, sondern der in der Liebe verbundenen Gemeinschaft, jenseits der Identität von Glaube und Kultur eines jeden. So spricht Gott zu allen […]. Um noch klarer zu sein: ich  bin nicht gläubig und nehme als sol­cher an der Dialogerfahrung innerhalb der Fokolar-Bewegung teil. Dabei kann ich etwas von der mystischen Erfahrung erahnen, die Gläubigen wider­fährt. Mehr noch: ich kann in gewisser Weise an ihrem Glaubensleben teil­nehmen. Und umgekehrt: die Gläubigen […] können die Tiefe meiner säku­laren Weltsicht erfahren, meine Werte, meinen gesellschaftsbezogenen An­satz. Das alles in höchstem wechselseitigen Respekt, ohne Proselytismus, ja sogar in der Wertschätzung der Unterschiede.“

Die hier angesprochene ‚mystische Erfahrung‘ bleibt nicht auf die Gläu­bigen begrenzt. Auch die Religionsfreien nehmen eine Art göttlicher Atmosphäre wahr, wenn wir in selbstloser Liebe verbunden sind, in der tiefstmöglichen gegenseitigen Annahme und im ganzheitlichen Schen­ken unserer selbst. Sie spielen darin selbst aktiv mit.

„Gott schafft mir mehr Probleme, als er löst“, sagt der russische Physiker Yuri Pismak. Doch das Unendliche ist für ihn ein Grenzbegriff, dem er sich stellt. In der Fokolar-Bewegung habe er gelernt, damit umzugehen. Er hat die gesamte Bibel gelesen, Teile daraus mehrfach. Alle Realität ist für ihn schiere Physik. Als international gefragter Spezialist für Quan­ten­feldtheorie versucht er, auch spirituelle Inhalte wie Jesu Gebot der gegenseitigen Liebe in seine Denkwelt der Teilchenphysik zu übersetzen:

„Photonen sind masselos und nicht messbar. Gerade deshalb können sie eine Koppelung hervorrufen. Photonen fließen zwischen [wohlgemerkt!] gelade­nen Teilchen und sind so etwas wie der Heilige Geist. In diesem Sinn gehört das, was ihr Christen Heiligen Geist nennt, zur Realität.“

Für Pismak ist das mehr als eine Metapher. Die Teilchen sind die Perso­nen. Sie müssen geladen, d. h. gerichtet, in der Liebe sein. Dann stellt sich sozusagen eine ‚Kopplung‘, ein Fluidum ein, das in der Fokolar-Be­wegung Gegenwart Jesu, des Auferstandenen, inmitten der in Liebe ge­einten Seinen, kurz „Jesus in unserer Mitte“, genannt wird. Das bezieht sich auf die Verheißung in Mt 18,20: „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“. Religionsfreie neh­men diese Gegenwart mit ihrer spirituellen Intelligenz wahr. So eröffnete der bosnische Atheist mit islamischem Kulturhintergrund, Politiker im ehemaligen Jugoslawien, Faruk Redzepagic seinem Gesin­nungsgenossen Walter Baier und drei weiteren österreichischen Kom­munisten, wie er zu dieser mystischen Erfahrung von Jesu Gegenwart inmitten der Gemeinschaft steht:

„Für uns Atheisten ist das, was die Fokolare sagen, wenn sie von ‚Jesus in der Mitte‘ sprechen, ein Unsinn. Doch muss ich zugeben, dass das mit den Foko­laren zusammen Wirklichkeit ist.“

Wie wertvoll Jesu Gegenwart den genannten Religionsfreien ist, belegt die Unleidlichkeit, mit der sie reagieren, wenn von dieser säkularen Mystik in oberflächlichem geistlichem Jargon gesprochen wird. Hier erscheint es mir angebracht, die Gretchenfrage zu beantworten. Will die Fokolar-Bewegung die Menschen zum Christentum bekehren? Nein, nicht im Sinne von Rekrutierung! Laut Joh 6,29.65 ist der Glaube an den Sohn ja das Werk Gottes. Gleichwohl will sie den Raum für eine Begeg­nung mit dem lebendigen Christus schaffen. Er ist als Auferstandener in der Gemeinschaft gegenwärtig, genauso wie als der Gottverlassene am Kreuz in den vielgestaltigen Abgründen der Menschheit.

Herunter-gekommen (II) – Dialog ist gelebte Kenosis

Bisweilen erfassen Atheisten und Agnostiker zentrale christliche Inhalte tiefer als glaubensgewisse Christen, bis hin zu Theologen und Klerikern. So saß der Kommunistenführer Walter Baier im Saal, als ich vor einer Versammlung von Geistlichen und Theologen einen Vortrag über die Beziehung zwischen Christen und Religionsfreien hielt. Ich stellte einen frühen, sehr dichten Text von Chiara Lubich ins Zentrum. Ausgehend vom Paulus-Wort „Ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten“ schrieb die Fokolar-Gründerin im Sommer 1949:

„Ich habe nur einen Bräutigam auf Erden: Jesus, den Verlassenen. Ich habe keinen Gott außer ihm. In ihm ist das ganze Paradies mit der Trinität und die ganze Erde mit der Menschheit.

Was sein ist, ist also mein, sonst nichts. Und sein ist das Leid der ganzen Welt – und deshalb auch mein.

Ich werde durch die Welt gehen und ihn suchen, in jedem Augenblick meines Lebens. Was mir weh tut, ist mein. Mein ist das Leid, das mich im Augenblick berührt. Mein ist das Leid der Menschen neben mir (das ist mein Jesus). Mein ist alles, was nicht Friede oder Glück, was nicht schön, liebenswert, [unbeschwert] ist … – kurz: all das, was nicht Paradies ist. Denn auch ich habe mein Paradies, doch es ist das Paradies im Herzen meines Bräutigams. Ein anderes kenne ich nicht.

So wird es sein in den Jahren, die mir bleiben: dürstend nach Schmerz, Angst, Verzweiflung, Schwermut, Trennung, Verbannung, Verlassenheit und innerer Qual, nach … allem, was er ist, und er ist die Sünde, die Hölle.

So trockne ich die Flut der Bedrängnis in den Herzen vieler, die mir nahe sind, und durch die Gemeinschaft mit meinem allmächtigen Bräutigam auch in manchen, die fern von mir sind. Ich werde vorübergehen wie Feuer, das verzehrt, was vergehen muss, und nur die Wahrheit bestehen lässt.

Aber dazu ist es nötig, wie er zu sein: Er zu sein, je im Jetzt des Lebens.“

Dieser Text ist beileibe nicht beschaulich. Lubich erläutert ihn in einer späteren Schrift und macht ihn zur Basis für den Dialog mit Anders­denkenden:

„Das Maß der christlichen Liebe ist im gekreuzigten und verlassenen Jesus zu finden. Um die Nächsten zu lieben, ist es nötig, alles zur Seite zu stellen, sogar die höchsten geistlichen Dinge; so hat auch er aus Liebe zu uns sogar die Verlassenheit vom Vater durchlitten […]. Nur eine Liebe, die sich an diesem Maß orientiert, kann die Einheit in Fülle verwirklichen.“

Zwei Jahre vor ihrem Tod, im Januar 2006, legte Chiara Lubich noch einmal unmissverständlich die Wurzel des Dialoges frei, wie sie ihn versteht:

„Man muss vor jedem Bruder Nichts sein (wie Jesus in seiner Gottverlassen­heit) und frei von jeder Besorgnis, etwas von unserer Botschaft mitzuteilen. Man teilt mit, indem man Nichts ist. Das ist unser Weg der Inkulturation.“

Die drei Texte verstörten einen Teil des gläubigen Publikums. Walter Baier hingegen sagte mir unmittelbar danach: „Wir müssen uns einmal die Zeit nehmen, die Frage des verlassenen Jesus zu vertiefen.“ Dazu bot sich u. a. eine Gelegenheit, als er sich über die Hintergründe eines inte­gralen Entwicklungsprojekts der Fokolar-Bewegung in Fontem in Kame­run informierte. Beeindruckt von den Fakten fragte er nach den Guidelines, die dem Projekt zugrunde liegen. Ich versuchte, sie ihm als bevorzugte Liebe zum gekreuzigten und verlassenen Jesus zu beschrei­ben. Am Karfreitag darauf schrieb er mir als Osterwunsch:

„Ich kann diesen für Euch so bedeutsamen Tag nicht verstreichen lassen, ohne Euch meine Nähe auszusprechen, wo ich jetzt den Inhalt [d. h. Jesu Gottverlassenheit am Kreuz] ein wenig kenne. Ich wünsche Euch ein Fest der Auferstehung, im Sinne eines solid begründeten Optimismus.“

Die Basis allen Dialogs ist immer das konkrete Leben. So sind wir mit diesen Menschen in vielfältigen Projekten zugunsten von Benachteilig­ten verbunden: Integration von Flüchtlingen, Hilfsprojekte in Palästina und in mehreren afrikanischen Ländern. Mit Walter Baier war ich mehr­mals bei den Weltsozialforen, zuletzt 2011 in Dakar. Daraus hat sich ein neuer Zugang der Europäischen Linken zur katholischen und zu ande­ren Kirchen ergeben. Walter Baier war einer der vier atheistischen bzw. agnostischen Intellektuellen, die Papst Benedikt im Oktober 2011 zur Friedenswallfahrt nach Assisi eingeladen hat. Am 18. September 2014 war ich schließlich dabei, als Alexis Tsipras und Walter Baier eine halb­stündige Privataudienz bei Papst Franziskus hatten. Der Papst und die beiden Linkspolitiker kamen überein, weiterhin in Kontakt zu bleiben. Die Zeichen stehen gut, dass sich ein beständiger Dialog zwischen dem Think-Tank der Linken Europas transform! europe – mit Walter Baier als Koordinator – und dem Vatikan entwickelt.

Herunter-gekommen (III) – Dialog als Lern-Erfahrung

Ich habe gelernt, unterschiedliche Sichtweisen selbst in grundlegenden Fragen nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung zu erleben, an der beide Gesprächspartner wachsen. Mich in das Säurebad eines säku­lari­sier­ten Milieus einzutauchen, löst die Schlacke auf und legt das Echte in meinem Leben und in meiner Botschaft frei. Ein agnostischer Wiener Verleger fragte mich, warum Christen mit Spitzfindigkeiten wie der Drei­faltigkeit und den innertrinitarischen Beziehungen Zeit ver­geude­ten, wo sie doch nicht einmal auf die Frage nach der Existenz Gottes eine schlüssige Antwort hätten. Nach eine Schrecksekunde kam mir eine Antwort, die er gelten ließ: Wenn man jemanden liebt, kann man nie genug von ihm wissen. Ich habe die beißende Frage als jene „retten­de Kritik“ empfunden, von der Jürgen Habermas spricht. Dann habe ich keine Angst mehr, wenn mein Glaube auf den Prüfstand kommt, son­dern die Fragen meines religionsfreien Gegenübers helfen meinen Glau­ben zu klären, zu vertiefen und zu stärken.

Dadurch bin ich gegenüber meinem eigenen Beten, Denken und Leben kritischer geworden. Bewegt mich wirklich absichtslose Liebe? Bin ich tatsächlich im Maß des verlassenen Jesus leer geworden vor dem ande­ren Menschen? Setze ich mich wirklich dem Licht von Jesu Gegenwart unter uns aus? So lese ich auch die Hl. Schrift unmittelbarer, nüchter­ner. Mehr als je zuvor gewinne ich den Zugang zum Menschen Jesus, der mich gerade auf der nicht-spirituellen, profanen, faktischen Ebene herausfordert.

Vor allem aber haben die letzten 8 Jahre in Tuchfühlung mit Menschen nichtreligiöser Weltanschauung mir neue Augen verliehen. Auf dem Fundament von Jesu Gottverlassenheit kann ich so Gott begegnen, in Personen, an Orten, zu Zeiten, in denen er abwesend zu sein scheint: etwa in den Hinterhalten, die das Gespräch von Tsipras und Baier mit Papst Franziskus verhindern sollten.

Dialog in diesem Sinn baut sich nicht aus einmaligen Events auf, son­dern bedarf der Pflege ganz persönlicher Beziehungen mit Ausdauer, Treue und Offenheit. Er ist Askese und Mystik zugleich, eine Aktualisie­rung des Paschamysteriums: sich selbst entäußern nach dem Beispiel der Kenosis des Sohnes, um allen alles zu werden, und so in der gegen­seitigen Liebe geeint, gemeinsam mit den Religionsfreien, die Gegen­wart des auferstandenen Herrn zu erfahren. So steigt die Mystik in die Welt herunter und wandert in die Säkularität ein.

Meine Erfahrungen lassen sich mit zwei Sätzen zusammenfassen. Der eine stammt vom heiligen Papst Johannes Paul II., aus seiner Enzyklika Novo millennio ineunte, und lautet: „Denn nicht selten erweckt der Geist Gottes, der ‚weht, wo er will‘ (Joh 3,8), in der allgemeinen menschlichen Er­fahrung trotz ihrer vielen Widersprüchlichkeiten Zeichen seiner Gegenwart, die selbst den Jüngern Christi helfen, die Botschaft, deren Überbringer sie sind, vollkommener zu verstehen.“ Den anderen Satz hat Bischof Klaus Hemmerle schon Jahre vorher formuliert: „Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Bot­schaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.“ Vielleicht ließe sich diese Aussage um den Aspekt der Wechselseitigkeit ergänzen: „… und tu du dasselbe mir gegenüber“. Und das ist meine, unsere Erfahrung: Egal ob Christ, Agnostiker oder Atheist, wir alle empfangen uns selbst ganz entscheidend vom anderen her. Oder wie es der frühere Bürger­meister von Venedig, der agnostische Philosoph Massimo Cacciari, sagt: „Der Nichtglaubende lebt beständig im Glaubenden und der Glaubende im Nichtglaubenden. Wenn ein Nichtglaubender denkt, […] sucht er das letzte Ding, nennen wir es ruhig Gott. […] er ist nicht ohne Gott, er hat Gott nicht erreicht. So ist auch der Glaubende nicht befriedet, bewegungsfaul […] im Besitz der Wahrheit. Auch er ist auf der Suche und muss sich den Glauben jeden Morgen neu erobern.“

Und der Kulturwissenschaftler Herbert Lauenroth pflichtet ihm bei: „In diesem Wechselspiel bezeugt sich die Sehnsucht unserer postsäkularen Moderne, diese gemeinsame Sehnsucht schließlich verbindet Christen und Agnostiker in authentisch gelebter, immer riskanter Zeit-Genos­senschaft.“