Churches Online in Times of Corona (CONTOC): Ergebnisse zur CONTOC-Studie
Die Corona-Pandemie hat, beginnend mit der ersten Hochphase im Frühjahr 2020, wie bekannt in vielen Lebensbereichen einen Digitalisierungsschub in Gang gesetzt, so auch in den christlichen Kirchen. Versammlungs- und Kontaktbeschränkungen zur Eingrenzung der Pandemie betrafen auch Gottesdienste und alle anderen Zusammenkünfte im kirchlichen Kontext. Digitale Medien boten eine viel genutzte Möglichkeit, in dieser Ausnahmesituation Gottesdienste, Seelsorge, diakonische und weitere Angebote weiterzuführen.
Bereits kurz nach der Phase rund um Ostern 2020, in der in Deutschland öffentliche Gottesdienste für mehrere Wochen ausgesetzt waren, startete eine ökumenische und internationale Forschungsgruppe aus Pastoraltheolog:innen, Religionspädagog:innen und Sozialwissenschaftler:innen eine Studie zu den digitalen Aktivitäten der Kirchen in dieser Zeit. Den Initiator:innen aus dem deutschsprachigen Raum schloss sich ein internationales Netzwerk von Forscher:innen aus weltweit über 20 Ländern an.
Das Projekt unter dem Titel CONTOC (Churches Online in Times of Corona) konzentriert sich auf die Perspektive der hauptamtlichen Seelsorgenden insbesondere in den Gemeinden/Pfarreien. Kernstück des Forschungsprojekts ist eine Online-Befragung, die von Ende Mai bis Mitte Juli 2020 durchgeführt wurde. Dabei wurden vorrangig quantitative Daten erhoben, ergänzt durch einige qualitative Punkte in Form von offenen Fragen. Die potentiellen Teilnehmer:innen wurden in Deutschland über die katholischen Bistümer und die Gliedkirchen der EKD zur Beteiligung eingeladen. Die Beschränkung auf die hauptamtlichen Akteur:innen und die direkte Ansprache auf offiziell dienstlichen Wegen sollte eine repräsentative und international vergleichbare Stichprobe gewährleisten. Insgesamt beteiligten sich in Deutschland über 3.500 hauptamtliche Seelsorger:innen an der Befragung. Zwar liegt die Annahme nahe, dass sich an einer Online-Befragung vor allem digital affine Personen beteiligen und die Ergebnisse entsprechend nicht repräsentativ sind, die Verteilung der soziodemographischen Merkmale (Alter, Geschlecht, Geographie) spricht allerdings für eine repräsentative Teilnehmer:innengruppe. Auch gibt ein Fünftel der Befragten an, keine eigenen digitalen Angebote gemacht zu haben – es wurden also offenbar nicht nur die digitalen Vorreiter erreicht.
Gefragt wurde nach Nutzung und Einsatz digitaler Medien im kirchlichen Handeln, aber auch nach Aspekten wie Kooperation, Rollenverständnis, Unterstützungsstrukturen und weiterem Handlungsbedarf in Bezug auf die Digitalisierung.
Die deutsche Sektion der Forschungsgruppe unter der Leitung von Ilona Nord, Wolfgang Beck und Georg Lämmlin stellte die Ergebnisse ihrer Auswertung am 13.4.2021 im Rahmen einer Online-Tagung vor; wenig später wurde der hier vorgestellte Forschungsbericht veröffentlicht. Eine umfassende Publikation zur Studie wurde für Ende 2021 in Aussicht gestellt.
Das erste Ergebnis, das die Autor:innen präsentieren, ist die aus ihrer Sicht auf dem Hintergrund der bisher eher kritisch geprägten kirchlichen Äußerungen und Diskurse zum Thema überraschend positive Einschätzung der Digitalisierungsprozesse in den Kirchen: Rund drei Viertel der Befragten sehen darin eher Chancen als Risiken, der Anteil der eher Skeptischen liegt im einstelligen Bereich. Die Forscher:innen konstatieren eine „sehr realistische Haltung unter den Befragten […]: Es gibt weder aufgrund der quantitativen noch aufgrund der qualitativen Daten Anlass von einem ‚Technikhype‘ oder von einer ‚Technikangst‘ zu sprechen. Wir leben in Zeiten, in denen die Digitalisierung zum Normalfall geworden ist und man sich mit ihr konkret auseinandersetzen muss“ (4; alle Seitenzahlen beziehen sich auf die unten verlinkte PDF-Fassung). Die Befragten äußern Bedarf, die Erfahrungen und die dadurch aufgeworfenen Fragen theologisch zu reflektieren. Einsatz und positive Einschätzung der digitalen Medien unterscheiden sich nicht signifikant zwischen den Geschlechtern – offenbar gibt es keinen „digitalen Gender-Gap“ (vgl. 6).
Eine Veränderung ihrer Rolle durch die Digitalisierung nehmen die befragten Hauptamtlichen nicht wahr, wohl aber eine Veränderung der Formen der Präsenz (6 f.). Handlungsbedarf sehen sie bei der Weiterbildung zum Thema, besserer technischer Infrastruktur, der Begleitung von Ehrenamtlichen in diesem Handlungsfeld und der theologischen Reflexion. All das spricht m. E. dafür, dass sie nicht damit rechnen, das digitale Engagement bald wieder auf den Status „vor Corona“ zurückzufahren. Die Forscher:innen stellen fest, dass „die Befragung zeigt, wie sehr die Krise die Innovationswilligkeit und das Innovationspotential der Befragten sichtbar macht“ (8). Die Corona-Krise wird in den offenen Antworten als Chance für Veränderung und zum Experimentieren angesprochen. Digitale Angebote werden als Ergänzung zu den gewohnten Formen verstanden, nicht als Abbruch oder Konkurrenz (vgl. 9).
In der Krisensituation hat sich ein großer Teil der Befragten in Bezug auf die Herausforderungen der Digitalisierung von den höheren und mittleren Ebenen ihrer Kirche nicht oder wenig unterstützt gefühlt (vgl. 11).
Bezogen auf Gottesdienste zeigt sich die Wahrnehmung, durch die digitalen Formen mit Menschen in Kontakt zu kommen, die vor Ort nicht teilnehmen würden und/oder könnten (vgl. 10). Die Angaben zu den digital angebotenen Gottesdienstformen zeigen eine große Vielfalt: Wortgottesdienste, Andachten und geistliche Impulse, Eucharistie-/ Abendmahlsfeiern, Gebetsgottesdienste sind unter anderem vertreten (vgl. 11). Hier zeigt sich einer der wenigen größeren Unterschiede zwischen den Konfessionen: Während im katholischen Bereich die Eucharistiefeier von 24 % der Befragten als digitales Gottesdienstangebot genannt wird und so einen großen Anteil hält, bringt es die digitale Abendmahlsfeier bei den evangelischen Befragten nur auf 5 %. Dabei ist bei der digital übertragenen Eucharistiefeier vorausgesetzt, dass der materielle Empfang der Kommunion für die medial verbundenen Teilnehmer:innen nicht möglich ist und sie auf die „geistliche Kommunion“ verwiesen sind, während im evangelischen Kontext das digitale Abendmahl eher impliziert, dass die von fern Teilnehmenden bei sich Brot und Wein bereitstellen und damit das Abendmahl physisch empfangen können – eine allerdings auch innerhalb der evangelischen Kirchen umstrittene Praxis.
Bildungsangebote wurden im Gegensatz zu Gottesdiensten kaum digital umgesetzt. Seelsorge fand auf gemeindlicher Ebene telefonisch oder auch per Videochat statt (vgl. 12); die klassische Internetseelsorge als Mailseelsorge ist eher auf Bistums- bzw. Landeskirchenebene angesiedelt.
Im Blick auf die beiden Konfessionen jeweils für sich fallen bei den evangelischen Teilnehmer:innen ein Fokus auf das eigene Lernen in Bezug auf Digitalisierung auf sowie Zweifel, vor allem der Rolle als Seelsorger:in in der Pandemiesituation gerecht geworden zu sein (vgl. 15 f.). Die katholischen Befragten fühlten sich in ihrem kreativen Agieren ermutigt und bestätigt, zeigen sich irritiert über die medialen Diskussionen um Gottesdienstübertragungen und äußern die Erwartung, durch Weiterbildung und verbesserte Infrastruktur von Bistumsseite besser unterstützt zu werden. Wichtig ist ihnen die Zusammenarbeit vor Ort bei der Entwicklung ihrer digitalen Angebote und die Ermöglichung von Partizipation beim digitalen Gottesdienst (vgl. 17 f.).
Die Autor:innen verstehen die Studie „als ein Projekt zur Generierung von Fragen für die gegenwärtige Kirchenentwicklung“ (5). Der vorliegende erste Einblick in die Ergebnisse benennt hier viele Themen, die nicht nur im Rahmen von digitalen Angeboten, sondern vielfach auch in anderen kirchlichen Kontexten anstehen: Bilden und Gestalten von Gemeinschaft, liturgische Partizipation, Sakramentalität, Rollenverständnisse, das Miteinander von Haupt- und Ehrenamtlichen, subsidiäre Unterstützung durch höhere Ebenen. Etwas beschränkend wirkt m. E. der stark auf Gemeinde vor Ort und hauptamtliche Akteure bezogene Fokus der Studie, der weitere Fragen, die diesen eng territorial und personell bezogenen Kontext überschreiten, von vornherein ausblenden muss – wie etwa den Umgang mit digitalen Eigeninitiativen von Gläubigen ohne gemeindliche Rückbindung und den damit verbundenen Kontrollverlust, die Infragestellung des territorialen Prinzips durch digitale Angebote oder auch die nicht nur übergemeindliche, sondern auch bistums- bzw. landeskirchenübergreifende Vernetzung und Kooperation.
In jedem Fall wird deutlich, dass der Digitalisierungsprozess, den die Corona-Krise angeschoben hat, mit den Themen der Kirchenentwicklung eng verzahnt ist und das Digitale auch für die Kirchen endgültig keine fremde Sonderwelt mehr ist. Es bleibt zu hoffen, dass die Kirchen diese Veränderungsprozesse positiv aufnehmen und gestalten können.