Plädoyer für aktive Widerstandsfestigkeit
Von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung wurde nachhaltige Entwicklung bekanntlich folgendermaßen definiert: Nachhaltig ist eine Entwicklung, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen“. Als der Umweltökonom Dennis Meadows 1972 sein Buch Grenzen des Wachstums veröffentlichte, gab es noch, wie er selbst heute rückblickend sagt, zwei mögliche Zukunftspfade für eine globale Gesellschaft: overshoot (Überschreitung) oder sustainable development (nachhaltige Entwicklung). Meadows zufolge müssen wir uns heute eingestehen, dass wir den Überschreitungspfad gewählt haben (vgl. Meadows 2012, 2). Die Handlungsmöglichkeiten zukünftiger Generationen werden von uns immer mehr eingeschränkt. Wir bringen sie in eine Situation, in der sie allenfalls noch reagieren, aber nicht mehr aktiv gestaltend eingreifen können. Papst Franziskus scheint diese Dramatik erkannt zu haben, ist doch von Nachhaltigkeit in seiner Umweltenzyklika Laudato si’ nur in attributiver Weise die Rede.
Die Welt, wie wir sie kennen, wird es zukünftig nicht mehr geben. Im Fokus klimapolitischer Debatten steht deshalb zunehmend die Frage nach Anpassungsstrategien. Das heißt: Wir müssen uns, unsere Kinder und unsere Systeme resilient machen.
Der Begriff der Resilienz stammt aus der Psychologie und Pädagogik. Mit ihm werden bestimmte Bewältigungskompetenzen bezeichnet. Häufig wird Resilienz missverstanden als ein passives Ertragenkönnen. Es geht aber nicht um Passivität, sondern um eine Widerstandsfestigkeit, die in unvorhersehbaren Situationen Handlungsfähigkeit ermöglicht. Die Psychologin Corina Wustmann zeigt, dass Resilienz keine Fähigkeit ist, mit der wir auf die Welt kommen (vgl. Wustmann 2005). Sie ist auch keine Fähigkeit, die sich wie andere Fähigkeiten erwerben lässt. Selbst dann, wenn wir uns einmal als resilient erwiesen haben, so heißt das keineswegs, dass wir uns auch in anderen Situationen als resilient erweisen werden. Meadows versteht unter Resilienz die Fähigkeit, Schock zu absorbieren und schnell die Fähigkeit wiederzuerlangen, essentielle Funktionen auszuüben. Er denkt systemisch: „Wenn ein resilientes System fortfährt, ohne Unterbrechung zu funktionieren, dann ist es stabil. Wenn ein resilientes System das Funktionieren kurzfristig aufkündigt und dann fortsetzt, ist es flexibel. Wenn ein System nicht resilient ist, ist es brüchig, zerbrechlich“ (Meadows 2012, 24). Mir geht es im Folgenden vor allem um die habituelle Dimension von Resilienz, um eine Haltung, die Resilienz erzeugt. Es kommt mir also mehr auf eine Disposition an. Dabei möchte ich Resilienz als ein Empowerment verstehen, das uns und vor allem unsere Kinder ermächtigt, selbst unter schwierigen Bedingungen ein humanes Leben zu führen.
Die Resilienzforschung zeigt, dass Bindungsfähigkeit für die Ausbildung von Resilienz unerlässlich ist. Des Weiteren, so fasst es die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt zusammen, werden Menschen gestärkt durch ein „Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft, das Vertrauen in die Bedeutung der eigenen Person und des eigenen Handelns […]“ (Berndt 2013, 72). Insbesondere frühzeitige Verantwortungsübernahme wird genannt. Es ist die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, durch die ein Selbstwertgefühl ausgebildet wird. Starksein im Sinn der Resilienz bedeutet nicht, unverwundbar zu sein. Im Gegenteil! Gerade die Verbindung mit anderen Bezugspersonen setzt Empfindlichkeit für die spezifischen Verwundbarkeiten anderer Menschen voraus. Resilienz schützt jedoch nicht vor Zweifel und Verzweiflung, aber vor Gleichgültigkeit. Resilienz ist deshalb gerade keine Anpassungsstrategie. Ein Missverständnis, das besonders heute vorherrschend ist.
Die erste Frage in der Situation der Katastrophe lautet nicht: „Was kann ich tun?“, sondern: „Was kann und muss ich lassen und loslassen?“ (Gruhl 2010). Widerstandsfestigkeit verlangt Gelassenheit. Laut dem Literaturwissenschaftler Thomas Strässle enthält diese Tugend drei Aspekte: Ablassen, Zulassen, Überlassen (vgl. Strässle 2013). Ablassen von dem, was jemand eigentlich gar nicht tun möchte. Mit anderen Worten: nicht zu tun, was ich nicht will. Wer ablassen kann, kann auch zulassen: den anderen Menschen in seiner Anderheit und Andersheit anerkennen. Zulassen fördert Fürsorge und Vorsorge für zukünftige Generationen. Durch Ablassen und Zulassen entsteht Vertrauen in sich und andere und damit die Fähigkeit des Überlassens: sich anderen zu überlassen, sich ihnen anzuvertrauen. Und zu ergänzen wäre das Loslassen.
Von der Resilienz ausgehend lässt sich der Begriff der Nachhaltigkeit noch einmal anders lesen. So definiert der Lehrer Wilhelm von Humboldts, Joachim Heinrich Campe, den forstwirtschaftlichen Fachausdruck 1809 wie folgt um: „Nachhalt ist das, woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält“ (zitiert nach Grober 2010, 143). Angesichts der Erhitzungskatastrophe ist der Begriff der „Nachhaltigkeit“ um die Dimension des Nachhaltes im Sinne der Widerstandsfestigkeit zu ergänzen.
Ein anderes Wort für Nachhalt ist Haltung. Ein kontemplatives Leben kann Haltung hervorbringen. Kontemplation ist von Meditation zu unterscheiden. Unter Meditation wird gegenwärtig oft eine Technik verstanden, die es Menschen ermöglicht, sich zu sammeln, in ihren Atemrhythmus zu finden, ruhig zu werden. Solche Techniken sind gut und wichtig. Aber Kontemplation ist keine Technik. Kontemplation heißt sich und anderes aus der Nähe betrachten. Es erfordert, wie Baldur Kirchner dargelegt hat, die Bereitschaft zur Selbstreflexion, zum Loslassen und zur Wachheit (vgl. Kirchner 2008). Kontemplieren bedeutet, einfach zu sein, das heißt, ohne Absicht zu sein – und nichts mehr. Kontemplation ist nichts Esoterisches, keine reine Innerlichkeit. Sie schließt nicht vom Außen ab. Sie lässt das Äußere ins Innere hinein und verknüpft das Innere in neuer Weise mit dem Äußeren. Ein kontemplatives Leben besteht in der wechselseitigen Verschränkung von Selbstveränderung und Gesellschaftsveränderung. In der Kontemplation macht der Mensch eine paradoxale Erfahrung. Indem er die Kontrolle über sich aussetzt, gewinnt er sie in neuer Weise. Kontemplation eröffnet einen Raum, in dem sich anderes einstellen kann. Es ist ein Geschehen, das öffnet: für Unterdrücktes – biographische Ruinen –, für Neues und für das Grundbefinden der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz. Wer kontempliert, weiß um seine eigene Unzulänglichkeit. Deshalb muss ein Mensch, der kontempliert, seine Mitmenschen auch nicht abwerten. Ein kontemplatives Leben schafft Raum für Andere und Anderes.
Kontemplation ist ein aufmerksames „Sich-Aussetzen“. Aus der Kontemplation erwachsen unter anderem Lebensaktivität, Demut, Gesprächsfähigkeit. Kontemplation ist ein Milieu, in dem Haltung wachsen kann. Ein kontemplatives Leben ist das Gegenteil eines entfremdeten Lebens. Entfremdung ist eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (Jaeggi 2005). Entfremdet leben heißt ohne Resonanz zu uns selbst und zu unserer Umwelt leben. Der kontemplative Weg bricht die Entfremdung zur eigenen Person, zu den Mitmenschen, zu nicht-menschlichen Lebewesen und der übrigen Natur auf. Es gibt deshalb auch keine Kontemplation ohne Aktion. Der kontemplierende Mensch wünscht sich die Welt nicht weg. Weltverstrickung ist die Voraussetzung für Kontemplation.
Angesichts der Erhitzungskatastrophe brauchen wir Resilienz als eine Widerstandsfestigkeit, die durch eine Haltung ausgezeichnet ist, welche sich in einer aktiv-kontemplativen Aufmerksamkeit für die Welt einstellt, die wiederum ihre Festigkeit im Widerstand gegen einen extraktivistischen Kapitalismus gewinnt, der eine Welt- und Selbstentfremdung zur Folge hat, die dazu führt, dass wir uns immer mehr von der Zukunft dieser Welt verabschieden und durch dieses Verhalten die zukünftigen Generationen fatalisieren.