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Was bewegt Suchende?

Leutetheologien – empirisch-theologisch untersucht

Wo beginnt Theologie? Monika Kling-Witzenhausen lenkt mit ihrer Dis­sertation den Blick auf ein Theologietreiben, das recht wenig von der „akademischen Theologie“ aufgegriffen wird: die „Leutetheologien“ von „SchwellenchristInnen“.

Diese Begriffe müssen natürlich zuerst erklärt werden, da sie noch nicht etabliert sind bzw. innerhalb dieser Arbeit erst entwickelt werden. Die Autorin „vertritt die These, dass jeder und jede, der bzw. die sich mit Fragen nach Sinn, Gott, Religion etc. auseinandergesetzt und diese re­flektiert hat, eine persönliche Theologie besitzt“ (20). Solche „Leute­theologien“, die im alltäglichen Leben beheimatet sind (24) und „zu­meist nicht als ausformulierte oder elaborierte Traktate vorliegen“ (23), stehen in einem Gegenüber zur „akademischen Theologie“. Der zweite Begriff blieb für den Rezensenten während der Lektüre weniger greifbar. Erst weit hinten im Band definiert die Autorin: „Als Schwellenchrist_in­nen wurden […] Mitmenschen bezeichnet, die sich a) als Christgläubige charakterisieren, jedoch b) nicht aktiv oder höchstens temporär am kir­chengemeindlichen Leben partizipieren, sich aber in bestimmtem Maße vom dortigen Geschehen ‚angezogen‘ fühlen. Darüber hinaus verbindet die Gruppe der Schwellenchrist_innen c) die Suche nach spirituellen Angeboten und Formen, die zu ihren Interessen und Lebensformen passend erscheinen. Das Suchen beinhaltet Momente des Findens, aber auch neue Fragen und neue Antworten“ (257).

Bezeichnend für die erkundende Arbeitsweise der Autorin ist, dass nicht nur zu Beginn der Arbeit relevante wissenschaftliche Diskurse (z. B. kontextuelle Theologien) und mögliche Kontexte und Konnotationen der beiden Kernbegriffe vorgestellt werden, sondern auch noch einmal zum Schluss in der „Ergebnissicherung“ betrachtet werden. Was stel­lenweise etwas redundant wirkt, dient aber auch der (selbst-)​kritischen Überprüfung insbesondere des Begriffs „SchwellenchristInnen“, der auch nur begrenzt dem Selbstverständnis der Befragten ent­spricht (265).

Ein Kernstück der Arbeit sind nämlich exemplarische Interviews mit SchwellenchristInnen, von denen vier vorgestellt und methodisch sehr reflektiert ausgewertet werden. „Alle Befragten charakterisieren sich als gläubige Christ_innen“ (137). In ihren Aussagen zeigen sich zum einen eine deutliche Nähe zur Kirche (nicht nur zur katholischen – ein Be­frag­ter ist etwa Mitglied einer charismatischen Freikirche) und teilweise Pha­sen hohen religiösen Engagements, zugleich offenbaren sie aber auch ein eigenständiges Reflektieren von Glaubensthemen (das bei einer Befragten mittlerweile anthroposophisch geprägt ist) und ver­schiedene Kritik an herkömmlich verfasster Kirchlichkeit. Kling-Witzen­hausen arbeitet nicht nur Kernthemen der einzelnen Befragten heraus, sondern nimmt auch „ausgewählte Fragestellungen aus den Interviews“ in den Blick, die sich jeweils bei mehreren Befragten zeigen: die Aus­ein­andersetzung mit der Bibel; Gotteserfahrungen, auch in „körperlicher“ Konkretheit (etwa charismatische Erfahrungen); Mündigkeit und Frei­heit als Glaubende. Diese stellt sie neben akademisch-theologische Kon­notationen der Autorin, was für den Rezensenten freilich teilweise et­was unverbunden wirkt. Auch im weiteren Fortgang der Arbeit, die durchaus immer wieder auf die Interviews Bezug nimmt, hätten kon­kre­te inhaltliche Aussagen aus den Interviews vielleicht noch stärker aufgegriffen und verarbeitet werden können.

Doch auch so kommt die Autorin zu ihrem Kernanliegen, denn die Aus­einandersetzung mit konkreten Leutetheologien hat programmati­schen und exemplarischen Charakter: Kling-Witzenhausen plädiert mit ihrer Arbeit für eine stärkere Berücksichtigung dieser Leutetheologien in der wissenschaftlichen Theologie. In einem eigenen Kapitel stellt sie zuerst das Loci-theologici-Konzept des Melchior Cano und dessen unterschied­liche Rezeption vor, bevor dann ein zweiter Abschnitt unter der Über­schrift steht: „Leutetheologien sind ein locus theologicus“ (224). Dies jedoch keineswegs als bloßes Postulat, sondern in Diskussion des Ver­hältnisses der verschiedenen theologischen Erkenntnisquellen zuein­ander. Kling-Witzenhausen betont die Bedeutung des Zusammenspiels der Vielfalt der loci für theologische Erkenntnis und hebt dabei insbe­sondere den Blick auf die Praxis, d. h. menschliche (Alltags‑)​Praktiken, wie sie sich in den Leutetheologien widerspiegeln, hervor.

Das Schlusskapitel ist recht umfangreich und keineswegs nur ein Zu­sammenführen von Erkenntnissen der Arbeit, sondern gibt auch eine Fülle von dann teilweise nur kurz genannten Impulsen, wie das Thema Leutetheologien in Theologie und Pastoral aufgegriffen und weiter ver­tieft werden kann: im Interesse „einer (west‑)​deutschen kontextuellen Theologie“ (15). Dabei geht es Kling-Witzenhausen hier wie in der ge­samten Arbeit nicht nur um das Ob, sondern insbesondere auch um das Wie solcher Begegnungen: Von „‚Hinhören und Dasein‘ anstatt ‚Beleh­ren und Hereinholen‘“ (269) spricht die Autorin, auch von „Depotenzie­rung des eigenen wissenschaftlichen Standpunktes“ (270) – und betont das „Zu-Gast-Sein als Grundmotiv einer empirischen Spurensuche nach Leutetheologien“ (280), plädiert also für eine Haltungsänderung in „einer Kirche, die sich bisher vor allem als Gastgeberin empfunden hat“ (281).

Insgesamt ist die Arbeit ein interessanter, anregender Beitrag für eine Kirche und eine Theologie, die nahe bei den Menschen sein will – gerade auch bei den Menschen, die sich in einem „Schwellenraum“ bewegen. Welche unterschiedlichen Dimensionen eine Existenz an der Schwelle zur in herkömmlichen Gemeindestrukturen verfassten Kirche haben kann, erschließt Kling-Witzenhausen und lädt dazu ein, diesen Schwel­lenraum als Ort nicht nur pastoraler, sondern auch theologischer Ent­deckungen dialogisch zu betreten.

Martin Hochholzer