Das Fremde und das Eigene
Deutschland als Einwanderungsland
Ein Vierteljahrhundert ist das erst her: die friedliche Revolution, die Überwindung des Ost-West-System-Konflikts, die Vereinigung Deutschlands und die Überwindung der Spaltung Europas. Welche Euphorie damals, welche Hoffnungen auf ein goldenes Zeitalter des Friedens! Das Ende der Geschichte, der endgültige Sieg war von einem Politikwissenschaftler (Francis Fukuyama) verkündet worden. Ein Vierteljahrhundert ist das erst her. Und schon wieder erleben wir eine neue dramatische Wendung der Geschichte. Hunderttausende Flüchtlinge kommen nach Europa, nach Deutschland – eine Bewegung, die vermutlich anhalten wird und die manche von einer neuen Völkerwanderung sprechen ließ. Sie trifft auf ein verunsichertes, zerstrittenes Europa, Deutschland darin eingeschlossen. Keiner weiß genau, welche Veränderungen diese Entwicklung bewirken wird, vermutlich aber werden die Wirkungen der nun nicht mehr leugbaren Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist, viel folgenreicher sein als die der Wiedervereinigung. (Noch in den 90er Jahren vertraten CDU/CSU-Abgeordnete im Bundestag die Meinung, Deutschland sei kein Einwanderungsland, obwohl doch Millionen Bürger ausländischer Herkunft bereits seit Jahrzehnten in Deutschland arbeiteten und lebten. Die Lebenslüge der alten Bundesrepublik wirkte offensichtlich lange nach.) Wir haben in Deutschland und in Europa in den vergangenen beiden Jahren erlebt, wie sich durch die Flüchtlingsbewegung die politische Tagesordnung und die gesellschaftliche Stimmung heftig verändert haben. Aber nicht nur durch die Flüchtlingsbewegung, die ja selbst Teil eines umfassenderen Prozesses ist, den wir Globalisierung nennen.
Die Herausforderung der Globalisierung
Globalisierung, das meint die Entgrenzung und Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung, der internationalen Arbeitsteilung, des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts. Mit und seit der Finanzmarkt-Krise erleben wir die Rückseite der Globalisierung, vor allem eine Verschärfung sozialer Gegensätze, der Reichtums-Armuts-Unterschiede – auch in Deutschland. Selbst das Weltwirtschaftsforum Davos beklagt die wachsende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit als eine große Gefahr für die Welt. Viele erleben die Globalisierung als Gefährdung, ja als Verlust des Primats demokratischer Politik gegenüber den Märkten, gegenüber finanzökonomischer Macht. Ein Gefühl des Kontrollverlusts über das eigene Schicksal, die eigene Zukunft breitet sich dramatisch aus, Abstiegsängste und Zukunftsunsicherheit nehmen gerade auch in den sogenannten sozialen Mittelschichten zu. Ein Gefühl, das verstärkt wird durch den rasanten Prozess der Digitalisierung, vor allem (aber nicht nur) der Arbeitswelt. Die weitere Entwicklung der Digitalisierung und ihre Konsequenzen sind noch nicht voll überschaubar, deren politische, rechtliche und soziale Gestaltung hinkt – erklärlicherweise – hinterher. Die Zukunft der Arbeit, also der Arbeitsbiografien ist fragil, ist unsicher.
Der Terrorismus, alte und neue ungelöste und unlösbar erscheinende kriegerische Konflikte, die Schwäche der internationalen Organisationen (der UNO), die Krise der EU (der Brexit als Menetekel) runden das beunruhigende Bild ab. Das alles vermittelt den irritierenden Eindruck einer Weltunordnung. „Die Welt ist aus den Fugen“, hat Frank-Walter Steinmeier treffend bemerkt. „Die Welt wird neu vermessen“, beschreibt die Situation nur wenig freundlicher. Wir erleben die Wiederkehr alter Geister – des Nationalismus, des Chauvinismus, des Rassismus, der autoritären Politik. Was für eine Welt, die von Putin, Erdogan, Xi Jinping beherrscht wird und nun von Donald Trump, der demokratische Wahlen gewonnen hat, mit Chauvinismus, Rassismus und Sexismus!
Je komplexer, bedrohlicher die Problemfülle erscheint, umso stärker das Bedürfnis nach den einfachen Antworten, umso stärker die Sehnsucht nach den schnellen Lösungen, ja nach Erlösung, nach der starken Autorität. (Wir kennen das aus unserer deutschen Geschichte.) Das ist die Stunde der Populisten, der großen und kleinen Vereinfacher. Wir erleben sie in unserer Nachbarschaft: in Frankreich und Holland, in Polen und Ungarn, in Österreich und Italien und eben auch in Deutschland mit der AfD. Waren die Wahlen in Holland schon die Trendwende im Kampf gegen die Rechtspopulisten, die autoritären Nationalisten? Ich bin unsicher.
Schauen wir ringsum: Die liberale, offene, rechtsstaatliche und sozialstaatliche Demokratie wird immer mehr zur Ausnahme. Sie wird schon dadurch immer kostbarer und verteidigenswerter, vor allem aber: Diese Demokratie ist die politische Lebensform unserer Freiheit. Sie gilt es zu verteidigen – gerade auch im Wahljahr 2017. Gerade auch in dem, was man Krise der Parteiendemokratie, Vertrauenskrise der Volksparteien nennt. Gerade auch gegen das, was viele zu Recht als Vergröberung der kommunikativen Sitten erleben. Die Lügen halten Hof als „alternative Fakten“. Die sozialen Medien werden immer mehr zu Echoräumen der eigenen Vorurteile, der Entladung von Hass und der Steigerung von Aggressivität. Wird sich angesichts dessen – das ist meine beunruhigte Frage – unsere Demokratie in Deutschland und Europa bewähren und behaupten oder sich etwa als „Schönwetter-Demokratie“ erweisen? Darum geht es im Wahljahr 2017, ein Jahr, das mit dem polternden Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten von Anfang an bedrohliche Züge annahm. Inzwischen haben sich überall auf der Welt schwer zu lösende Probleme und Konflikte angehäuft. Ich will mich auf eine dieser Herausforderungen konzentrieren: Deutschland als Einwanderungsland.
Gesellschaftliche Auswirkungen von Migration
Wir bemerken gegenwärtig, dass die deutsche Gesellschaft sich durch Migration stark verändert. Sich auf diese Veränderung einzulassen, ist offensichtlich eine anstrengende Herausforderung, erzeugt Misstöne und Ressentiments und macht vielen (Einheimischen) Angst, vor allem unübersehbar und unüberhörbar im östlichen Deutschland. Pegida ist dafür ein schlimmes Symptom, die Wahlerfolge der AfD sind ein anderes. Vertrautes, Selbstverständliches, soziale Gewohnheiten und kulturelle Traditionen: Das alles wird unsicher, geht gar verloren. Individuelle und kollektive Identitäten werden infrage gestellt – durch das Fremde und die Fremden, die uns nahegerückt sind – durch die Globalisierung, die offenen Grenzen, die Zuwanderer, die Flüchtlinge. Die Folge sind Entheimatungsängste, die sich in der Mobilisierung von Vorurteilen, in Wut und aggressivem Protest ausdrücken. Und eben auch in Rassismus. Genau das ist unsere demokratische Herausforderung und sie ist eine politische und moralische Herausforderung: Dem rechtspopulistischen, rechtsextremistischen Trend, der sichtbar stärker und selbstbewusster geworden ist, zu begegnen, zu widersprechen, zu widerstehen. Die Wahlergebnisse in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Berlin sind Beunruhigung und Herausforderung genug, hoffentlich!
Was ist zu tun? Worüber müssen wir uns in unserem Land, in unserer Gesellschaft verständigen? Angesichts des vielhunderttausendfachen Zustroms von Fremden, der vielen Probleme und Ängste und einer verunsicherten, gespaltenen Gesellschaft? Ich beginne mit vier Notwendigkeiten, die eigentlich Selbstverständlichkeiten sind.
Erstens: Notwendig ist Ehrlichkeit im Ansprechen und Aussprechen der Probleme und Herausforderungen durch die Zuwanderung so vieler Menschen. Ohne Beschönigungen, aber auch ohne Dramatisierungen und ohne Hysterisierung, also so sachlich wie möglich, sollten Politiker über diese Probleme sprechen, aber auch die sich hier eröffnenden Chancen benennen. Also uns verständigen über die große Aufgabe: Integration. Das heißt vor allem zu begreifen, dass Integration eine doppelte Perspektive verlangt, dass Integration eine doppelte Aufgabe ist: Die zu uns Gekommenen sollen, sofern sie hier bleiben wollen, heimisch werden im fremden Land – und den Einheimischen soll das eigene Land nicht fremd werden. Heimisch werden, heimisch sein heißt, die gleiche Chance zur Teilhabe an den öffentlichen Gütern des Landes zu haben, also an Bildung, Arbeit, sozialer Sicherheit, Demokratie und Kultur partizipieren zu können. Es heißt auch, menschliche Sicherheit und Beheimatung zu erfahren, was mehr ist, als Politik allein zu leisten vermag, sondern Aufgabe vor allem der Zivilgesellschaft ist, ihrer Strukturen und Gesellungsformen, von deren Einladungs- oder Abweisungscharakter, also von unserem Engagement, unserer Solidarität als Bürger dieses Einwanderungslandes abhängt.
Die Erfüllung dieser doppelten Aufgabe verlangt viel Kraft und viel Zeit. Erinnern wir uns an die Integration von 15 Mio. Flüchtlingen und Vertriebenen nach 1945! Ein schwieriger Prozess, der mindestens zwei Jahrzehnte gebraucht hat. Erinnern wir uns an die sog. „Gastarbeiter“! (Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat vor Jahrzehnten – übrigens auf einem Bundesparteitag der SPD – gesagt: „Wir haben Arbeitskräfte gerufen und gekommen sind Menschen.“) Die alte Bundesrepublik hat lange der Selbsttäuschung angehangen, dass man sich um die Gastarbeiter und deren Integration nicht kümmern müsse. Die Folgen dieser Fehleinschätzung sind bis heute wahrnehmbar. Und erinnern wir uns an die „innere Einheit“ der Deutschen: Auch nach einen Vierteljahrhundert sind nicht alle Differenzen überwunden.
Zweitens: Notwendig sind sichtbare und erfolgreiche Anstrengungen zur praktischen Lösung der Probleme der Aufnahme so vieler Fremder. Das passiert vor allem in den Kommunen vor Ort nach anfänglichen Schwierigkeiten gut. Deutschland muss sich nicht schämen, trotz vieler praktischer Probleme. Dabei wissen wir: Je größer die Zahl, umso größer die Integrationsprobleme. Deshalb sind ja fast alle Politiker der Meinung, dass Begrenzungen der Zuwanderung unvermeidlich sind. Der Streit geht darüber, wie das politisch vernünftig, rechtlich einwandfrei und menschlich anständig gelingen kann. Der Streit um die „Obergrenze“ kommt mir wie eine Inszenierung vor: Der eine verlangt, den Gessler-Hut zu grüßen, die andere weigert sich standhaft. Mit der wirklichen Integrationsproblematik hat das nicht viel zu tun.
Es ist verantwortungslos, Patentlösungen zu verkünden. Diese wecken nur Illusionen und erzeugen umso mehr wütende Enttäuschungen. Denn wir können es ahnen, nein, wissen: Die Flüchtlingsbewegung, zumal aus Afrika, wird andauern. Europa kann keine Festung sein. Es geht vielmehr um ein ganzes Bündel von Anstrengungen und Maßnahmen gleichzeitig, die ich hier nur stichwortartig nenne: Beschleunigung der Verfahren, Rücknahmeabkommen, Verbesserung der Situation in den Flüchtlingslagern, erheblich mehr finanzielle Unterstützung für den UNHCR, um Hilfe dort zu leisten, wo die Not am größten ist. Der mühevolle Versuch, den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden, und Verabredungen zur fairen Lastenverteilung innerhalb der Europäischen Union, aber auch im eigenen Land. Ohne große europäische Solidaritätsanstrengung wird es nicht gehen. Ohne Solidarität wäre Europa nicht mehr Europa. Und: Wir brauchen unbedingt ein deutsches Einwanderungsrecht und gemeinsame europäische Einwanderungsregeln!
Drittens: Wir müssen die Mehrheit der Deutschen, der hier Lebenden, für diese Aufgabe gewinnen. Deshalb: Notwendig ist eine offene und offensive Debatte darüber, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. In einer unsolidarischen, „homogenen“, eingesperrten Gesellschaft? Wir Ostdeutschen haben aber doch nicht die Mauer eingedrückt, damit wir unter uns bleiben, in einer geschlossenen, eingesperrten Gesellschaft. Wir wollten doch ins Offene und Freie. Wollen wir also jetzt das vereinigte Land und den vereinigten Kontinent als Festung verteidigen und einen Wohlstandsnationalismus oder gar Wohlstandschauvinismus pflegen? Oder wollen wir nicht vielmehr eine Gesellschaft der Grundwerte, der Menschenrechte sein? Und ein Land, das seinen humanen Verpflichtungen nachkommt? (Der wichtigste Satz des Grundgesetzes heißt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Da steht nicht: Die Würde des Deutschen ist unantastbar.) Das ist also die doppelte Aufgabe, die der Begriff Integration meint: Sie wird nur dort gelingen, wo beide Seiten, sowohl die zu uns Kommenden wie auch die Aufnahmegesellschaft, Integration wollen und das Notwendige dafür tun. Gegen die Mehrheit einer Gesellschaft kann Integration nicht gelingen und ohne die Integrationsbereitschaft und den Integrationswillen der zu uns Gekommenen auch nicht.
Viertens: Darauf also müssen wir uns einstellen: Unser Land wird dauerhaft pluralistischer, also ethnisch, religiös und kulturell vielfältiger und widersprüchlicher werden. Dieser Pluralismus wird keine Idylle sein, sondern steckt voller politisch-sozialer und religiös-kultureller Konfliktpotentiale. Wir müssen lernen, damit umzugehen, und zwar friedlich.
Nach den zunächst und vor allem notwendigen Anstrengungen zu unmittelbarer Hilfe und menschenfreundlicher Aufnahme muss sich unser Land diesem Konfliktpotential stellen, wenn Integration – besser als in früheren Jahrzehnten – gelingen soll. Und diese Herausforderung ist nicht nur politischer, ökonomischer, finanzieller und sozialer Art, sondern ganz wesentlich auch kultureller Natur. Denn wenn in einer migrantischen Gesellschaft, die Deutschland noch mehr werden wird, Integration eine der großen Aufgaben ist und bleiben wird, dann müssen wir eine Vorstellung davon haben, wohinein die zu uns Kommenden integriert werden sollen. Dann müssen wir die einfache und zugleich manchen unangenehme Frage beantworten, wer wir sind, was wir anzubieten haben, wozu wir einladen. Und wir könnten dies durchaus mit gelassenem Selbstbewusstsein tun. Schließlich kommen die Flüchtlinge ausdrücklich nach Deutschland, wollen unbedingt zu uns – wegen unseres wirtschaftlichen Erfolgs und unseres Wohlstands, gewiss. Aber doch auch wegen unseres Rechtsstaates, unserer Demokratie, unserer politischen Stabilität, die Schutz und Sicherheit und Zukunft verheißen. Wozu laden wir ein? Was also haben wir anzubieten? Worauf verpflichten wir uns wechselseitig und gemeinsam – die Einheimischen wie die zu uns Gekommenen? Worauf haben wir uns miteinander einzulassen? Ich formuliere meine Antworten in zehn Punkten.
1. Grundwerte unserer Verfassung
Das ist zunächst und vor allem das Angebot unserer Verfassungswerte, auf die alle gleichermaßen verpflichtet sind, die Einheimischen und die zu uns Kommenden. Das sind die Regeln und Angebote unseres Rechts- und Sozialstaates, die für alle gelten. Die Grundwerte unserer Verfassung stehen nicht zur Disposition, dürfen es nicht! Unantastbarkeit der Menschenwürde, Gleichberechtigung, Respekt vor den Gesetzen des säkularen Rechtsstaates, Unterscheidung von Politik und Religion, Trennung von Kirche und Staat, Religionsfreiheit und Freiheit der Kunst, Toleranz, Selbstbestimmung des Individuums, die auch nicht durch Kollektivnormen, auch nicht die einer patriarchalen Kultur, beschränkt werden darf: Diese Werte verpflichten alle, die zu uns Kommenden wie auch die Einheimischen – sie verpflichten also auch AfD, Pegida, Neonazis.
2. Die Bedeutung der Sprache
Die deutsche Sprache zu erlernen, Ausbildung und Arbeit zu finden – das sind die ersten und weiteren, notwendigen Schritte von Integration. Sie verlangen Anstrengungen von beiden Seiten – der zu uns Kommenden, denen wir sie abverlangen müssen und dürfen – und der aufnehmenden Gesellschaft, unseres Bildungssystems, der Arbeitgeber, der Gemeinden, die diese Anstrengungen erbringen müssen und ja auch weithin erbringen. Wenn diese Integration in und durch Bildung und Arbeit aber gelingt, dann wird sie unseren Wohlstand und unser friedliches Zusammenleben befördern.
3. Fragen nach dem kulturellen Selbstbild und den prägenden Werten
Wenn man Vielfalt, Pluralität aktiv und friedlich leben will, muss man sich des Gemeinsamen, des Verbindenden vergewissern, also über das bereits Benannte hinaus weitere Fragen beantworten. Das sind Fragen nach unserem kulturellen Selbst: Wer sind wir Deutsche, was ist das Eigene? Was sind unsere Gemeinsamkeiten, die den Zusammenhalt einer vielfältiger, widersprüchlicher und konfliktreicher werdenden Gesellschaft ermöglichen und sichern? Wie schützen wir uns vor Parallelgesellschaften und religiösem Fanatismus? Wie begegnen wir Ängsten und Vorurteilen und Entheimatungsbefürchtungen? Für den Zusammenhalt einer pluralistischen Demokratie, einer widersprüchlichen, vielfältigen Gesellschaft reicht offensichtlich nicht allein das aus, auf das ich zunächst ganz selbstverständlich hingewiesen habe: die gemeinsame Sprache, die Anerkennung von Recht und Gesetz, der vielgerühmte und gewiss notwendige Verfassungspatriotismus. Auch nicht die Beziehungen, die die Gesellschaftsmitglieder über den Markt und Arbeitsprozesse als Arbeitskräfte oder Konsumenten miteinander eingehen. Und selbstverständlich gehört auch die sichtbare Anstrengung um soziale Gerechtigkeit, also um die faire Verteilung von Chancen und Pflichten, von Früchten und Lasten, zu den elementaren Voraussetzungen gelingenden Zusammenhalts.
Aber über all dies Selbstverständliche und Notwendige hinaus bedarf es – so meine ich – grundlegender Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen in dem, was wir Maßstäbe, Normen oder „Werte“ nennen. Es bedarf tendenziell gemeinsamer Vorstellungen von der Freiheit und ihrer Kostbarkeit, vom Inhalt und Umfang von Gerechtigkeit, vom Wert und der Notwendigkeit von Solidarität, gemeinsamer oder wenigstens verwandter Vorstellungen von sinnvollem und gutem Leben, von der Würde jedes Menschen, von der Integrität der Person, von Toleranz und Respekt. Dieses nicht politische, sondern ethische und kulturelle Fundament gelingenden Zusammenlebens – das ist nicht ein für alle Mal da, sondern es ist gefährdet, ist umstritten, kann erodieren. Es muss immer wieder neu erarbeitet werden, es muss weitergegeben, vitalisiert, vorgelebt, erneuert werden. Das ist der Sinn des so oft zitierten Satzes des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann.“ Die Verantwortung für diese Voraussetzungen, für dieses ethische Fundament unseres Zusammenlebens tragen – über die Zuständigkeit des Bildungssystems hinaus – alle Bürger, insbesondere die kulturellen Kräfte einer Gesellschaft und darin eben auch und in besonderer Weise Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, und zwar im Dialog, in der Debatte miteinander. Diese Verantwortung ist gewachsen in einer pluralistischer werdenden Gesellschaft. Neben den materiellen, also finanziellen, ökonomischen, sozialen Anstrengungen müssen also geistige und kulturelle Bemühungen treten, damit Integration gelingt.
4. Kultur als Raum von Verständigung konkreter Lebenswirklichkeit
Gerade in Zeiten heftiger Umbrüche, beschleunigter technisch-wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, sozialer und eben ethnischer Veränderungen ist das individuelle und kollektive Bedürfnis nach Vergewisserung und Verständigung, nach Identität besonders groß. Und damit – so meine ich – sind wir im Zentrum der Kultur. Kultur ist aber mehr als normativer Konsens, als individuelle Werteübereinstimmung, auch mehr als das Bewusstsein von der Kostbarkeit und der Gefährdung der Freiheit und der Menschenwürde, mehr als der notwendige Verfassungspatriotismus. Das ist sie alles auch, aber sie ist vor allem Raum der Emotionen, der Artikulation und Affektation unserer Sinne, Raum des Leiblichen und Symbolischen – wie auch und gerade des Religiösen und des Weltanschaulichen. Und sie ist der Ort der Differenzen, ihrer Schärfung und Milderung zugleich. Als je konkrete, je bestimmte, je besondere Kultur ist diese aber nicht nur ein Modus, ein Raum von Verständigung, sondern ein immer geschichtlich geprägtes Ensemble von Lebensstilen und Lebenspraktiken, von Überlieferungen, Erinnerungen, Erfahrungen, von Einstellungen und Überzeugungen, von ästhetischen Formen und künstlerischen Gestalten. Als solche prägt Kultur mehr als andere Teilsysteme der Gesellschaft die (relativ stabile) Identität einer Gruppe, einer Gesellschaft, einer Nation. Gilt dies nicht mehr in globalisierter Welt? Darf dies nicht mehr gelten in pluralistischen migrantischen Gesellschaften, die doch gerade das Bedürfnis nach Identität verstärken – und dessen Befriedigung zugleich erschweren. Von Hölderlin stammt der treffende Satz: „Das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde.“
Aber was ist dieses Eigene? Was ist unser kulturelles Selbst? Dürfen wir danach fragen? Dürfen, ja müssen die Deutschen darüber reden und, ja, auch streiten? Schon allein so zu fragen, trifft nicht selten auf Abwehr und Misstrauen, setzt sich dem Missverständnis aus, man betreibe „kulturellen Protektionismus“ (Simone Peter). Kulturelle Identität sei ein Mythos, man betreibe „Kulturalisierung“ von Problemen, die ökonomisch-sozialer Natur seien und nur als solche lösbar. Welch Reduktion der wirklichen Problem- und Konfliktsituation einer pluralistischer werdenden Gesellschaft! „Mit dem Hinweis auf Kultur fängt die ganze Misere an“, meint Armin Nassehi: „Was also ist das Deutsche? Hier zu leben. Mehr sollte man darüber nicht sagen müssen.“ Aber vielleicht sagen dürfen, hoffe ich.
Die islamistischen Terroristen allerdings nehmen die westliche Kultur, den westlichen Lebensstil so ernst wie der Westen vielleicht längst nicht mehr, so ernst, dass sie ihn bekämpfen. Aber das von ihnen Bekämpfte kann doch nicht bloß der müde oder trotzige Hedonismus sein, der sich in den Aufrufen nach den Pariser Mordtaten, nun erst recht auf Partys zu gehen, ausgedrückt hat. Nichts gegen Spaßkultur, aber sie allein kann ja nicht gemeint sein, wenn z. B. der ehemalige italienische Ministerpräsident Matteo Renzi zu Recht sagte: „Die wollen Terror, aber wir antworten mit Kultur, die stärker ist als Ignoranz.“
5. Kultur als Erinnerungsgemeinschaft
Wer nach Deutschland kommt, der kommt in ein geschichtlich und kulturell geprägtes Land, der kommt – und das ist eine wesentliche Dimension von Kultur – in eine Erinnerungsgemeinschaft. Ich zitiere den Bundespräsidenten Joachim Gauck: „Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben“, so hat er es vor zwei Jahren formuliert: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“ Gauck spricht hier von einer kulturellen Erbschaft, die nicht auszuschlagen ist. Integration nach Deutschland hinein enthält diese historisch-kulturelle Zumutung für die zu uns Kommenden, auch wenn und gerade weil sie aus muslimischen Ländern kommen. Charlotte Knobloch formuliert es so: „Wer hier leben will, muss verstehen und respektieren, dass die aktive Erinnerung an den Holocaust ebenso Staatsräson ist wie der Kampf gegen Antisemitismus sowie das Einstehen für die Existenz und die Sicherheit Israels.“ Was Charlotte Knobloch sagt, gilt selbstverständlich nicht nur für die Neuankömmlinge, sondern auch für die Alteingesessenen. Ich hoffe sehr, dass darüber weitgehende Einigkeit besteht. Aber wir sollten auch wissen, dass die uns in Deutschland vertraute Erinnerungskultur durch die Veränderungen, die der Begriff Einwanderungsgesellschaft meint, auf den Prüfstand gestellt ist. Was taugt von den Traditionen, Institutionen, Methoden, Ritualen für die Zukunft des Gedenkens in einer Einwanderungsgesellschaft? Die Antworten darauf werden wir nur gemeinsam mit den zu uns Kommenden, vor allem denen muslimischen Glaubens, finden. Wir sollten sie dazu ausdrücklich einladen.
6. Christliche Prägung unserer Kultur
Zu der notwendigen Selbstverständigung darüber, was das Eigene ist, was wir in diesem Land den zu uns Kommenden anzubieten haben, wozu wir sie einladen, muss die Antwort auf die Frage gehören, welchen (nicht nur historischen) Rang und welche Gegenwärtigkeit die christliche Prägung unserer Kultur, die sie in Widerspruch und Gemeinsamkeit mit dem Prozess der Aufklärung erfahren hat, beanspruchen darf und soll. Diese Frage erzeugt, wenn ich es richtig beobachte, in der Öffentlichkeit nicht selten Reaktionen zwischen Irritation und Unsicherheit, zwischen Trotz und Verschämtheit. Als sei schon der Hinweis etwas Unziemliches und Integrationsfeindliches, dass unsere Kultur (nicht allein, aber doch wesentlich) christlich geprägt ist. Man dient aber der Integration nicht, wenn man sich selbst verleugnet und nur noch „Interkultur“ für zeitgemäß und legitim hält. „Es geht nicht darum, sich selbst zu verleugnen, sondern den anderen zu achten. Wer sich selbst nicht respektiert, kann keinen Respekt erwarten“, so hat es Navid Kermani formuliert.
Ich zitiere aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2009 zur Religionsfreiheit, um die es hier geht: „Die Religionsfreiheit beschränkt sich nicht auf die Funktion eines Abwehrrechts, sondern gebietet auch im positiven Sinn, Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern.“ Das ist nach meiner Überzeugung die eigentliche Herausforderung von zunehmendem religiös-weltanschaulichem Pluralismus: Nicht einfach Atheismus, nicht Laizismus ist die Antwort auf „Religion im Plural“, auf Weltanschauungen und Kulturen im Plural, sondern eine Zumutung anzunehmen. Diese Zumutung besteht darin, sich der Anstrengung unterziehen zu müssen, das Eigene zu vertreten und zu übersetzen, den Anderen zu verstehen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Jürgen Habermas: „In der Rolle von demokratischen ‚Mitgesetzgebern‘ gewähren sich alle Staatsbürger gegenseitigen grundrechtlichen Schutz, unter dem sie als Gesellschaftsbürger ihre kulturelle und weltanschauliche Identität bewahren und öffentlich zum Ausdruck bringen können.“ Es ist also festzuhalten: Der weltanschaulich neutrale demokratische Staat bleibt auf Menschen angewiesen, die sich in Weltanschauungs- und Religionsfragen nicht neutral verhalten – die sich aber ausdrücklich auf Fairness und Friedfertigkeit im Verhältnis zueinander verpflichten lassen.
7. Toleranz als Voraussetzung in der Zumutung der Vielfalt
Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, das sagt sich ganz leicht. Sie ist aber keine Idylle, sondern eine Zumutung. Eine freie Gesellschaft ist keine gemütliche Gesellschaft. Denn mit Pluralismus ist gemeint: die konfliktreiche, strapaziöse Vielfalt von Überzeugungen, Weltbildern, Wahrheitsansprüchen, Wertorientierungen, Lebensweisen, sozialen Lagen, kulturellen Prägungen. Wie lässt sich die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die kulturelle und religiös-weltanschauliche Vielfalt in unserer Gesellschaft „ertragen“, besser „leben“ – ohne Ängste, ohne Ausgrenzungen, ohne Unterdrückung und Gewalt?
Ohne religiös-weltanschauliche Toleranz ist in einer freien Gesellschaft dieser Zusammenhalt gewiss nicht zu haben. Und erst in solcher Gesellschaft ist Toleranz geradezu existenziell nötig. In weltanschaulich-homogener Gemeinschaft – ebenso wenig in einer totalitären Gesellschaft – bräuchte man sie nicht. Erst in einer Gesellschaft der Differenzen erweist sich Toleranz als notwendige und zugleich anstrengende Tugend, die aber nicht einfach immer schon da ist, sondern um die man sich sorgen, sich kümmern muss – auch und gerade, wenn Religions- und Meinungsfreiheit von Staats wegen, also verfassungsmäßig garantiert sind. Toleranz aber ist eine herbe, anstrengende Tugend. Denn anders als ihr populäres Missverständnis ist sie eben nicht Laisser-faire, Indolenz, Desinteresse, Gleichgültigkeit, Beliebigkeit. Bei der Toleranz als einer Tugend der praktischen Vernunft geht es um die schwierige Verbindung von eigenem Wahrheitsanspruch mit der Anerkennung des Wahrheitsanspruchs des Anderen. Sie meint eben nicht bloße, gnädige, herablassende Duldung, sondern meint Respekt. So verstanden ist Toleranz eine unersetzliche Dimension von Gerechtigkeit – so wie ich als Sozialdemokrat sie verstehe, Gerechtigkeit nämlich als gleiche Freiheit. Toleranz ist Zentrum einer gelebten Kultur der Anerkennung gleicher Lebens- und Freiheitsrechte.
8. Die Rolle von Religion in Deutschland und der Islam
Wir alle, also Christen wie auch Juden, Muslime und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften und ebenso auch Agnostiker und Atheisten, wir alle sind Teil des Pluralismus – wir stehen nicht über ihm, haben keinen Ort außerhalb. Das ist für mich auch der vernünftige Sinn des nun vielfach wiederholten Satzes: „Der Islam gehört zu Deutschland“, so wie – geschichtlich selbstverständlicher – das Christentum und das Judentum und die Aufklärungstraditionen zu Deutschland gehören.
Was aber bedeutet dieses Wort „gehört“ wirklich? Werden wir diesen anspruchsvollen Satz durchhalten können in unserem Land – angesichts so vieler Menschen muslimischen Glaubens, muslimisch-arabischer Kulturprägung, die zu uns gekommen sind? Angesichts von Ängsten und Konflikten? Sich auf diesen Prozess einzulassen, ich wiederhole es, ist offensichtlich eine ziemliche Herausforderung, erzeugt Misstöne und Ressentiments und macht vielen Menschen Angst, erzeugt Unsicherheit. Eine diffuse Abwehr von Religion greift um sich: „Islamisierung des Abendlandes“ heißt die „Gefahr“ auf der Straße (Pegida-Anhänger sind meist konfessionslos). In den Feuilletons ist die Rede von den monotheistischen Religionen als gewaltfördernd, als „Brandstifter und Brandbeschleuniger“. Ohne die Religionen wäre die Welt friedlicher, ist ein geläufiger Glaubenssatz unter den intellektuellen Eliten, die dabei die ziemlich areligiösen Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot und die durch sie verantworteten Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts schlicht vergessen. Eine religionsfeindliche Stimmung verbreitet sich. Die Verteidigung von Liberalität schlägt um in illiberale Praxis: Man denke an Verbotsforderungen verschiedenster Art, etwa in Frankreich (Burkini‑) und in Deutschland (Kopftuch-Verbot). Diejenige Religion sei eben die beste, die man weder sieht noch hört, die einen nicht belästigt. Ein sehr bequemes Verständnis von Freiheit! Dagegen sage ich ausdrücklich: Wenn Religion ein Teil unserer Probleme ist, dann muss und soll und kann sie auch Teil der Lösung sein. Nicht deren Unterdrückung, nicht deren Herausdrängung aus der öffentlichen Wahrnehmung, aus der Öffentlichkeit überhaupt ist die richtige Reaktion, wie viele meinen, sondern die Aktivierung und Nutzung ihrer friedensorientierenden, gemeinsinnstiftenden Potentiale ist vernünftig und zukunftsträchtig.
Aber: Die Frage nach der Gefährlichkeit von Religion, nach ihrem Gewaltpotential ist durchaus ernst zu nehmen – auch wenn sie gegenwärtig Judentum und Christentum nicht unmittelbar betrifft, weil zumal das Christentum eine Geschichte der Mäßigung, der Trennung von Kirche und Staat, der Unterscheidung von Religion und Politik, des Erwerbs von Toleranzfähigkeit hinter sich hat. Aber wie geht das: angesichts der allabendlichen Fernsehnachrichten über unter Berufung auf den Islam begangene Gewalttaten die Unterscheidung von Islam und Gewalt festzuhalten, sie immer neu zu betonen – ohne einen sippenhaftartigen Bekenntniszwang gegenüber den deutschen Muslimen auszuüben und ohne die frustrierende ständige Distanzierungsaufforderung an unsere muslimischen Nachbarn? Das gilt ja erst recht nach den Pariser Mordtaten, nach den Kölner Schandtaten, nach Berlin und London zuletzt und ihren emotionalen Wirkungen: Wie bleibt die notwendige Differenzierung möglich?
Andererseits: Die ständige Wiederholung der beschwörenden Abwehrformel: „Das alles hat nichts mit dem Islam zu tun“ – sie hat, fürchte ich, gegenteilige Wirkung bei vielen, denn – das ist ja Teil der täglichen Nachrichten – die Terroristen sind nun mal Muslime bzw. genauer: Sie behaupten es zu sein und berufen sich unüberhörbar und unübersehbar auf den Koran. „Es gibt eine friedliebende Deutung des Korans, aber auch eine gewalttätige“, sagt der islamische Theologe Mouhanad Khorchide. Ahmad Mansour, der Berliner Muslim, hat in einem Spiegel-Essay geschrieben: „Wenn Kanzlerin Angela Merkel jetzt sagt: ‚Der Islam gehört zu Deutschland‘, dann möchte ich sie fragen: Welcher Islam? Muslime gehören zu Deutschland, zweifellos. Aber mein Islam ist ein anderer als der Islam der Hassprediger, ein Islam, der nicht in eine Demokratie gehört.“ Einen freiheitsfeindlichen Islam, einen militanten Islamismus können wir in Deutschland nicht tolerieren – um des friedlichen Zusammenlebens willen. Ein solcher Islam gehört nicht zu Deutschland. Wenn wir also Ja zum Islam als einem Teil Deutschlands sagen, dann erlaubt und verlangt dieses Ja dann auch Fragen: nach Reformen im Islam, nach seiner Vielfalt, seiner inneren Differenzierung, seiner Theologie, nach den Unterschieden zwischen einem europäischen (deutschen?) Islam und dem Islam etwa in Saudi-Arabien oder anderen islamisch bestimmten Staaten ohne Religionsfreiheit. Auch nach dem problematischen Einfluss der türkischen Religionsbehörde auf DİTİB.
9. Aushandlungsprozesse zur Verständigung
Wir haben noch viel Verständigungsarbeit vor uns, damit Toleranz als Respekt gelebt wird und nicht als bloße gnädige Duldung. Es wird sehr anstrengend werden. Denn es geht darum, wechselseitige Zumutungen friedlich zu ertragen, freundlich mit ihnen umzugehen. Nur einige Beispiele: Christen, Juden und Konfessionslosen wird in Deutschland zugemutet werden, dass Muslime noch mehr Moscheen bauen, dass sie zu Ramadan sichtbar fasten, dass muslimische Frauen freiwillig (!) Kopftuch tragen, dass es auch Lokale ohne Alkohol, dafür aber mit Halal-Fleisch gibt, dass die Vorstellungen über die Familie oft sehr konservativ sind. Die Muslime ihrerseits haben zu akzeptieren, dass die Freiheit für alle gilt, also auch für Frauen, die nicht unter dem Patriarchat leben möchten, also auch für Schwule, für Religionskritiker, für andere Religionen und Bekenntnisse. Die Muslime müssen respektieren, dass die Gesetze der Religion nicht über den Gesetzen des Staates stehen, sondern in diesen ihre Grenzen finden. Und sie müssen lernen, dass Islam-Kritik nicht gleich Islam-Feindschaft ist. Das aber heißt konkret: Immer wieder neu und im Streit ist auszuhandeln, was verträglich und vernünftig ist. Darf eine Grundschullehrerin im Unterricht ein Kopftuch tragen? Muss man hinnehmen, dass strenge Muslime Frauen nicht die Hand geben? Darf man Tiere ohne Betäubung schächten? Welche Mitsprache sollen muslimische Verbände beim Religionsunterricht haben? Wo verläuft die Grenze zwischen arrangierter Hochzeit und Zwangshochzeit? Darf man sein Kind vom Schwimmunterricht abmelden, weil es andere Kinder in Badehose sehen könnte? In Sachen Burkini, Burka, Niqab ist der Streit schon heftigst im Gange. Ich fürchte mich vor dessen parteipolitischer Instrumentalisierung. Und ich glaube nicht, dass wir den Streit durch flotte Verbote vermeiden können. Es wird also sehr viele Anlässe für ungemütlichen Streit geben. Manchmal habe ich den Eindruck, dass nicht wenige Ostdeutsche sich zurücksehnen nach der grimmigen Idylle DDR, nach ihrer verordneten Gemütlichkeit. Und nicht wenige Westdeutsche nach der nationalstaatlichen Gemütlichkeit im Schatten der Mauer gegen den Kommunismus.
Um es noch einmal grundsätzlich zu sagen: Alle – Christen, Juden, Muslime, Atheisten, Agnostiker usw., Einheimische wie zu uns Gekommene – wir alle werden uns der Debatte stellen müssen: Was begrenzt kulturell-religiös-weltanschauliche Selbstbestimmung, was ist das verpflichtend Gemeinsame, worauf gründen wechselseitige Anerkennung und Gesprächsfähigkeit und Gesprächsbereitschaft der Verschiedenen? Was ist Toleranz, wie weit muss, darf sie gehen? Brauchen wir Verbote? Wie vergewissern wir uns des Gemeinsamen, damit wir Vielfalt friedlich leben können? Darum geht es, muss es gehen – egal wie wir es nennen: ob „Leitkultur“ (ein irgendwie belasteter, verdorbener Begriff) oder „zivilbürgerliche Kultur“/„gemeinsame Bürgerschaft“ (reicht dies?) oder, wie ich es nenne: „das nichtpolitische, sondern ethische und kulturelle Fundament gelingenden Pluralismus, gelingender Demokratie“. Und um es noch einmal deutlich zu sagen: Antisemitismus, Rassismus, Homophobie, Unterdrückung der Frau, religiöse Intoleranz – das sind keine Beiträge zu diesem Fundament, sie zerstören es vielmehr. Egal ob sie von Zuwanderern aus der arabisch-islamischen Welt oder von Menschen aus dem eigenen Land (von NPD, Pegida bis AfD) ausgedrückt werden. Das ist also unsere Aufgabe, daran haben wir miteinander zu arbeiten: an einem gemeinsamen Bürgerbewusstsein über alle kulturellen und religiös-weltanschaulichen Differenzen hinweg, gewissermaßen an einem Wir, das Toleranz, gemeinsame Verantwortung und Solidarität begründet.
10. Mit Ängsten und Hass unterschiedlich umgehen
Angst und Hass sind sehr verschiedene Emotionen. Angst überwindet man nicht durch Schulterklopfen oder Beschimpfungen, sondern durch Aufklärung, durch Gespräch, durch Begegnung, durch gemeinsames Handeln. Hass (gegen Fremde, gegen Ausländer, gegen Juden, gegen Demokraten) haben wir offensiv zu begegnen, zu widersprechen und zu widerstehen. Die Artikulation von Besorgnissen ist etwas gänzlich anderes als Hetze. Wir sollten sehr auf solche Unterscheidungen achten und danach handeln.
„Niemand kann verlangen, dass unser Land sich ändert“, so der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán im Herbst 2015. – Das ist ein Satz der Angst, von der ich vermute, dass viele Menschen auch in unserem Land sie teilen. Es ist aber auch ein fataler Satz. Denn wir wissen doch: Nur offene, sich verändernde Gesellschaften sind produktiv und haben Zukunft. Das ist doch auch die Erfahrung von 1989: Geschlossene, eingesperrte Gesellschaften bedeuten Stillstand, sind nicht überlebensfähig, müssen überwunden werden. Deshalb ist es unsere Aufgabe gerade als Angehörige verschiedener Überzeugungsgemeinschaften, als demokratische Bürger, auch als Mitglieder demokratischer Parteien und Religionsgemeinschaften, die Ängste bei den vielen überwinden zu helfen, die Aufgabe der Integration anzunehmen, die „neue Völkerwanderung“ zu gestalten. Mit menschlichem Anstand, mit Kraft und Ausdauer, mit langem Atem. „Ohne Angst und Träumerei“, so hat es der frühere Bundespräsident Johannes Rau einmal formuliert. Ob und wie wir diese Aufgabe bewältigen, daran auch wird sich zeigen, ob unsere Demokratie mehr als eine Schönwetter-Demokratie ist. Unsere liberale Demokratie ist kostbar, weil sie – wie der Blick in die Welt uns zeigt – nicht mehr selbstverständlich, sondern höchst angefochten ist. Weil sie die politische Lebensform unserer Freiheit ist. Sie zu verteidigen gegen Nationalisten, Rassisten, Rechtspopulisten – auch darum geht es im Wahljahr 2017. Keine einfache Aufgabe, aber eine notwendige und zudem eine, die wir nur erfüllen können, wenn wir uns von nüchternem Realismus und von der Begeisterung für unsere europäischen Werte und unsere europäische Lebensweise leiten lassen.
Dies ist der Text eines Vortrages, den Dr. Thierse am 28.3.2017 in Erfurt gehalten hat. Wir danken herzlich für seine Genehmigung zur Veröffentlichung in εὐangel.