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Resilienz als Ideal eines christlichen Lebens

Beispiele aus der Kirchengeschichte

Auch die Kirchengeschichte bietet zahlreiche Beispiele, wie man mit Krisen umgehen und diese bewältigen kann. Christoph Nebgen zeigt am Beispiel des Asketen und Wüstenvaters Antonius, des „Pilgers“ Ignatius von Loyola und der „Mystikerin der Straße“ Madeleine Delbrêl Strategien der Bewältigung von persönlichen, aber auch allgemeinen Krisensituationen auf. Dabei entdeckt er trotz der erheblichen Unterschiede im Hinblick auf die jeweilige geschichtliche Situation und die jeweiligen Herausforderungen wiederkehrende Elemente der Resilienzfähigkeit.

Menschen, denen von ihrer Glaubensgemeinschaft eine besondere Nähe zum Göttlichen zugesprochen wird und die dementsprechend als Mys­ti­ker und/​oder Heilige betrachtet werden, galten und gelten im Lauf der Kirchengeschichte im Hinblick auf ihre Lebensführung immer als be­son­dere Referenzgrößen für beispiel- und zeugnishafte Ver­­wirk­­lichung christlicher Ideale. Gerade ihr aus dem Glauben heraus inspiriertes und gestaltetes Verhalten in Krisensituationen und zu Zeiten der inneren und äußeren Bedrängnis – man denke etwa an die Märtyrer des frühen Christentums – prägte eine spezielle Form von Verehrung und eine eigene literarische Gattung, deren Beschreibungen zahlreiche Men­schen zur Nachahmung inspirierte, was jedoch in ihrer oft recht schlichten Typisierung frömmigkeits- und spiritualitäts­geschichtlich betrachtet auch zu Einseitigkeiten und Fehl­­­inter­preta­tionen führte. An drei Beispielen aus ganz verschiedenen Epochen der Christentums­geschichte soll in diesem Beitrag aufgezeigt werden, inwieweit auch das, was man heute als „Resilienz“ bezeichnet, zum besonderen Setting eines als beispielhaft empfundenen christlichen Lebens gehörte und wie sich deren spezifische Ausformung jeweils kontextgebunden änderte und in der jeweiligen Epoche hiervon auch neue Impulse für eine zeitgemäße christliche Spiritualität entsprangen. Hierzu sollen drei ausgewählte Exponenten vorgestellt werden, die im Hinblick auf ihre Fähigkeit zu spiritueller Krisenbewältigung besonders innovativ erscheinen: Antonius der Große (angeblich 251–356), Ignatius von Loyola (1491–1556) und Madeleine Delbrêl (1904–1964).

Antonius der Große

Über das Leben des heiligen Wüstenvaters Antonius sind wir scheinbar bestens durch die umfassende Biographie des Athanasius von Alexan­drien informiert. Die moderne Forschung hat jedoch aufgezeigt, dass diese Schrift viel mehr ist als eine eigentliche Biographie, sondern zahlreiche theologisch und kirchlich zu kontextualisierende Absichten verfolgt. Sie zeichnet das Idealbild eines Mönches, speist ihre zu Grunde liegende Ethik aus christlichen und antiken philosophischen Quellen und stellt Antonius als Verfechter der Orthodoxie und treuen Befürwor­ter einer bischöflich organisierten Kirche in schwierigen Zeiten dar. Darüber hinaus kann man sie aber auch als eine Art „Handbuch der Resilienzlehre“ verstehen und vielleicht erklärt sogar erst dieser Aspekt den großen Erfolg des Werkes bei der Leserschaft über viele Epochen hinweg (vgl. Roux 2012). Die in Buchform fixierten Erlebnisse und Aussprüche des Heiligen und deren Lektüre scheinen Bedürfnisse abgedeckt zu haben, die zu seinen Lebzeiten zahlreiche Besucher in seine Wüstenbehausung geführt hatten:

„Denn wer kam traurig zu ihm und kehrte nicht voll Freude heim? Wer kam weinend wegen seiner Verstorbenen und vergaß nicht sogleich sein Leid? Wer kam im Zorn, ohne daß er zur Freundschaft umgestimmt wurde? Wer kam arm und mutlos und verachtete nicht, nachdem er ihn gehört und gesehen, den Reichtum und tröstete sich in seiner Armut? Wenn ein Mönch nachlässig gewesen war und zu ihm ging, wurde der nicht noch ausdauernder? Welcher junge Mensch kam auf den Berg und verleugnete nicht sogleich, nachdem er den Antonius gesehen, die Vergnügungen und liebte die Mäßigung? Wer kam zu ihm, der von einem Dämon geplagt wurde, ohne daß er Ruhe fand? Wer ging von Zweifeln gepeinigt und wurde nicht ruhig in seiner Seele?“
(Vita Antonii 87)

Lebensführung und -anleitung des Heiligen scheinen in seinem direkten Umfeld und in seiner posthumen Idealzeichnung als eine Art Therapeu­tikum verstanden worden zu sein, das dem einzelnen Menschen in Zeiten einer seelischen „Erschütterung“ oder eines mentalen Ungleich­gewichts helfen konnte, zum rechten Maß und zu einer als harmonisch empfundenen Gemütslage und Gottesbeziehung zurückzukehren. Zu seinen Lebzeiten ging dies noch durch persönliche Begegnung mit ihm, später aber durch das Studium des lebensgeschichtlichen Beispiels, welches Anleitung für das eigene Handeln in ähnlichen Situationen geben konnte.

Die Herausforderungen, Widerstände und Konflikte, welchen Antonius in seiner Vita begegnete, wurden durch seinen Biographen Athanasius überwiegend in Form einer Dämonenmythologie erzählerisch aufbe­reitet. Diese satanischen Versuchungen betreffen übertriebene Sorgen um das irdische Leben, sexuelle Lust, physisches Leiden und Wahnvor­stellungen, denen sich Antonius immer wieder in wechselnder Gestalt ausgesetzt sieht und wie sie bildnerisch etwa von Hieronymus Bosch zu Beginn des 16. Jahrhunderts so eindrücklich und phantasievoll darge­stellt worden sind. In seinem Ringen mit diesen verschiedenen dämo­ni­schen Kräften wird Antonius als Athlet gezeichnet, der den Kampf stets spielerisch annimmt und mit großem Gottvertrauen unnachgiebig ausficht. Um nun stets über die ausreichende „Seelen­kraft“ für solche Kraftproben zu verfügen, können aus dem Beispiel des Mönchsvaters praktische Hinweise abgeleitet werden, die man, wenn man so möchte, als eine eigene Resilienzlehre begreifen kann. Zunächst geht es um eine Unterscheidung der Geister, wie sie von Antonius ganz spielerisch beschrieben wird:

„[…] denn es ist leicht und gar wohl möglich, die Anwesenheit der Guten und Bösen zu unterscheiden, da Gott diese Gabe verleiht. Denn der Anblick der Heiligen bringt keine Verwirrung mit sich: ‚Nicht wird er streiten noch schreien noch wird jemand hören seine Stimme.‘ Ihre Erscheinung erfolgt so ruhig und sanft, daß sogleich Freude und Fröh­lichkeit und Mut in die Seele kommt. Denn mit ihnen ist der Herr, der unsere Freude ist, die Kraft aber ist die Gottes, des Vaters, die Gedan­ken der Seele aber sind ohne Verwirrung und Erregung; daher erblickt sie, von jener erleuchtet, die Erscheinungen. Sehnsucht nach dem Göttlichen und Zukünftigen überkommt sie, und sie will sich durch­aus mit ihnen vereinigen, um mit ihnen von hier zu gehen. Wenn aber manche als schwache Menschen sich vor dem Gericht der Guten fürchten, dann nehmen die Erscheinenden rasch die Angst von ihnen durch ihre Liebe. […]
Der Ansturm und das Gesicht der Bösen aber ist voll Verwirrung, er erfolgt unter Getöse, Lärm und Geschrei wie das Getümmel von un­gezogenen Jungen und Räubern. Daraus entsteht sogleich Furcht in der Seele, Verwirrung und Unordnung in den Gedanken, Scham, Hass gegen die Asketen, Sorglosigkeit, Schmerz, Erinnerung an die Ver­wandten, Furcht vor dem Tode; und dann Begierde nach dem Schlech­ten, Nachlässigkeit in der Tugend und Verschlechterung des Charak­ters. Wenn ihr ein Gesicht habt und euch fürchtet, die Furcht aber sogleich schwindet und dafür unaussprechliche Freude entsteht, Wohlbehagen und Mut und Erquickung, Ordnung in Gedanken und all das andere, von dem ich eben sprach, Mannhaftigkeit und Liebe zu Gott, dann seid frohen Mutes und betet; denn die Freude und der ruhige Zustand der Seele zeigen die Heiligkeit des Anwesenden.“
(Vita Antonii 35 f.)

Eine weitere Empfehlung zur Vervollkommnung der eigenen seelischen Widerstandskräfte besteht in der täglichen Selbstanalyse in Form eines Gewissensspiegels:

„Folgendes soll noch ein Schutzmittel sein, um Sicherheit vor der Sünde zu erlangen: Ein jeder von uns soll die Handlungen und Regungen der Seele bemerken und aufzeichnen, als ob wir sie ein- ander mitteilen wollten; und seid überzeugt, daß wir, wenn wir überhaupt uns scheuen, erkannt zu werden, aufhören zu sündigen oder etwas Schlechtes nur zu denken. Denn wer will, wenn er sündigt, gesehen werden? Oder wer lügt nicht lieber, wenn er gesündigt hat, da er verborgen bleiben will? Wie wir, wenn wir einander sähen, nicht Unzucht treiben würden, so werden wir uns auch, wenn wir unsere Gedanken aufzeichnen, als ob wir sie einander mitteilen sollten, uns eher hüten vor schmutzigen Gesinnungen, da wir uns scheuen, er­kannt zu werden. Die Aufzeichnung soll an die Stelle der Augen der Mitasketen treten, damit wir nicht einmal an Schlimmes denken, da wir beim Schreiben erröten, als ob wir gesehen würden. Wenn wir uns so bilden, können wir den Leib unterwerfen und dem Herrn wohl gefallen, die Listen des Feindes aber vereiteln.“
(Vita Antonii 55)

Hinzu tritt schließlich noch die Empfehlung, einen festen räumlichen Rückzugsort für die Seele aufzusuchen, an dem echte innere Einkehr ermöglicht wird (zu allen Punkten: vgl. Roux 2012).

Die Lektüre der Vita Antonii bietet kein Beispiel für das Ideal einer fuga mundi, wie es von so manchem im Lauf der Zeit aufgefasst wurde, sondern eigentlich das glatte Gegenteil. Es geht um die Herstellung beziehungsweise das Behalten des inneren Gleichgewichts in Situ­ationen des Angefochtenseins und der Desorientierung. Die Fähigkeit hierzu, die ausreichend ausgebildete „Seelenkraft“, erlaubt dann, die bedrängenden Lebenssituationen zu meistern und dank einer reflek- tierten und veränderten Einstellung „gesund“ zu überstehen.

Ignatius von Loyola

Der spätere Ordensgründer Ignatius von Loyola galt bis zu seiner folgenreichen Verwundung in Pamplona im Jahr 1521 als ein heiß­blütiger und aufbrausender Mensch, der in Konfliktsituationen auch schon einmal die Fäuste sprechen lassen konnte. In der sodann folgen­den Zeit der notwendigen Rekonvaleszenz auf dem Krankenbett im elterlichen Schloss Loyola – die zugleich zu seiner inneren Konversion führte – lösten verschiedene Faktoren einen tiefgreifenden Wandel seiner Persönlichkeit aus: Neben der körperlichen Erfahrung seiner schweren Verletzung waren es die eher zufällige Lektüre verschiedener Heiligenviten, die er sich von da an zum Beispiel nehmen wollte, und Zeiten intensiven Gebets in der Schlosskapelle. Ein eher unscheinbares Element in der Ausstattung der Kapelle wird immer wieder in direkte Verbindung mit Ignatius’ persönlicher Selbstfindung in dieser Zeit gebracht (vgl. Crumbach 1971). An einem Gemälde der Verkündigung Mariens war der französischsprachige Wappenspruch „Pour quoy non?“ (Warum nicht?) zu lesen. Das kleine „non“ kann als ignatianischer Türöffner für ein neues Verständnis von menschlicher Freiheit und reflektierter Reaktionsfähigkeit gesehen werden. Während das simple „Warum?“ nach einem konkreten Grund fragt und auf eine Festlegung drängt, kehrt ein „Warum nicht?“ sozusagen die Beweislast um. Es schafft eine neue Perspektive auf das eigene Leben und die real gege­benen Handlungsoptionen. Im Corpus der ignatianischen Schriften findet sich dieses neue Freiheitsverständnis in transformierter Form in den sogenannten „Regeln für das innere Verhalten“ wieder, die er seinen Ordensgenossen mit auf den Weg gab: „Wahr dir in allen Dingen die Freiheit des Geistes! Schiele in nichts auf Menschenrücksicht, sondern halte deinen Geist innerlich so frei, dass du auch stets das Gegenteil tun könntest. Lass dich von keinem Hindernis abhalten, diese Geistesfreiheit zu hüten. Sie gib niemals auf!“ (zitiert nach Rahner 1942, 282 f.).

Kurze Zeit nach seiner Wiedergenesung sollte sich auf dem Weg zur katalonischen Benediktinerabtei Montserrat zeigen, dass Ignatius nun tatsächlich mit alten Verhaltensmustern gebrochen hatte. Als er auf seinem Maultier von einem „Mauren“ eingeholt wurde, ritten beide ein Stück des Wegs gemeinsam und begannen bald angeregt und kontrovers über die Stellung der Jungfrau Maria in Christentum und Islam zu sprechen. Als es Ignatius am Ende nicht gelang, den anderen von seinen religiösen Vorstellungen zu überzeugen, spürte er große „Unzufrieden­heit in seiner Seele“ (Bericht des Pilgers), die er nun gemäß seiner früheren Persönlichkeit impulsiv mit Hilfe des Dolches und einem Racheakt an seinem Mitreisenden abzubauen gedachte. Hin und her­gerissen zwischen seinem früheren Dasein als Ritter und dem damit verbundenen und ihn verpflichtenden Ehrgefühl – Waffengebrauch inklusive – und andererseits seinem neuen Gespür für innere Freiheit entschied sich Ignatius für eine Art Experiment. Vor der nächsten Weggabelung gab er die Führung seines Maultiers mittels seiner Zügel frei. Sollte das Tier den gleichen Weg wie der Maure einschlagen, würde der alte, der ritterliche Ignatius zum Dolch greifen und die Ehre der Gottesmutter verteidigen, ginge es den anderen Weg, bliebe der Streit ungeklärt, aber Ignatius wollte sich dann auch mit diesem Ausgang innerlich anfreunden.

Man kann diese Episode einerseits als Zeugnis für die starke Gebunden­heit des Ignatius von Loyola an mittelalterliche Vorstellungen von einem möglichen göttlichen Eingreifen in die menschlichen Geschicke begreifen. Aus der subjektiven Perspektive heraus zeigt sie aber vor allem den gewandelten, den „resilienteren“ Ignatius, der in einer Konfliktsituation nach dem Motto „Pour quoy non?“ die Spannung zwischen seinen vormaligen reflexhaften Handlungsmustern und einer neu ausgebildeten Haltung gegenüber solchen Situationen erlebte. Diese mehr oder weniger spontan entstandene Übung mit Hilfe des Maultiers, die seinem später ausformulierten spirituellen Ansatz einer contemplatio in actione entspricht, bereitete sicherlich den Weg zum Konzept der ignatianischen Exercitia spiritualia – neben den klassischen Elementen asketischer Tradition, die wir bereits bei Antonius kennen- lernten: Unterscheidung der Geister, Selbstanalyse und innere Einkehr.

Madeleine Delbrêl

Während der geistliche Weg des Ignatius von Loyola sich im Zeitraum des Epochenwechsels vom Mittelalter zur Neuzeit noch ganz in einem gesellschaftlichen Umfeld Europas ereignete, in welchem die aus­schließlich religiöse Deutung und Verarbeitung aller Ereignisse und menschlichen Lebenssituationen als unhinterfragbar galt, soll im letz­ten Beispiel auf eine Frau geblickt werden, die ihr Christinsein unter ganz anderen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Rahmen­bedin­gungen und hieraus resultierend auch mit neuen Perspektiven gestal­tete. Welche Anforderungen stellt das Leben an einen christlichen Menschen in einer „nicht glaubenden Welt“ des 20. Jahrhunderts? Aus welchen Quellen kann ein solcher Mensch seinen Glauben gestalten und auf welche Ressourcen kann er insgesamt zurück­greifen?

Diesen Fragen stellte sich die französische „Mystikerin der Straße“, Madeleine Delbrêl, indem sie die gesellschaftliche und die kirchliche Situation kritisch analysierte. Der Lösungsansatz für ein Christinsein in diesem Kontext, den sie in einem ihrer bekanntesten Texte formulierte, klingt zunächst recht simpel und beinahe naiv:

„Geht hinaus in euren Tag ohne vorgefasste Ideen, ohne die Er­wartung von Müdigkeit, ohne Plan von Gott, ohne Bescheidwissen über ihn, ohne Enthusiasmus, ohne Bibliothek – geht so auf die Begegnung mit ihm zu. Brecht auf ohne Landkarte – und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist und nicht erst am Ziel. Versucht nicht, ihn nach Origi­nalrezepten zu finden, sondern lasst euch von ihm finden in der Ar­mut eines banalen Lebens. Im Glauben haben wir Gott gefunden; wir können ihn weitergeben, wenn wir uns selbst geben, und zwar hier in unserer Stadt. Es geht also nicht darum, dass wir uns irgendwohin davonmachen, das Herz beschwert von der Not der anderen, wir müssen vielmehr bei ihnen bleiben, mit Gott zwischen ihnen und uns.“
(Delbrêl 2018, 31 f.)

Bei genauerem Hinsehen jedoch fußen das zu Grunde liegende Glaubensverständnis und das daraus ableitbare Resilienzkonzept auf einer hoch reflektierten Christologie (vgl. Heimbach-Steins 2005). Madeleine Delbrêl versuchte eine Unterscheidung zwischen dem Wesentlichen der Botschaft Jesu und seiner menschlichen Lebens­umstände zu treffen, was sie zu dem Schluss brachte, nicht das frömmigkeitsgeschichtliche Konzept einer imitatio Christi im  klas­sischen Sinne zu verfolgen, sondern vielmehr darauf zu rekurrieren, „ein Original“ zu sein. Darunter verstand sie, den Kern der Botschaft Jesu von zeitbedingten Umständen zu unterscheiden und nach der authentischen christlichen Lebens­gestalt für die Gegenwart zu suchen, um somit auch den Glauben zu vergegenwärtigen. Was ist in dieser Zeit und im spezifischen kulturellen und sozialen Umfeld notwendig, um der Botschaft Jesu treu bleiben zu können?

Delbrêl begriff die Kommunikation und Darstellung des Glaubens im Hinblick auf das konkrete Lebens­umfeld als zentrale Aufgabe ihres Christinseins, zugleich kritisierte sie im Bereich der Kirche selbst das, was sie als eine „christliche Mentalität“ bezeichnete:

„In Schichten, in denen Christen und Christinnen seit Generationen unter sich leben, hat schließlich eine Verwechslung zwischen dem Glauben und einer ‚christlichen Mentalität‘ stattgefunden. In dieser Mentalität wurde das freie Geschenk Gottes: ihn erkennen zu dürfen als den, der er ist; handeln zu dürfen so, wie er will; das Geschenk des geschaffenen und des ewigen Lebens, der Schöpfung und der erlösen­den Menschwerdung – wurde all dies zu einer Art angeborenem Besitz derer, die im Christentum aufgewachsen sind, ein Erbgut christlicher Familien.“
(Delbrêl 1975, 264)

Ähnlich wie Antonius und Ignatius strebte Madeleine Delbrêl nach Unterscheidung der Geister und nach Selbstreflexion, durch welche ihre Haltung sowohl zur eigenen Glaubenstradition als auch zum nicht gläubigen Lebensumfeld geprägt wurde. Auf der Suche nach dem „Eigentlichen“ ihres Glaubens und der allem zugrundliegenden Kraft­quelle ist das Doppelgebot der Liebe der entscheidende Referenzpunkt:

„Gott einen Ort sichern. Dafür vor allem der Anbetung überantwortet sein. Das Mysterium des göttlichen Lebens auf uns lasten lassen, bis zum Erdrücktwerden. In den Finsternissen der allgemeinen Unwis­senheit Punkte der Bewusstwerdung seines Daseins setzen. Erkennen, dass hier der eigentliche Akt der Erlösung geschieht; glauben im Na­men der Welt, hoffen für die Welt, leiden anstelle der Welt.“
(Delbrêl 1976, 14).

Resümee

Der Asket und Wüstenvater Antonius, der „Pilger“ Ignatius von Loyola und die „Mystikerin der Straße“ Madeleine Delbrêl, alle drei können mit ihrem jeweiligen Ansatz als beispielgebende christliche Biographien hinsichtlich der Bewältigung von persönlichen, aber auch allgemeinen Krisensituationen gesehen werden. Trotz der erheblichen Unterschiede im Hinblick auf ihr historisches Umfeld und die damit verbundenen Herausforderungen gibt es bei ihnen bestimmte Elemente ihrer Resili­enz­fähigkeit, die sich entsprechen: konsequente Introspektion und „Unterscheidung der Geister“, Selbstreflexion, Gebet. Hinzu tritt bei jeder der vorgestellten Personen eine Haltung, die sich im wettkämpfe­ri­schen Messen (Antonius), im experimentellen „Zügel-schleifen-Lassen“ (Ignatius) und im bedingungslosen Lieben (M. Delbrêl) eben­falls als innerlich zusammengehörig erweist. Sie fußt auf einem kind­lich erscheinenden Vertrauen in die göttliche Gnade und auf einem starken Bewusstsein für die Vorläufigkeit, für das Spielerische unserer irdischen Existenz, wie sie auch Hugo Rahner als bestimmendes Merk­mal einer christlichen Lebenseinstellung versteht: „Der Mensch dieser Prägung wäre dann der Mensch der frohen Geistesentbunden­heit, der ichgelösten Hingebekraft, ein Mensch der heiter gewordenen Enttäu­schungen mit dem beschwingten Schritt dessen, der die Welt unter sich hat und nichts mehr von allem Irdischen verfälscht, indem er es zu ernst nimmt. Ein homo vere ludens“ (Rahner 2016, 10).