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Vulnerabilität und Resilienz

Christlich-theologische Perspektiven

Wer umfassend über Resilienz sprechen will, muss auch über Vulnerabilität sprechen. Der Konnex beider Diskurse ist mittlerweile in vielen Wissen­schaften geläufig. Dass gerade die Theologie aus der christlichen Tradition heraus hier Wesentliches beitragen kann, zeigt Hildegund Keul auf.

Einleitung

„Vulnerabilität“ war vor kurzem noch ein unbekannter Zungenbrecher. Aber mit der Corona-Pandemie zeigte sich die Notwendigkeit, über Verwundbarkeit und die besonders vulnerablen Gruppen zu sprechen. In wissenschaftlicher Forschung ist der Begriff schon länger verwurzelt. Dabei fällt auf, dass sich die Forschungen zu Resilienz und Vulnerabili­tät überschneiden, denn sie beziehen sich auf ähnliche Problemlagen. Vulnerabilität ist für die Resilienzforschung eine entscheidende Kate­gorie, denn nur, wo es Wunden und Verwundbarkeiten gibt, braucht es überhaupt Resilienz. Wenn man Resilienz erkennen und erhöhen will, muss man konkrete Verwundbarkeiten erforschen. Folgerichtig ent­wickeln sich die beiden Nachbardiskurse teil­weise unabhängig, teil­weise aber auch in enger Verbindung zueinander. So hat sich die Gegen­überstellung von „Vulnerabilität und Resilienz“ zuerst in Medizin und Psychologie zu einem gängigen Begriffspaar entwickelt. Mittlerweile findet sich dies aber auch in anderen Disziplinen, beispielsweise der Sozialraumforschung, der Katastrophen- und Naturgefahrenforschung oder der Sicherheitsforschung.

Seit etwa 2010 bringt sich die Theologie, die diesen neuen Diskurse lange Zeit ignoriert hatte, verstärkt in die interdisziplinären Debatten ein (Literatur bei Keul 2020, 13–16; Springhart/​Thomas 2017). Eine Verortung der Theologie ist hier umso dringlicher, als der resilienz­fördernde Umgang mit Wunden und Verwundbarkeiten aufgrund der klassischen Themenpalette zu den Kernkompetenzen der Theologie gehören sollte. Wie im Folgenden gezeigt wird, hat die Theologie neue Perspektiven einzubringen, die den Diskurs interdisziplinär befördern und weiterführen. Daher wird zunächst der Vulnerabilitätsdiskurs beleuchtet, dann die Verbindungen zur Resilienzforschung, um abschließend eine christlich-theologische Perspektive zu eröffnen.

Der interdisziplinäre Vulnerabilitätsdiskurs – Resilienz aus Sicht eines Nachbardiskurses

Die menschliche Verwundbarkeit stellt eine unerhörte Macht dar im persönlichen und politischen, sozialen und kulturellen und nicht zu­letzt im religiösen Leben. Körper und Seele sind verwundbar, aber ebenso Städte und Staaten, Religionen und Landschaften. Wie Men­schen und ihre Gemeinschaften mit dieser Vulnerabilität umgehen, ist ein gesellschaftlich relevantes und zugleich höchst prekäres Thema. Seit dem 11. September 2001 zeigt sich dies nach jedem Selbstmordattentat aufs Neue, und jedes Mal wieder mit derselben unerhörten Macht. Der Terror erzeugt zahllose Opfer: die Toten und Verwundeten, aber auch die Angehörigen, die in den Bann des Todes gezogen werden, sowie den Staat, die Gesellschaft und sogar die Religion, die im religionspoli­tischen Attentat angegriffen werden. Die Victimisierung zwingt Ein­zelne, aber auch ihre Gemeinschaften vor die Frage, wie sie auf die Brutalität des Terrors reagieren wollen und mit dieser Verwundung umgehen können. In weitem Sinn gefasst ist dies eine Frage der Resilienz.

Im religionspolitischen Terror zeigt sich etwas, das im Resilienzdiskurs oft präsent, aber wenig thematisiert ist: das Gewaltpotential der menschlichen Verwundbarkeit. Judith Butler hat in ihren Essays „Gefährdetes Leben“ (2005) gezeigt, dass es gerade die Vulnerabilität der USA war, die nach der Zerstörung des New Yorker World Trade Center eine Spirale politischer Gewalt in Gang setzte. Der Staat reagiert auf eine massive Verwundung, indem er versucht, durch eine Verwun­dung Anderer die eigene Verwundbarkeit zu reduzieren. Das Bemühen, die eigene Resilienz zu steigern, kann im Extremfall bis zu gezielter Tötung, Krieg oder Terror führen. Weil man selbst Opfer von Gewalt geworden ist, wird man selbst gewaltsam. Dies funktioniert auf poli­tischer Ebene genauso wie auf persönlicher Ebene, wie es die alltäg­lichen und die spektakulären Familiendramen zeigen. Häufig versucht man sich selbst oder die eigene Institution vor Verwundung zu schüt­zen, indem man zu Sicherungsmaßnahmen greift, die wiederum An­dere der Verwundung aussetzen. Das mehrdimensionale Spannungsfeld von „Verwundbarkeit und Resilienz“ erzeugt ein Gewaltpotential, das vielerorts am Werk ist, von persönlichen Beziehungen bis zu politischen Kriegen.

Die Problematik verschärft sich, wenn man bedenkt, dass es nicht ein­mal eine tatsächliche Verwundung braucht, um solche Mechanismen auszulösen. Die Befürchtung, dass man verwundet werden könnte, reicht häufig als Auslöser. Im Feld der Politik nutzen rechtsradikale Gruppierungen dies als entscheidenden Faktor ihres Machtkalküls. Nicht erst in der tatsächlichen Wunde, sondern bereits in der potentiel­len Gefahr, verwundet zu werden, also in der Verwundbarkeit, steckt eine unerhörte Macht. Sie bestimmt das Handeln einzelner Menschen, ganzer Staaten und Religionen maßgeblich. So geht auch die politische Reaktion auf den Terror meist weit darüber hinaus, realistische Siche­rungsmaßnahmen zu ergreifen, sondern es geht viel mehr noch darum, durch Erstschlagstrategien die eigene Verwundbarkeit insgesamt zu reduzieren.

Judith Butler kommt das Verdienst zu, dass sie im Kontext von 9/11 „vulnerability“ als Schlüsselbegriff in die politische Philosophie ein­führte. Sie verlieh damit jenem Vulnerabilitätsdiskurs neuen Auf­schwung, der bereits in den 1980er Jahren in Armutsforschung und Entwicklungspolitik begann. Der Wirtschaftsökonom und Nobelpreis­träger Amartya Sen regte damals mit seinen Untersuchungen zu Armut und Hungersnöten die Debatte an, so dass sich „Vulnerabilität“ als Schlüsselbegriff etablierte (vgl. Sen 1981). Heute wird „Vulnerabilität und Resilienz“ in der Welthungerhilfe sowie im Weltrisikobericht als Analysekategorie verwendet. Eine weitere Quelle, die dem Diskurs Schubkraft verlieh, kam aus einer ganz anderen Richtung, nämlich aus der Erforschung des Klimawandels. Zur Erfassung von Naturgefahren und Klimafolgen entwickelten die Naturwissenschaften konkrete Kri­terien und machten in Ökologie und Humangeografie die Vulnerabilität messbar. Die medizinischen Fächer hatten es immer schon mit Wunden zu tun und konnten die Verbindung zur Vulnerabilität leicht herstellen. Insbesondere die Psychologie etablierte das Begriffspaar „Vulnerabilität und Resilienz“. In den Geisteswissenschaften führte die US-Philosophin Martha Nussbaum „the vulnerability premise“ in die Debatten um Men­schenrechte und Menschenwürde ein (vgl. Nussbaum 2014, 60–65); das „Wörterbuch der Würde“, das in Philosophie und Politikwissenschaft verortet ist, führt „Verletzlichkeit“ sowie „Verwundbarkeit“ als Lem­mata auf (vgl. Gröschner/​Kapust/​Lembcke 2013, 208–211).

Das Spezifische des Vulnerabilitätsdiskurses liegt darin, dass man nicht nur nach bereits vorhandenen Wunden fragt; vielmehr kommt mit Ver­wundbarkeit eine Zukunftskategorie ins Spiel, die für das gegenwärtige Handlungspotential relevant ist. Man will wissen, wo und warum sich in Zukunft bei einzelnen Menschen, Staaten oder Landschaften Ver­wundungen ereignen könnten. Wenn man die gegenwärtigen Risiken kennt, kann man Maßnahmen zum Schutz, zur Sicherung und Resili­enzförderung entwickeln und ergreifen. In diesem Sinn wurde Vulnera­bilität zum Fachbegriff in so verschiedenen Feldern wie der Bekämp­fung von Krankheit und Armut, in Klimafolgenforschung und Ökologie, in philosophischer Ethik und Friedensforschung, in Medizin und Sozio­logie, in Stadtentwicklungsdebatten oder in den Forschungen zu Resilienz und Glück.

Der Vulnerabilitätsdiskurs ist verbunden mit den vom Soziologen Ulrich Beck ausgelösten Debatten zur „Risikogesellschaft“ (Beck 1986; für die Theologie: Christoffersen 2019) und mit den von Hannah Arendt (vgl. Arendt 1960) angestoßenen Debatten um Natalität im Blick auf die Verwundbarkeiten einer stark wachsenden Weltbevölkerung. Für die Resilienzforschung hat die Zukunftsperspektive von „Verwundbar­keiten“ spezielle Bedeutung, weil nicht nur Wunden selbst, sondern das, was sie im wahrsten Sinn des Wortes „verkörpern“ – nämlich die Verwundbarkeit, in Form der Angst vor erneuter Verwundung –, die Resilienz erheblich beeinflussen kann. Nach einem Gewaltzugriff verkörpern selbst verheilte Wunden in Form von Narben die eigene Verwundbarkeit. Man ergreift Maßnahmen zu Schutz und Sicherung wegen der Verwundbarkeit, die sich in der Narbe verkörpert – und häufig greift man zur Gewalt, um die eigene Resilienz zu steigern.

Victim und Sacrifice – ein Beitrag theologischer Vulnerabilitätsforschung

Wenn sich das Begriffspaar „Vulnerabilität und Resilienz“ in der For­schung etabliert, so stellt sich die spannende Frage, wie sich beide zueinander verhalten. Schnell tritt das Bild einer Waage vor Augen: Wenn die Waagschale Resilienz nach oben geht, so geht die Waagschale Verwundbarkeit nach unten. Dementsprechend verfolgt die Resilienz­forschung primär das Ziel, Verwundbarkeiten zu verringern. Erhöhte Resilienz bedeutet verringerte Verwundbarkeit – und umgekehrt. Unter anderen weist die Psychologin Insa Fooken jedoch darauf hin, dass das so nicht stimmt, denn dann „dürfte es keine (gleichzeitige) Ausprägung von sowohl Vulnerabilität als auch Resilienz geben“ (Fooken 2016, 16). Empirisch lassen sich „scheinbar paradoxe Zusammenhänge“ (ebd.) zwischen Vulnerabilität und Resilienz feststellen. Das Bild von der Waage trifft die Sachlage nicht, sondern das Spannungsfeld ist mehr­dimensional und viel komplexer, als man auf den ersten Blick anneh­men könnte.

Wenn erhöhte Vulnerabilität nicht automatisch zum Absinken der Resilienz führt, stellt sich die Frage, ob es eine Form von Vulnerabilität gibt, die Resilienz steigert. Muss Vulnerabilität wirklich immer zur Schwächung führen? Immerhin heißt verwundbar sein zugleich, dass man berührbar ist, bereit zur Kommunikation mit Anderen, offen zum Austausch mit Fremdem. Das Ziel der Resilienz­forschung, Verwund­barkeiten zu verringern, hat selbstverständlich in weiten Bereichen seine Berechtigung, denn Wunden sind schmerzlich und können sogar lebensgefährlich werden. Dennoch wird hier ein zentraler Aspekt im dynamischen Machtgefüge pluraler Verwund­­barkeiten vernachlässigt. Denn Menschen, Staaten und Religionen versuchen gar nicht immer, eigene Verwundungen zu verhindern. Vielmehr sind sie überaus bereit, ihre eigene Verwundbarkeit zu riskieren und Opfer zu bringen, wenn es um etwas geht, das ihnen heilig ist: Frauen bringen Kinder zur Welt, obwohl das sehr schmerzlich ist und die soziale Vulnerabilität lebens­lang erhöht; Religionen zetteln Selbstmordattentate und „Heilige Kriege“ an, obwohl sie damit Anhänger verlieren und große Risiken eingehen; Staaten öffnen ihre Grenzen und nehmen Flüchtlinge auf, obwohl dies Unsicherheiten aller Art schafft. Daher stellt sich die Frage, ob Verwundbarkeit tatsächlich immer schwächt und gefährdet oder ob und unter welchen Umständen aus Verwundbarkeit Stärke wachsen kann.

An dieser Stelle kommt ein Begriff ins Spiel, der im Überschneidungs­feld von Vulnerabilität und Resilienz verwendet und zugleich in der Theologie intensiv diskutiert wird: das Opfer. Menschen können zum Opfer von Unfällen, Naturkatastrophen, sozialen Behinderungen, Ter­roranschlägen oder familiärer Gewalt werden. Die Resilienzfor­schung fragt danach, wie Menschen solche Ereignisse bewältigen und wie sie damit zurechtkommen, Opfer verschiedener Formen von Ge­walt zu werden. Aus theologischer Sicht fällt auf, dass hier das Wort „Opfer“ nur in einem speziellen Sinn verwendet wird, insofern Menschen Ge­walt erleiden. Verwundbarkeit bedeutet Störung, Verlust, Versagen, Gefahr, Schädigung, Bedrohung. Die Theologie jedoch kennt Opfer nicht nur im Sinn von Victim, sondern sie unterscheidet zwischen Victim und Sacrifice (vgl. Keul 2017, 49–55).

  • Victim bedeutet Opfer, insofern man Schaden erleidet, Gewalt erfährt, verletzt und damit geschwächt wird. Als Victim ist man passiv. Es passiert etwas Schicksalhaftes, auf das man zunächst keinen Einfluss hat – man wird victimisiert.
  • Sacrifice bedeutet das Opfer, das man um eines höheren Zieles willen bringt. Wenn man ein Sacrifice gibt, so ist man nicht passiv, sondern aktiv. Man handelt selbst. Aber jedes Sacrifice hat zugleich einen Victim-Anteil, denn man gibt etwas her, man riskiert die eigene Verwundbarkeit.

Die Bedeutung des Sacrifice für die Resilienz ist bisher nicht erforscht. Hier macht sich das Fehlen der Theologie in einem säkularen Wissen­schaftskontext als Forschungsdefizit bemerkbar. Victim und Sacrifice bilden miteinander ein sehr bewegliches und damit fragiles Spannungs­feld, das es erst noch zu untersuchen gilt. Die Theologie kann hier ana­lytisches Handwerkszeug liefern, wenn sie ihre innertheologischen Opferdiskurse, die sie beispielsweise im Blick auf die Eucharistie führt, in die neuen Diskurse um Vulnerabilität und Resilienz transformiert. Dazu gehört auch und vor allem das Themenfeld des Heiligen, das in säkularen Problemstellungen auftritt und zu „paradoxen Zusammen­hängen“ (Fooken 2016) führt. Die eigene Verwundbarkeit riskiert man nur für das, was einem heilig ist, ganz im klassischen Sinn von tremen­dum (die Angst, dass die Verwundung eintritt), fascinosum (was einen zu dem Risiko „verlockt“ und nicht mehr loslässt) und augustum (der Le­bensgewinn, den man sich davon erhofft). Dieses Heilige findet sich auch in ganz alltäglichen Dingen, z. B. wenn sich ein Paar entschei­det, Kinder zu bekommen: Bei aller Sorge, dass das große Beeinträchtigun­gen mit sich bringt oder dass man sich vor der zu großen Verantwor­tung fürchtet, ist der erhoffte Lebensgewinn so groß, dass man dieses Wagnis der Verwundbarkeit freiwillig eingeht.

Mit der Erforschung von Victim und Sacrifice, Profan und Heilig im Re­si­lienzdiskurs kann man die pluralen, auch kreativen Machtwirkun­gen von Vulnerabilität analysierbar machen. Dies bedeutet aber zu­gleich, dass man den binären Code von „vulnerabel, unsicher, gefährdet, schwach, angreifbar“ versus „resilient, sicher, stark, belastbar, ge­schützt“ durchbricht. Verwundbarkeit muss keine Schwäche sein und Resilienz mindern. Vielmehr kann das freiwillige Riskieren eigener Verwundbarkeit ein Sacrifice sein, das sogar aus einer Situation der Victimisierung herausführt und Resilienz stärkt. Wenn beispielsweise das eigene Kind bei einem Unfall ums Leben gekommen ist und die Eltern sich später mit großem Zeitaufwand, Geldressourcen, Kreativität und Leidenschaft dafür engagieren, dass die Unfallursache in ihrem Gefährdungspotential reduziert wird, so handelt es sich bei dem Enga­gement um ein Sacrifice, das Resilienz stärkt. Das aufopfernde Engage­ment zum Andenken an das verstorbene Kind setzt neue Lebens­ressour­cen frei, indem es Ressourcen verschwendet. Zu Recht nennt Insa Fooken das „paradoxe Phänomene“, aber mit der Unterscheidung von Victim und Sacrifice werden solche Phänomene besser analysierbar. Zu erforschen wäre auch, inwiefern dieser Theoriehintergrund z. B. in der pastoralen und therapeutischen Praxis weiterführt, wo es um die Bewältigung von Gewalterfahrungen geht. Kann man generell sagen, dass ein Sacrifice die Potenz hat, aus der Victim-Rolle herauszukom­men? Welches Sacrifice könnte das im konkreten Fall sein, das eine resilienzfördernde Antwort auf die Gewalterfahrung gibt? Wenn die Theologie sich auf solche Forschungsfragen einlässt, kann sie den Resilienzdiskurs interdisziplinär voranbringen und entscheidend befördern.

Allerdings überwindet nicht jedes Sacrifice eine Victimisierung. Im Gegenteil, häufig wird ein Sacrifice gebracht, das selbst unerhörte Victimisierungen in Gang setzt. Offensichtlich ist dies bei jenem religiös motivierten Terror, der in diesen Jahren Europa gravierend verändert. Der Terror nimmt die Gewalt gegen Andere nicht nur in Kauf, sondern strebt sie gezielt an. Er fühlt sich von einer möglichst hohen Zahl mög­lichst blutiger Menschenopfer in seinem Sacrifice bestätigt. Das Opfer, das man um eines höheren Zieles willen bringt, wird sogar häufig, auch in alltäglichen Kontexten, aus den Ressourcen anderer Menschen ge­raubt – die Bodenschätze anderer Länder, die Arbeitskraft von Men­schen in ruinösen Arbeitsbedingungen, die Ressourcen späterer Genera­tionen, die Lebensressourcen von Flüchtlingen jenseits der Grenze. Hier entwickelt das Sacrifice eine gewaltpotenzierende Wirkung. Damit er­öffnet sich ein weites Forschungsfeld, wo zu untersuchen ist, inwiefern auch in alltäglicheren Kontexten ein Sacrifice zu Victimisierungsprozes­sen führt – oder aber Leben eröffnet.

Inkarnation – freiwillige Verwundbarkeit als Praxis der Humanität

Ein Sacrifice kann Gewalt potenzieren, es kann aber auch Gewalt redu­zieren und Leben eröffnen. Um diese Problematik geht es in der christ­lichen Theologie, speziell in der Christologie. Von der Inkarnationslehre aus kann die Theologie daher heute ganz neu in die interdisziplinären Debatten um Vulnerabilität und Resilienz einsteigen. Judith Butler stellt im Blick auf 9/11 die Frage, „was politisch gesehen aus der Trauer anderes entstehen könnte als der Ruf nach Krieg“ (Butler 2005, 7). Nach dem Tod Jesu am Kreuz standen seine Jüngerinnen und Jünger vor der­selben Frage. Besonders eindrücklich wird das bei Maria Magdalena, die schluchzend am Grab Jesu steht, ohnmächtig, verzweifelt und aller Lebenshoffnungen beraubt (Joh 20,1–18). Die Frauen und Männer in der Nachfolge Jesu waren nach dessen Tod Trauernde, die darum ringen mussten, ob sie ohnmächtig verstummen (diese Gefahr zeigt Maria Magdalena) oder zornig zu den Waffen greifen (diese Gefahr zeigt der Jünger, der bei der Gefangennahme Jesu das Schwert zieht). Aber die junge Kirche entwickelte zu dieser Alternative ein Drittes. Dieses Dritte gilt es heute in jene Wissenschaftsdiskurse einzubringen, die dazu beitragen wollen, dass Einzelpersonen, soziale Gruppen, Staaten und Religionen resistenter werden gegenüber verletzenden Gewaltzugriffen. Auch im Blick auf religionspolitische Konflikte kann die Theologie hier mit innovativer Forschung wissenschafts-, gesellschafts- und politik­relevant werden, indem sie ihre Kenntnis der vielschichtigen Macht­wirkungen von Wunden und Verwundbarkeiten einbringt, neu verortet und erheblich erweitert. Was bedeutet dieses Dritte, aus dem der Glau­ben an die Auferstehung lebt, für das Christentum, das in der globalen Gewaltproblematik von Verwundbarkeit selbst ein entscheidender Machtfaktor ist?

In einer Welt der Gewalt wollen Staaten und ihre Bürger/innen mög­lichst unverwundbar sein. Ein Gott aber, der Kind wird, durchbricht dieses Denken. Mit Geburt, Leben, Tod und Auferstehung Jesu weist die Inkarnation auf eine Alternative im Umgang mit Vulnerabilität hin (vgl. Keul 2012). Auf die Risiken des Lebens und die Wunden der Welt ant­wortet Gott nicht, indem er sich unverwundbar macht und unverwund­bar bleibt. Vielmehr geht er das Wagnis der Verwundbarkeit ein. In einer gewagten Gabe seiner selbst stellt er sich den körperlichen, sozialen, kulturellen und religiösen Verletzungen des menschlichen Lebens. Er wird Mensch und offenbart sich als schutzbedürftiges Kind. Um leben zu können, braucht dieses Kind den Geburtsschmerz der Mutter Maria, den Besuch der armseligen Hirtinnen und Hirten, die Gaben der daher­gelaufenen Sterndeuter, den beharrlichen Beistand des sozialen Vaters Josef.

Jedes Neugeborene führt die Verwundbarkeit als unausweichliche Tatsache des Lebens vor Augen. Es braucht die Gaben, ja die Hingabe anderer Menschen, damit es überhaupt leben kann. Die Vermeidung von Verwundung allein reicht daher nicht aus für ein humanes Leben. Dies gilt für jedes Neugeborene genauso wie für die gesamte Mensch­heit. Sie braucht um ihrer Humanität willen Menschen, die sich in der Liebe verletzlich machen. Erst die gewagte Hingabe macht das mensch­liche Leben human: Menschen, die ihre Arbeit hingebungsvoll tun, die Kinder gebären und versorgen, sich leidenschaftlich für Frieden enga­gieren, gefährdete Menschen schützen, in der Wahrheitskommission schmerzliche Tatsachen offen benennen, einen sexuellen Missbrauch zur Anklage bringen, einer Diktatur entgegentreten. Das alles erhöht die eigene Vulnerabilität. Es sind Bewegungen, die dem Selbstschutz vor Verwundung entgegenlaufen. Sie können sogar tödlich ausgehen.

Um dieses Risiko einzugehen, braucht es das, was Jesus als hohe Kompe­tenz zugesprochen wird, nämlich die Bereitschaft und Fähigkeit, Leiden zu ertragen. Zu scheitern, das ist in der Hingabe eine reelle Gefahr. Aber nur, wenn sie sich dieser Gefahr stellt, kann die Hingabe Leben erschlie­ßen. Und das Markante hieran ist: Sie entwickelt eine eigene Power, eine Macht aus Verwundbarkeit. Diese Macht kann kein Mensch erzeu­gen. Wo immer sie entsteht und wirksam wird, ist sie das, was die Theo­logie Gnade nennt. Diese „Andersmacht“ sorgt dafür, dass die Resilienz nicht sinkt, sondern steigt. Wenn Menschen das Wagnis der Verwund­barkeit eingehen, entsteht eine Macht, die sogar Diktaturen zu stürzen vermag. Das hat der Herbst 1989 gezeigt, wo Kerzen und Friedenslieder stärker waren als die bereits in Stellung gebrachten Waffen.

Dabei geht es keineswegs darum, bedenkenlos Risiken einzugehen. Die entscheidende Doppelfrage lautet vielmehr:

  • Wo ist Schutz vor Verwundung notwendig?
  • Und wo ist Hingabe, eine Praxis freiwilliger Verwundbarkeit, gefragt?

Selbstschutz ist schlicht lebensnotwendig. In unserer Gesellschaft wer­den wir ständig an ihn erinnert, beispielsweise von Versicherungsunter­nehmen, politischen Parteien und lautstarken Demonstrationen. Wer sich nicht vor Verwundungen schützt, wird das schnell mit dem Leben bezahlen. Um ein humanes Leben zu führen, genügt Selbstschutz jedoch nicht, denn dieser erfordert immer höhere Mauern, mächtigere Grenz­anlagen und schärfere Waffen. Die Inkarnationschristologie bringt in die Auseinandersetzungen um Vulnerabilität, Sicherheit und Resilienz das Wagnis der Hingabe ins Spiel. Sie setzt auf diese andere Lebensmacht, die im Wagnis der Verwundbarkeit entsteht und die der Humanität dient. In der Verwundbarkeit ist nicht nur jene unerhörte Macht am Werk, die Gewalt potenziert und Menschen victimisiert. Der Apostel Paulus hat vielmehr jene andere Macht ins Wort gebracht, als er sich vor Gott über eine Verwundung, den berühmten Stachel im Fleisch, be­klagte. Er hörte die Antwort: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2 Kor 12,9). Diese andere Macht aus Verwundbarkeit ist dort am Werk, wo Menschen ihre eigene Verwundbarkeit aufs Spiel setzen für ihre Mitmenschen, die in Not geraten sind. Wenn man im Sinne der Inkarnation Andere zu schützen und zu fördern versucht, so kann in diesem Wagnis eine neue Macht entstehen, die Leben eröffnet, schützt und damit ganz anders sichert. Diese Andersmacht, die den Gewaltspiralen der Verwundbarkeit wider­steht, ist nicht exklusiv bei Jesus oder in der Kirche am Werk, sondern im Leben aller, die in der Gewaltsamkeit menschlicher Vulnerabilität Hingabe wagen.

Die Jüngerinnen und Jünger konnten nach dem Tod Jesu auf das zurück­greifen, was er selbst angesichts des bevorstehenden Todes gesagt hatte: „Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und reichte es ihnen mit den Worten: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ (Lk 22,19; vgl. 1 Kor 11,23–29). Politi­sche Machtstrategien würden nahelegen, dass er zur Rache aufruft ge­gen das bodenlose Unrecht, das ihm geschieht. Aber er beauftragt sie mit etwas ganz anderem: dass sie zu seinem Gedächtnis Brot brechen und Wein miteinander trinken; dass sie ihre Ressourcen teilen und miteinander das Leben feiern. Aus diesem Auftrag entwickelt die junge Kirche die Abendmahlsfeier. Was bedeutet dieses Ritual, das Gewalt reduziert und Frieden eröffnet, für die heutige Resilienzforschung – nicht nur im innerkirchlichen Bereich, sondern auch in säkularen Kon­texten? Inwiefern ist Glauben hier resilienzfördernd, und wie kann die­se Ressource auch Menschen zur Verfügung gestellt werden, die den christlichen Glauben selbst nicht vertreten?

Diesen Fragen lassen sich zahlreiche weitere anschließen, denn die Theologie steht gegenwärtig vor einer höchst spannenden Herausforde­rung. Welche Perspektiven, Analysewerkzeuge, Ressourcen kann sie den Diskursen zu Vulnerabilität und Resilienz zur Verfügung stellen? Um dies herauszufinden, ist es notwendig, die innertheologischen Debatten wie die zur Christologie, die für andere Wissenschaften als geschlossen erscheinen und auf die sie sich kaum beziehen können, zu öffnen, in­dem sich die Theologie inhaltlich und sprachlich auf die interdisziplinä­ren Debatten einlässt. Die Anschlussfähigkeit ihrer Sprache, die sich an der Tradition orientiert und daher stark von Debatten der Vergangenheit formatiert ist, wird neu gewonnen. Indem geschlossene Argumenta­tionsmuster aufgebrochen werden, entdeckt sie die Relevanz ihrer The­men in wissenschaftlichen Diskursen neu und thematisiert diese so, dass andere Wissenschaften ihre Ergebnisse aufgreifen und mit ihnen weiterarbeiten können. In den Debatten um Vulnerabilität und Resili­enz steht die Theologie noch am Anfang. Sie betritt Neuland, das noch manche Überraschung bereithalten wird.

 

Dieser Beitrag wurde in aktualisierter Form übernommen aus: Münchener Theologische Zeitschrift 67 (2016) 224–233. Wir danken für die freundliche Abdruckerlaubnis.