Einstellungen konfessionsloser Menschen zu Kirche und Religion. Eine empirische Studie aus der Nordkirche
Die Arbeitsstelle „Kirche im Dialog“ ist eine Einrichtung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (kurz Nordkirche genannt) mit Sitz in Rostock und hat die Aufgabe, neue Formen kirchlicher Kommunikation zu entwickeln und vielfältige Möglichkeiten der Begegnung und des Dialogs von Christen und Nichtchristen zu eröffnen. Das Gebiet der 2012 als Zusammenschluss der nordelbischen, pommerschen und mecklenburgischen Kirche gegründeten Nordkirche umfasst im Wesentlichen die Länder Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern. Die konfessionelle Situation des Gebiets der Nordkirche ist geprägt durch einen hohen Anteil Konfessionsloser, wenn auch in unterschiedlichen Akzentuierungen: Schleswig-Holstein ist zwar das Bundesland mit der höchsten Quote an Evangelischen in der Bevölkerung (50,4 %), doch ist es gleichzeitig unter den westdeutschen Flächenländern das mit dem geringsten Bevölkerungsanteil an Christen insgesamt (56,5 %), so dass von etwa 40 % Konfessionslosen auszugehen ist. Noch „säkularisierter“ sieht die Situation im Stadtstaat Hamburg aus, in dem Christen mit 39,7 % (29,0 % Evangelische, 10,7 % Katholiken) in der Minderheit gegenüber den Nichtchristen sind. Noch einmal anders stellt sich die Lage in Mecklenburg-Vorpommern dar: Mit 20,2 % (16,8 % Evangelische, 3,4 % Katholiken) sind die Christen hier, ähnlich wie in den anderen ostdeutschen Bundesländern, noch deutlicher in einer Minderheitenposition.
Über die – keineswegs einheitliche – Gruppe der Konfessionslosen ist vergleichsweise wenig bekannt. Schon der Begriff als solcher ist umstritten, insofern er eine negative Bestimmung vornimmt (und somit eine konfessionelle Perspektive vorauszusetzen scheint) und Konfessionslosigkeit nicht auch Religionslosigkeit implizieren muss (und umgekehrt Konfessionszugehörigkeit nicht gleichzeitig auch Religiosität bedeuten muss). Dennoch ist der Begriff gebräuchlich als Terminus technicus für Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, und wird daher auch in der hier vorgestellten Studie verwendet. Verdienstvoll ist diese Studie schon allein deshalb, weil sie speziell die Konfessionslosen in den Blick nimmt: Das ist in vielen anderen Untersuchungen aus rein praktischen Gründen schwierig, weil jemand, der Kirche und Religion ablehnend, skeptisch oder zumindest gleichgültig gegenübersteht, meist wenig Interesse zeigt, an entsprechenden Studien teilzunehmen. Dies führt dazu, dass Konfessionslose in solchen Studien eher unterrepräsentiert sind. Will man aber als Kirche auf Konfessionslose zugehen und mit ihnen ins Gespräch kommen, ist es sinnvoll, zumindest einige Anhaltspunkte darüber zu haben, was sie über Religion und Kirche denken und welche Bedürfnisse und Wünsche an die Kirche sie haben.
Für die Untersuchung wurde ein achtseitiger Fragebogen verwendet, der im Schneeballsystem an Diakonie-Mitarbeitende, Mitglieder (weltlicher) Chöre, Schüler der gymnasialen Oberstufe und über Kindergärten in kirchlicher und diakonischer Trägerschaft verteilt wurde. Die Rücklaufquote von knapp 25 % (498 von 2.000 ausgegebenen Fragebögen) ist bei dieser Thematik als sehr zufriedenstellend anzusehen. Gut die Hälfte der Fragebögen (263) wurde von Konfessionslosen ausgefüllt; die befragten Kirchenmitglieder dienten als Vergleichsgruppe. Selbstverständlich ist die Umfrage durch diesen Verteilmodus nicht repräsentativ; 158 der Konfessionslosen lassen als Mitarbeitende von Kirche oder Diakonie bzw. als Eltern eines Kindergartenkindes in kirchlicher Trägerschaft eine Aufgeschlossenheit für die Thematik vermuten. Insbesondere über „kirchennahe Konfessionslose“ kann diese Studie also Auskunft geben. Mehr als drei Viertel (76,5 %) der Befragten sind weiblich, jeweils knapp die Hälfte haben Abitur oder Mittlere Reife, nur knapp 5 % einen Hauptschulabschluss.
Ergebnisse
Die Studie fragt zunächst nach dem Stellenwert von Religiosität bzw. Spiritualität im Leben der Norddeutschen und anschließend nach den Einstellungen zur Kirche. Als erstes ist festzuhalten, dass die westdeutschen Konfessionslosen überwiegend zwar getauft sind (82 %), aber später aus der Kirche ausgetreten sind; sie sind häufig kirchenkritischer (schließlich haben sie den Schritt des Ausstritts bewusst vollzogen) und haben in ihrer Biographie oftmals negative Erfahrungen mit Kirche zu verzeichnen. In Ostdeutschland sind die meisten Menschen noch nie Mitglied einer Kirche gewesen (nur 25 % der befragten Konfessionslosen sind getauft); Nichtmitgliedschaft ist hier die unhinterfragte Normalität, hinter der sich meist ein freundliches Desinteresse statt offener Ablehnung verbirgt: Wer keinen Kontakt zur Kirche hat, kann sich auch nicht über bestimmte Dinge ärgern. Allerdings kann Unkenntnis zu Vorurteilen und in deren Folge auch zu Berührungsängsten führen.
Immerhin 60 % der Ausgetretenen geben an, dass sie in ihrer Herkunftsfamilie Kontakt zur Kirche hatten, was darauf schließen lässt, dass religiöse Sozialisation nicht zwangsläufig Entkirchlichung verhindert. Religiöse Sozialisation hat aber eine wichtige Funktion für religiöses Erleben: „Wer nicht mit Religion groß geworden ist, tut sich auch als Erwachsener schwer damit. ... Religiöse Sozialisation befördert nicht zwingend die Nähe zur Institution Kirche, aber die Fähigkeit zu religiösem Erleben“ (Kirche im Dialog 2014, 11; Seitenzahlen in Klammern beziehen sich im Folgenden auf diese Publikation).
Religiosität und Spiritualität
Wie sieht nun die Selbsteinschätzung der Norddeutschen hinsichtlich ihrer Religiosität und Spiritualität aus? Die Selbsteinschätzung als spirituell ist im Osten (12 %) deutlich geringer ausgeprägt als im Westen (36 %), wobei der Wert im Westen unabhängig davon ist, ob die Befragten Kirchenmitglieder sind oder nicht (im Osten bezeichnen sich 20 % der Kirchenmitglieder und 10 % der Konfessionslosen als spirituell). Die Akzeptanz des Begriffs „Spiritualität“ scheint im Westen also höher als im Osten zu sein. Der Begriff „Religiosität“ wird offensichtlich in beiden Teilen als der „seriösere“ empfunden, die Zustimmung ist sowohl im Osten (23 %) als auch im Westen (45 %) deutlich höher als bei der Spiritualität. Dabei ist die Selbsteinschätzung als religiös sowohl im Osten als auch im Westen stark an die Kirchenmitgliedschaft gebunden: 65 % der ostdeutschen und 57 % der westdeutschen Kirchenmitglieder bezeichnen sich als religiös, jedoch nur 9 % der Konfessionslosen im Osten bzw. 22 % im Westen. Außerhalb von Kirche findet sich also im Westen eher Spiritualität als Religiosität, im Osten von beidem gleich wenig.
Worin nun drückt sich außerkirchliche Religiosität bzw. Spiritualität aus? Nur wenige der Konfessionslosen haben ein ausdrückliches Interesse an anderen Religionen (im Osten 7 %, im Westen 21 %), dabei wird an erster Stelle der Buddhismus genannt. Interessant ist, dass 15 % der ostdeutschen Konfessionslosen angeben, in einem christlichen Sinn an Gott zu glauben, also immerhin 6 Prozentpunkte mehr als die, die sich als religiös empfinden. „Möglicherweise ist die Selbsteinschätzung als religiös im Bewusstsein der Menschen zum einen an religiöse Praxis gekoppelt – religiös ist, wer eine Religion ausübt – und nicht nur an den Glauben, zum anderen an die Kirche als Hort der religiösen Praxis bzw. an die Zugehörigkeit zu einer anderen Religionsgemeinschaft“ (13). Dass es unter Menschen, die sich selbst nicht als religiös einstufen, dennoch religiöse Vorstellungen gibt, zeigt sich z. B. daran, dass ein Drittel der befragten Konfessionslosen an ein Leben nach dem Tod glaubt (bei den Kirchenmitgliedern sind es zwei Drittel), meistens in einem religiösen, wenn auch nicht unbedingt christlichen Sinn (40 % teilen Vorstellungen der Reinkarnationslehre, 27 % glauben an eine unsterbliche Seele, 22 % äußern christlich anmutende Paradiesesvorstellungen; im Vergleich dazu die Einstellungen der Kirchenmitglieder: 17 % Reinkarnationslehre, 39 % unsterbliche Seele, 35 % Paradiesesvorstellungen). Außerdem äußert sich ein Fünftel der Konfessionslosen im Osten und ein Drittel im Westen positiv zum Item „Ich habe manchmal das Gefühl, dass eine höhere Macht auf mein Leben einwirkt“.
Es gibt jedoch auch einen großen Anteil völlig areligiöser Menschen. „Insgesamt findet sich im Nordosten wenig polemischer Atheismus, allerdings häufig ein Gefühl von Überlegenheit im Sinne der zu DDR- Zeiten forcierten Szientismus-Prägung – nach dem Motto: Ich kenne die wissenschaftlichen Erkenntnisse, bin von immanenten Weltdeutungsmodellen überzeugt und übernehme die Verantwortung für mein Leben selbst“ (18). Überraschend viele der Konfessionslosen äußern Interesse für religiöse Fragen, im Westen knapp die Hälfte (46 %), im Osten ein Drittel; selbst unter den Konfessionslosen, die sich als kaum oder gar nicht religiös einschätzen, sind es noch 22 %. Möglicherweise steht hier aber kein persönliches Interesse im Hintergrund, sondern wird Religion als gesellschaftlich hinreichend relevant erachtet, um darüber informiert zu sein.
Einstellungen zur Kirche
Fragt man die Konfessionslosen nach ihrer persönlichen Meinung zur Kirche, so bescheinigt ihr eine hohe Mehrheit sowohl im Osten (70 %) wie im Westen (66 %) eine wichtige gesellschaftliche, soziale und kulturelle Funktion. Hohe Zustimmung erfahren die Aufgaben der Kirche, Anwalt von Hilfsbedürftigen und Schwachen zu sein (je zwei Drittel in Ost und West) und Werte zu vermitteln (je 52 % in Ost und West). Der Beimessung gesamtgesellschaftlicher Bedeutung steht jedoch eine geringere Relevanz auf der individuellen Ebene entgegen: Nur für 9 % der ostdeutschen und 4 % der westdeutschen Konfessionslosen wäre Kirche in einer Notsituation ein wichtiger Ansprechpartner.
Was finden Konfessionslose an der Kirche gut? Als erstes wird hier wieder das soziale Engagement für Benachteiligte genannt (61 % im Westen, 50 % im Osten; ähnliche Werte bei den Kirchenmitgliedern), gefolgt von den Kirchengebäuden, die im Osten mit 55 % noch höher wertgeschätzt werden als im Westen mit 47 %. An dritter Stelle kommt die Aussage „dass man nicht perfekt sein muss, um angenommen zu sein“ (Ost 48 %, West 45 %). Insgesamt wird – wie oben bereits festgestellt – eine kritischere Einstellung zur Kirche bei den Konfessionslosen im Westen gegenüber denen im Osten deutlich, z. B. in der Einschätzung des Erscheinungsbildes der Kirche als altmodisch (bei 70 % der Konfessionslosen im Westen, jedoch nur bei 34 % im Osten); dafür scheint der höhere Anteil an Ausgetretenen unter den westdeutschen Konfessionslosen verantwortlich zu sein.
Viele Konfessionslose erwarten von der Kirche, stärker auch auf Menschen zuzugehen, die nicht zu ihr gehören (27 % Ost, 36 % West); nur 17 % der westdeutschen und 12 % der ostdeutschen Konfessionslosen wollen „lieber in Ruhe gelassen werden“. Auch im Bereich kultureller Angebote sowie bei Angeboten im Bereich von Gemeinschaft und Geselligkeit votiert jeweils über ein Viertel der Konfessionslosen in Ost wie West für einen Ausbau. Öffentliche Präsenz im Sinne von politischem Engagement oder Medienpräsenz der Kirche wird hingegen stärker abgelehnt, v. a. von den westdeutschen Konfessionslosen (42 % bzw. 29 %).
Die Frage, ob man sich vorstellen kann, (wieder) in die Kirche einzutreten, wird erwartungsgemäß von einer großen Mehrheit der Konfessionslosen negativ beantwortet. Jedoch können sich 14 % der schon immer Konfessionslosen und 22 % der Ausgetretenen einen solchen Schritt grundsätzlich vorstellen. „Ausgetretene können sich demnach eher vorstellen, (wieder) in die Kirche einzutreten, als diejenigen, die immer schon konfessionslos waren. Eine kirchliche Sozialisation und vormals bestehende Kontakte zu und Erfahrungen mit Kirche, auch wenn es aus unterschiedlichen Gründen Enttäuschungserfahrungen waren, scheinen einen Wiedereintritt eher zu ermöglichen als einen Eintritt für Menschen, denen die Kirche ganz oder überwiegend fremd ist. ... Stellen sich berufliche oder private Kontakte mit Kirche und Diakonie erst im Erwachsenenalter ein (kirchennahe Konfessionslose), lässt sich ... kein erhöhter Eintrittswunsch feststellen“ (38).
Als Hinderungsgründe, (wieder) in die Kirche einzutreten, werden (in der Reihenfolge der Wichtigkeit) fehlender Gottesglaube, die Kirchensteuer, subjektiv schlechte Erfahrungen mit kirchlichen Mitarbeitern sowie eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der Kirche genannt. Bürokratischer Aufwand oder dass es im Familien- und Freundeskreis unangenehm wäre, diesen Schritt zu erklären, spielt so gut wie keine Rolle.
Schlussfolgerungen
Was bedeuten diese Ergebnisse der Studie, deren Hauptergebnis man vielleicht auf die Formel bringen könnte „Es ist gut, dass es die Kirche gibt – aber ich brauche sie nicht“? Welche Konsequenzen sollte die Kirche daraus ziehen? Grundsätzlich gilt: „Ziel sollte sein, von einem eher desinteressierten Nebeneinander der kirchlich Gebundenen und der Kirche Fernstehenden zu einem aktiven, für alle fruchtbaren Miteinander zu gelangen, welches dem Gemeinwohl nur zuträglich sein kann. ... Wer den Dialog mit Konfessionslosen auf die Gewinnung von Mitgliedern ausrichtet, muss mit Frustrationen rechnen. Der Arbeitsstelle ‚Kirche im Dialog‘ geht es um besseres Wahrnehmen und Verstehen“ (42.44).
Glaubwürdig wird Kirche, wenn sie sich als diakonisch versteht und auf andere zugeht, vor allem am Rand der Gesellschaft (Geh-Struktur statt Komm-Struktur). „Durch die Struktur unserer Kirche, untergliedert in Gemeinden und somit in der Fläche noch überall präsent, sind wir dafür [sc. für eine sozial-diakonische Ausrichtung; T.K.] geradezu prädestiniert. Dazu haben wir uns aus den ... Nischen eines gutbürgerlichen Bildungsmilieus (eher im Nord-Westen) oder einer Beschränkung auf die Existenz als Kerngemeinde (eher im Nord-Osten) herauszubewegen“ (46).
Die Studie wirft weitere Fragen auf, wenn es darum geht, wie ein Dialog auf Augenhöhe zwischen Christen und Menschen ohne Konfession aussehen könnte. Welche Schwellen wären zu überwinden bzw. abzubauen, um die Diskrepanz zwischen hoher gesellschaftlicher Wertschätzung der Kirche im sozialen Bereich und der geringen individuellen Bedeutung für viele Konfessionslose zu bearbeiten? Wie kann Kirche verständlicher werden, damit Menschen mit wenig oder gar keinem Kontakt zu ihr überhaupt eine Chance haben, ihre Botschaft zu vernehmen? „Haben wir genug Gefühl dafür, dass die traditionellen, uns so wohl vertrauten Worte, Lieder und Liturgien anderen als fremd und unverständlich erscheinen können?“ (48) Und ein Weiteres: Zwar gibt es viele Möglichkeiten in der Kirche, ‚mit Gott groß zu werden‘; der Kinder- und Jugendbereich ist eigentlich sehr gut aufgestellt. Doch gibt es auch genügend Erfahrungsräume, um mit Gott auch erwachsen leben zu können? „Gibt es vielleicht im Rahmen des kirchlichen Lebens zu wenige Möglichkeiten, aus der Selbstverständlichkeit des Kinderglaubens in einen Erwachsenenglauben zu kommen? Einen Glauben zum Beispiel, der das Leben als Geschenk des Schöpfers versteht, nicht in Konkurrenz, sondern in einander ergänzender Verbindung mit der Naturwissenschaft. Oder einen, der Gottvertrauen auch im Leid kennt, ohne die Abgründe menschlichen Lebens zu verharmlosen ...“ (48).
Die hier referierten Ergebnisse und Frageanstöße beziehen sich auf einen evangelischen Kontext, näherhin den der Nordkirche. Doch braucht es keine großen hermeneutischen Verrenkungen, um die skizzierten Herausforderungen auch für den katholischen Bereich durchzubuchstabieren.
Kirche im Dialog (Hg.), Einstellungen konfessionsloser Menschen zu Kirche und Religion. Eine empirische Studie, Rostock 2014.
Die Umfrageergebnisse sind auch online in einer Kurzfassung und in einer Langfassung abrufbar; ebenso finden sich erste Schlussfolgerungen.
Ein Überblick über die theoretische Diskussion zum Phänomen ‚Konfessionslosigkeit‘ findet sich in folgender Broschüre der Arbeitsstelle Kirche im Dialog:
Kirche im Dialog (Hg.), Ohne Gott? Konfessionslosigkeit – Ein Überblick, Rostock 2015.
Beide Broschüren können über kircheimdialog.de/material.html bezogen werden.