Christliche Identität im Spiegel neutestamentlicher Kanonbildung
Einleitung
Der Begriff „Identität“ ist ein Relationsbegriff. Er bezeichnet den „Fall einer zweistelligen Relation, ‚in der jedes Ding mit sich selbst, aber kein Ding mit einem anderen steht‘ (Gottlob Frege)“ (Honnefelder 1996, 397). So ist nicht erst seit Martin Buber deutlich, dass sich das Ich am Du konstituiert; das Ich ist gerade beim andern bei sich selbst. Wenn aber der Identitätsbegriff wesentlich relational verstanden werden muss, dann ist das Sein wesenhaft ein Leben in Beziehung: „Der Mensch erschließt den Sinn seiner Existenz, indem er sich vorrangig als das auf Transzendenz hin offene Wesen erkennt (K. Rahner)“ (Fonk 1996, 401). Diese wenigen Gedanken beziehen sich auf das Konzept individueller Identität. Doch braucht der Einzelne „zum Erhalt von Identität […] den Halt in und die Kontrolle durch Gruppen“ (Hettlage 1995, 1080). Dies lenkt den Blick auf das Phänomen der Gruppenidentität. Dabei ist zunächst festzustellen, dass eine soziale Gruppe eine „Anzahl von mindestens drei Personen [ist], die zur Erreichung eines Zieles für längere Zeit in Wechselbeziehung und in einem kontinuierlichen Kommunikations-Zusammenhang stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit [„Wir-Gefühl“] herausbilden“ (ebd.). Voraussetzungen dafür sind ein gemeinsames Normensystem und ein Geflecht aufeinander bezogener Rollen. Bedeutsam ist dabei, dass soziale Gruppen unter Gestaltungsdruck stehen: unter dem Zwang zur Selbstdarstellung; dem Zwang zur Registrierung des anderen; dem Zwang zur Bildung eines Binnenselbstverständnisses als Gruppe und Ordnung; und dem Zwang zur Außendarstellung als Gruppe gegenüber der Umwelt (vgl. ebd.). Dieser vierfache Gestaltungsdruck, dessen Ergebnis die Gruppenidentität ist, lässt sich auch für die Herausbildung einer christlichen Identität geltend machen. Gerade die überaus spannenden ersten Jahrhunderte der Kirche, in denen maßgebliche Entscheidungen getroffen wurden, sind ein herausragendes Feld, um Umstände christlicher Identitätsbildung deutlich zu machen. An dieser Stelle sei die Frage der neutestamentlichen Kanonbildung herausgegriffen, da die Sammlung der maßgebenden, normativen Schriften, die von den Christen als heilige Schriften anerkannt und dem Alten Testament als Neues Testament zugesellt wurden, in ihrer Bedeutung für den christlichen Glauben und die christliche Identität überhaupt nicht überschätzt werden kann.
Der Begriff des Kanons
Bereits die Entstehungsgeschichte des Begriffs Kanon ist überaus komplex und daher an dieser Stelle nicht nachzuzeichnen (vgl. dazu Schneemelcher 1999a, 1–7). Es sei vorausgesetzt, dass mit dem Kanon die Sammlung der kirchlich anerkannten Schriften des Alten und Neuen Testaments gemeint ist, die den kirchlich verbindlichen Maßstab der Lehre und Praxis zum Ausdruck bringt. Das griechische Wort kanon wurde jedoch zunächst für die regula fidei, dann für Synodenentscheidungen und schließlich ab dem 4. Jh. für die Liste der Bücher der Heiligen Schrift verwendet, die in der Kirche verwendet wurden (vgl. Vögtle 1966, 42). In diesem Prozess ging es um nichts weniger als die christliche Identität. Welche Schrift kann als christlich und welche als nicht-christlich angesehen werden und warum? Wer hat dies entschieden und auf welchem Weg? Wie also ist der neutestamentliche Kanon entstanden?
Die „Schrift“ des Urchristentums
Die „Schrift“ des Urchristentums ist zunächst einmal das Alte Testament in der Fassung der griechischen Septuaginta (LXX), auch wenn der Umfang der alttestamentlichen Schriften insgesamt nicht klar festgeschrieben war. Diese Unterschiedlichkeit ist v. a. in den verschiedenen Fassungen des Alten Testaments begründet – so finden sich in der maßgeblichen Septuaginta Schriften, die sich in der hebräischen Tradition nicht finden (Judit, Tobit, Weisheit, Baruch, 1/2 Makkabäer, Zusätze zu Ester und Daniel). Hinzuweisen ist hier jedoch darauf, dass die auf uns gekommene Textüberlieferung der griechischen Septuaginta oft älter ist als die uns vorliegenden hebräischen Textüberlieferungen. Der alttestamentliche Kanon wurde von den Christen erst in der zweiten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. reflektiert – zuvor waren „die Schriften“ in der damaligen Varianz normative Grundlage. Aber auch wenn über den Umfang der „Schrift“ debattiert werden kann, so scheint doch klar, dass die Kirche von Anfang an eine Bibel besaß, die erst später als „Altes Testament“ bezeichnet wurde. Eben diese Schriften wurden nach Jesu Tod auf ihn hin gelesen. Er war zur ersten und höchsten Autorität geworden, da er, „der Herr“, den Willen des Vaters kennt und mit Vollmacht auslegt (vgl. Mt 5,21 ff.; Mk 10,1 ff.). Die Autorität Jesu (und im Anschluss daran die Autorität der Apostel) wurde zentral und stand neben und über dem Gesetz und den Propheten, und ebendiese Autorität des Herrn wurde durch die Sammlung neutestamentlicher Schriften nicht in Frage gestellt, sondern gewissermaßen bestätigt: „Norm im Urchristentum ist allein der Herr, und zwar in dem Sinn, daß er ‚eine lebendige, in der Verkündigung aktuell werdende Autorität‘ […] ist“ (Schneemelcher 1999a, 10).
So kam es zur Neuinterpretationen der Schrift, d. h. der alttestamentlichen Texte (vgl. Mt 5,21–48; Röm 10,5–8; Joh 4,21–24) und zur Bildung der später „neutestamentlich“ genannten Schriften. Hier sind zunächst die paulinischen Briefe, die in den christlichen Gottesdiensten verlesen wurden, sowie die Bildung des viergestaltigen Evangelienkanons zu nennen. Dieser Prozess der Literarisierung und Fixierung der Jesustradition, die wir heute Neues Testament nennen, hat im 1. Jh. n. Chr. begonnen und ist im Verlauf des 3./4. Jh. n. Chr. abgeschlossen. In diesem Zeitraum wurden zahlreiche Schriften, die nicht mit der christlichen Lehre übereinstimmten, ausgeschieden. Bedeutsam ist dabei, dass die neutestamentlichen Schriften zunächst nicht als „kanonische“ verfasst worden sind. So waren die Paulusbriefe beispielsweise „Gelegenheitsschreiben“, denen der Gedanke, es handle sich um „heilige“ Schriften, fernlag. Vielmehr bezieht sich Paulus immer wieder auf „die Schrift“ und begründet seine Ausführungen von dort. Und auch die Adressaten seiner Briefe werden nicht damit gerechnet haben, „heilige Schrift“ in den Händen zu halten. Ähnliches ist für die Evangelien zu sagen. So kommt Anton Vögtle zu dem Schluss: „Der Gedanke, einen Beitrag zu einem Bestand christlicher Schriften zu leisten, der über kurz oder lang als inspirierte Heilige Schrift an Dignität ebenbürtig oder gar überlegen dem AT zur Seite treten würde, ist wohl überhaupt keinem Verfasser unserer 27 Schriften in den Sinn gekommen. Auch nicht dem Verfasser der Apk“ (Vögtle 1966, 15).
Corpus paulinum
Die Paulusbriefe nehmen eine hervorgehobene Stellung ein, da sie die ältesten auf uns gekommenen Texte des NT und „ein erstes Zeugnis einer Sammlung frühchristlicher Literatur [sind], welche das AT ergänzte und zum Teil verdrängte“ (Sand 1996, 1179). Auch wenn die paulinischen Briefe weder vom Verfasser noch von den Adressaten als „heilige Schrift“ angesehen wurden, so waren es doch autoritative Schreiben, deren Verfasser größten Wert darauf legte, sich als von Gott berufener Apostel auszuweisen (vgl. u. a. 1 Kor 1,1). Diese Briefe wurden gesammelt, abgeschrieben, unter den verschiedenen christlichen Gemeinden ausgetauscht und so tradiert. Dies gilt sowohl für die paulinischen als auch für die deuteropaulinischen Briefe (und später in analoger Weise auch für die Evangelien). Erste Sammlungen der Paulusbriefe waren wohl schon um 100 n. Chr. bekannt; auch 2 Petr 3,15 (um 120 n. Chr.) verweist auf eine Sammlung. Welchen Umfang dieses Corpus paulinum im 2. Jh. n. Chr. umfasste, lässt sich nicht genau rekonstruieren; dass es ein solches gab, scheint jedoch klar. Die Autorität kommt den Briefen aufgrund ihrer paulinischen Autorenschaft zu. Es deutet sich bereits an: Die Apostolizität der Schriften wird zu einem entscheidenden Kriterium der Aufnahme in den neutestamentlichen Kanon: „Maßgebende religiöse Autoritäten sind die in ihren Schriften redenden Apostel, noch nicht aber die von ihnen überlieferten Schriften als solche“ (Vögtle 1966, 19).
Die Evangelien
Zur gleichen Zeit wie die Paulusbriefe entstand die später „Logienquelle“ oder „Redequelle“ (Q) genannte (hypothetische) Sammlung von Worten und Aussprüchen Jesu. Diese Logienquelle kann aus dem Vergleich der Synoptiker (Mk, Mt, Lk) rekonstruiert werden. Dabei handelt es sich „um eine interpretierende Zusammenfassung der Jesustradition zum Zweck der Sicherung und der Weitergabe in der Verkündigung der Heilsbotschaft“ (Schneemelcher 1999a, 10). Im Anschluss entstehen die vier Evangelien: Mk bald nach 70 n. Chr., Mt und Lk zwischen 80 und 90 n. Chr., Joh gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. Die Quellen aus dem 1. und 2. Jh. n. Chr. bezeugen einen sehr unterschiedlichen Bekanntheitsgrad der einzelnen Evangelien. Der Apologet Justin (100–165 n. Chr.) kennt beispielsweise anscheinend die drei Synoptiker (Mk, Mt und Lk), die „gleichwertig neben dem AT im Gottesdienst verlesen werden“ (Schneemelcher 1999a, 13). Von einer kanonischen Geltung der vier Evangelien neben dem Alten Testament kann erst ab dem 2. Clemensbrief (Mitte 2. Jh. n. Chr.) gesprochen werden (vgl. 2 Clem 2,4; 5,2; 8,5 u. a.). Doch sind hier auch starke Unterschiede festzustellen: Das Matthäusevangelium wurde viel benutzt, das Johannesevangelium kaum. Es wird deutlich, dass „die meisten Gemeinden in jener Zeit ohnehin nur ein Evangelium gehabt haben“ (Schneemelcher 1999a, 13) werden und zugleich, dass die oben beschriebene Autorität des Herrn, die ja als Norm fungierte, „auf die Schriften, in denen die Worte des Herrn überliefert sind“ (ebd.), überging.
Äußere Umstände neutestamentlicher Kanonbildung
Interessant für die Frage der Identität sind nun auch die „äußeren“ Umstände der Kanonbildung. Dabei handelte es sich um Phänomene, an denen sich die christlichen Gemeinden rieben, mit denen sie sich auseinandersetzen mussten und so zugleich die „wahre Tradition“ gegen die „falsche“, d. h. die häretische abgrenzten. Die Kanonbildung ist zwar nicht allein als ein Abwehrkampf gegen häretische Bedrohungen zu verstehen, aber „die Kirche hat in diesem Kampf die Sicherung der Tradition als Problem erkannt“ (Schneemelcher 1999a, 15). Neben der Sammlung der Paulusbriefe und dem Entstehen der Evangelien im 1. Jh. n. Chr. gab es einen parallelen Prozess der Produktionapokrypher Schriften, d. h. der (später nicht in den neutestamentlichen Kanon aufgenommenen) Schriften, die im Thema und im Titel den Anspruch erheben, den später als kanonisch bestimmten Schriften gleichwertig zu sein. Auch die Verfasser dieser Schriften versuchten ihre Perspektive als normative Überlieferung zu fixieren. Die neutestamentlichen Apokryphen reichen oft in das 2. Jh. n. Chr. zurück und bringen auch ein Empfinden zum Ausdruck, dass das bereits vorliegende Schriftgut nicht mehr ausreichte. Auch wenn die Gültigkeit des viergestaltigen Evangeliums nie ernsthaft gefährdet war, so ist doch auf die Vielzahl der apokryphen Evangelien hinzuweisen. Die „Schaffung von ntl Apokryphen [war] nicht schon von Haus aus anrüchig“ (ebd.).
Welche Texte sind damit gemeint? Schneemelcher unterscheidet in seinen zwei Bänden zu den neutestamentlichen Apokryphen nach Gattungen. Zunächst kommen Evangelien in den Blick: So finden sich beispielsweise judenchristliche Evangelien (Nazaräer-, Ebioniten- und Hebräerevangelium), das koptische Thomasevangelium, das Evangelium nach Philippus, das Ägypterevangelium, das Petrusevangelium und viele weitere gnostische Evangelien (Evangelium der Vollendung, Evangelium der vier Himmelsgegenden, die Sophia Jesu Christi, das Evangelium der zwölf Apostel etc.). Hinzu kommen Kindheitsevangelien, die v. a. aus erbaulichem Interesse die „Lücken“ in den Berichten über die Kindheit Jesu füllen wollen: Das Protoevangelium des Jakobus bietet hierbei beispielsweise die Lebensgeschichte Mariens, die als jungfräulich empfangene Tochter Annas und Joachims beschrieben wird. In der Kindheitserzählung des Thomas vollbringt Jesus im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren die kühnsten Wunder. Als letzte Gruppe seien die Evangelien im Blick auf Jesu Wirken und Leiden genannt, wie beispielsweise das Nikodemusevangelium, das u. a. die Höllenfahrt Christi beschreibt (vgl. insgesamt dazu Schneemelcher 1999b, 65–442).
Während die Evangelien vom Protagonisten Jesus handeln, widmet sich die Gattung der apostolischen Schriften eben jenen: den Aposteln. Denn die Apg handelt im Wesentlichen von Petrus und Paulus und gibt keine Auskünfte über „die Apostel“, d. h. den Zwölferkreis, der sich nach dem Apostelkonzil (48/49 n. Chr.) im Dunkel der Geschichte verliert. „So entstanden also neue Apostelgeschichten, wie die Acta des Petrus, Paulus, Johannes, Andreas, Thomas … [als] christliche Roman- und Erbauungsliteratur“ (Vögtle 1966, 25; vgl. insgesamt dazu Schneemelcher 1999c, 3–488). Abschließend sind v. a. die Apokalypsen zu nennen, die neben Offenbarungen über die letzten Dinge auch über das Jenseits, Himmel und Hölle und ihre Insassen sowie über den Ursprung von Sünde und Übel in der Welt Auskunft geben. Beispielhaft seien nur die christlichen Sibyllinen und die Apokalypse des Paulus und die Apokalypse des Petrus genannt (ebd. 491–679).
Diese Texte sind zumeist gnostisch geprägt, gehen also auf Vertreter des auf „Erkenntnis“ angelegten religiösen Wissens zurück, das die Gnostiker nach eigenem Verständnis von der übrigen Menschheit abhebt und u. a. von einem starken Dualismus und einer Abwertung der Leiblichkeit geprägt ist. Alle genannten Texte sind darüber hinaus Zeugnisse dafür, wie die unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Christentums Texte produzierten, die Anerkennung suchten, doch im weiteren Prozess der Kanonbildung „aussortiert“ wurden.
Ein weiterer „äußerer“ Faktor neutestamentlicher Kanonbildung ist Marcion, der das Alte Testament, also „die Schrift“ des Urchristentums, komplett verwarf und gegen 140 n. Chr. ein gnostisch beeinflusstes und durch Kürzungen und „Verbesserungen“ stark verändertes Lukasevangelium als „das“ Evangelium sowie zehn „verbesserte“ Paulusbriefe (ohne Pastoralbriefe und Hebr) vorlegte. Hier haben wir einen aus Corpus evangelicum und Corpus paulinum bestehenden Kanon des NT. Dies hat die Kirche abgelehnt und auch dadurch die Entwicklung des kirchlichen Kanons beschleunigt. Daneben entwickelte der Syrer Tatian nach seinem Bruch mit der römischen Gemeinde um 170 n. Chr. eine Evangelienharmonie, das sogenannte Diatessaron, das lange Zeit „das Evangelium“ der syrischen Kirche war. Diese „Harmonie“ versucht eine einheitliche Lebens- und Wirkungsgeschichte Jesu zu erzählen und bereinigt dabei die „Unebenheiten“, die sich aus dem Vergleich der vier kanonischen Evangelien ergeben. Insgesamt konnten die später als häretisch eingestuften Gruppen auf ein immer größer werdendes Reservoir an Offenbarungsschriften zurückgreifen.
Reaktion der Kirche: Kanonbildung
Die Kirche wehrte sich gegen den Anspruch solcher Gruppen und ihrer Schriften durch eine zunehmende Feststellung der Exklusivität und Abgeschlossenheit „ihres“ Kanons. In der Mitte des 2. Jh. setzte die Konsolidierung des neutestamentlichen Kanons ein. Die apokryphen Texte und die dahinter stehenden Vorstellungen waren zumeist „enger“, als es dem Glaubensbewusstsein der Kirche entsprach; sie wurden nicht als wahre, dem christlichen Bekenntnis entsprechende Zeugnisse wahrgenommen. Man brauchte also einen „‚Beurteilungsmaßstab‘ für die von der Kirche zu wahrende und weiterzugebende apostolische Überlieferung“ (Vögtle 1966, 30). Bedeutsam ist dabei auch, dass der Prozess der Kanonisierung nicht als hektisch zu beschreiben ist. Der „Kanon der Wahrheit“, der in der regula fidei Gestalt gewann, wurde nicht übereilt auf eine festumrissene Sammlung heiliger Schriften umgestellt. (Hier ist leider nicht der Ort, die theologischen Entscheidungswege detailliert nachzuzeichnen.)
Wie sah diese Konsolidierung aus? Beim Kirchenvater Irenäus von Lyon, einem der bedeutendsten Theologen des 2. Jh. n. Chr., ist um 185 bereits ein Nebeneinander von Mt, Lk, Mk und Joh zu finden. In seiner Zusammenstellung kanonischer Schriften fehlen allerdings Phil, 2 Petr, 2/3 Joh, Hebr und Jud. Dafür ist der Hirt des Hermas aufgeführt. Irenäus prägte darüber hinaus den Begriff der regula fidei, der „Regel des Glaubens“, womit die wesentlichen Inhalte des christlichen Glaubens in der apostolischen Überlieferung gemeint waren. Der Canon Muratori, ein fragmentarisches Kanonverzeichnis, spiegelt den Stand der Kanonfrage um 200 n. Chr. im Westen wieder: Er enthält die vier Evangelien, Apg, 13 Paulusbriefe, Jud, 1/2 Joh und Offb. Es fehlen 1/2 Petr, Hebr, Jak und 3 Joh. Hier wurde ein prophetisch-apostolisches Prinzip genutzt (das AT wurde von Propheten, das NT von Aposteln geschrieben, d. h. was nicht von Propheten und Aposteln geschrieben wurde, gehört nicht zur Schrift), das als ein Kriterium für die Echtheit angesehen werden kann. So ist zum Ende des 2. Jh. n. Chr. ein starkes Bewusstsein festzustellen, einen „neutestamentlichen“ Kanon zu haben, jedoch finden sich in den verschiedenen Kirchengebieten wie beschrieben unterschiedliche Auffassungen darüber, wie dieser Kanon abzugrenzen sei (v. a. im Blick auf die Schriften neben den vier Evangelien).
Als eine weitere wichtige Etappe kann Origenes genannt werden. Gegen 230 n. Chr. kommentiert er die neutestamentlichen Schriften und führt drei Kategorien ein: 1) allgemein anerkannte Schriften, 2) lügnerische, von Häretikern untergeschobene Schriften und 3) Schriften, über deren Echtheit Zweifel besteht. Wichtig waren für ihn v. a. die apostolische Autorenschaft und der gottesdienstliche Gebrauch der Texte. Interessant sind v. a. die Schriften, über deren Echtheit Zweifel besteht: Neben dem Barnabasbrief, dem Hirt des Hermas, der Didache und dem Hebräerevangelium beschreibt er auch sechs (später kanonische) Briefe als umstritten: Hebr, 2 Petr, 2/3 Joh, Jak, Jud.
Auch bei Eusebius von Caesarea (260–340 n. Chr.) finden sich Kanonverzeichnisse. Cyril von Jerusalem führt um die Mitte des 4. Jh. n. Chr. in Jerusalem in seinen katechetischen Vorträgen einen Kanon auf, der bis auf die Offb alle Bücher des Neuen Testaments enthält. Der für die Ermittlung des „Urtextes“ so wichtige Codex Sinaiticus, eine Handschrift der christlichen Bibel aus der Mitte des 4. Jh. n. Chr., umfasst den „Hirten des Hermas“ und den Barnabasbrief, der ebenfalls bedeutsame Codex Alexandrinus aus dem 5. Jh. n. Chr. enthält die beiden Clemensbriefe. Ebenfalls in der Mitte des 4. Jh. n. Chr. belegt der 59. Canon der Synode vonLaodicea den Begriff „Kanon“ erstmalig im Zusammenhang biblischer Bücher und bestimmt, dass „nicht kanonisierte Bücher“ nicht in der Kirche verlesen werden sollen. Im anschließenden Canon 60 werden die kanonischen Schriften aufgezählt. Hier finden sich außer der Offb alle neutestamentlichen Schriften.
Die in den unterschiedlichen Textzeugen der Kanonentwicklung zum Ausdruck kommende Offenheit und Varianz des Kanons bezieht sich v. a. auf den im Osten anerkannten und im Westen umstrittenen Hebr und die im Westen anerkannte, im Osten aber umstrittene Offb. Aber sowohl in der griechischen als auch in der lateinischen Kirche bestand über das Gros des späteren Kanons kein ernsthafter Streit.
In der 2. Hälfte des 4. Jh. findet die Kanonbildung faktisch ihren Abschluss. Zu dieser Zeit hat sich nicht nur der neutestamentliche Kanon, sondern zugleich die christliche zweigeteilte, aus AT und NT bestehende Bibel gebildet – zwei Prozesse, die sich gegenseitig bedingt und beeinflusst haben. Der entscheidende Wegmarker ist der 39. Osterfestbrief des Athanasius von Alexandrien aus dem Jahr 367. Dort warnt der Verfasser vor apokryphen, d. h. von der Kirche verworfenen Schriften und nennt neben den Schriften des AT alle 27 neutestamentlichen Schriften und bezeichnet sie als „kanonisch“. Die Didache und der Hirt des Hermas stellen für ihn (lediglich) nützliche Vorlesebücher für den Taufunterricht dar. Hier haben wir nun den fest umschriebenen Kanon beider Testamente. Dieser Kanon setzte sich aufgrund der Autorität des Athanasius im Osten und später auch im Westen durch, die Apokryphen werden vom kirchlichen Gebrauch ausgeschlossen. Weitere Meilensteine sind u. a.: die römische Synode unter Papst Damasus (382 n. Chr.), die alle 27 neutestamentlichen Schriften bestätigt; die nordafrikanischen Synoden (393/397/419 n. Chr.) unter Augustinus, die den Kanon anerkannten (46 Schriften aus dem Alten, 27 aus den Neuen Testament) und verboten, andere Schriften im Gottesdienst als göttliche Schriften zu verlesen; die Bestätigung aller 27 neutestamentlichen Schriften durch Papst Innozenz in einem Brief an Bischof Exuperius von Toulouse im Jahr 405 n. Chr. Auch das Decretum Gelasianum von Papst Gelasius (492–496 n. Chr.) bietet Listen kanonischer bzw. apokrypher Bücher und umfasst alle 27 Schriften des NT.
Abschließend festgeschrieben wurde der biblische Kanon 1546 auf dem Konzil von Trient im Decretum de canonicis scripturis. Nach den reformatorischen Infragestellungen des biblischen Kanons, die sich v. a. auf das AT und die Stellung einzelner neutestamentlicher Schriften bezogen, definierte das Konzil den biblischen Kanon und bildete so den definitiven Abschluss der Kanonbildung.
Motive und Prinzipien der Kanonisierung
Den christlichen Kanon im Ganzen (AT und NT) kennzeichnen Kontinuitäts- und Diskontinuitätsmomente. Es gibt eine große Pluralität neutestamentlicher Theologien, die im Verlauf der Kanongeschichte gerade nicht eingeebnet wurden. So kann beispielsweise nur von neutestamentlichen Christologien im Plural gesprochen werden (z. B. die johanneische, synoptische, paulinische Christologie), ebenso wie von neutestamentlichen Kirchenbildern. Die Pointe des Kanons liegt gerade darin, dass er die Vielfalt nicht verkürzt und dennoch eine Einheit gewährleistet.
Viele Motive und Prinzipien der Kanonisierung sind bisher bereits angeklungen, sie seien an dieser Stelle noch einmal herausgestellt:
Apostolizität
Auch wenn sich nicht alle Verfasser der 27 Schriften als „Apostel“ vorstellen oder als „Apostelschüler“ ausweisen, so war doch die (wenigstens vermeintliche) apostolische Abfassung ein erstes entscheidendes Kriterium für die Aufnahme in den neutestamentlichen Kanon. Die apostolische Herkunft stand für die Reinheit der apostolischen Lehre, v. a. in Abgrenzung zu häretischen Schriften und den darin verbreiteten Irrlehren, die v. a. im 2. Jh. n. Chr. aufkamen. Das Verständnis der apostolischen Herkunft war aber wohl eher weit als eng, wie z. B. der Hebr zeigt: Hatte schon Origenes klar erkannt, dass Paulus nicht als Verfasser dieses Schreibens angenommen werden kann („Wer aber den Brief geschrieben hat, weiß in Wahrheit Gott.“), so plädiert er dafür, ihn weiter als Paulusbrief zu betrachten, da die Gedanken des Schreibens für ihn paulinisch sind. Aber auch wenn die Apostolizität immer wichtiger wurde, war sie doch nicht das alleinige und endgültige Kriterium, weder positiv noch negativ; d. h. weder war die Zuschreibung zu einem Apostel Garant für die Aufnahme (vgl. Petrusevangelium), noch war die Infragestellung einer apostolischen Autorenschaft ein definitives Ausschlusskriterium (vgl. Hebr). Dies entsprach der ehrlichen Feststellung, dass der Ursprung aller infrage kommenden Schriften in dieser Zeit schon nicht mehr eindeutig zu bestimmen war. Daher sind noch weitere Kriterien zu nennen.
„Der Kanon der Wahrheit“
Der innere Zusammenhang zwischen der regula fidei, also den wesentlichen Inhalten des christlichen Glaubens in der apostolischen Überlieferung, und der verbindlichen Liste der Bücher der Heiligen Schrift wird schon am Begriff des Kanons deutlich. Der regula fidei entsprach die griechische Formulierung „Kanon der Wahrheit“. So existierte schon vor 200 n. Chr. „im Bewußtsein der Kirche […] ‚der Kanon der Wahrheit‘, der Maßstab der von der Kirche überlieferten und verkündeten Wahrheit, der im ‚Kanon des Glaubens‘ Gestalt gewinnt. Der Apostolizitätscharakter einer Schrift wurde deshalb zugleich an der normativen Glaubensaussage gemessen“ (Vögtle 1966, 42).
Katholizität
Mit der apostolischen Provenienz war schon früh im Blick, dass sich die Schriften an die ganze, die „katholische“ Kirche richteten. So ließ sich vom unterschiedlichen Verbreitungsgrad der jeweiligen Schrift „auf deren genuine oder vorgetäuschte Apostolizität schließen“ (Vögtle 1966, 43). Hier wurde v. a. die gottesdienstliche Verwendung bedeutsam. Wichtig ist, dass nach einer Phase der Verwendung bestimmter Schriften in bestimmten regionalen Bereichen der Kirche langsam aber sicher der gesamte Kanon der neutestamentlichen Schriften genutzt wird. Die beschriebenen Schwierigkeiten mit dem Hebr und der Offb bestätigen diesen Vorgang eher, als das sie ihn widerlegen.
Eine Frage in diesem Prozess ist die nach der Rolle kirchlicher Verantwortungsträger. Schon im NT kann man ersehen, dass die lebendige Autorität der Apostel in der nachapostolischen Zeit auf die Vorsteher/Bischöfe als Amtsnachfolger der Apostel übergeht (vgl. 1 Tim 3,1; 2 Tim 4,1 ff.; Hebr 13,17 etc.). Während der Kanon für Schneemelcher „nicht durch irgendeinen kirchenregimentlichen Beschluss geschaffen worden, sondern in einem langen Prozess zusammengewachsen“ (Schneemelcher 1999a, 26) ist, bezweifelt Vögtle, dass es ohne das autoritative Eingreifen im 4. Jh. n. Chr. zu einem festumrissenen Kanon des NT gekommen wäre, denn die Entscheidungen im 4. Jh. bedeuten „nicht einfach die Feststellung eines in allen Kirchengebieten eindeutigen Tatbestandes“ (Vögtle 1966, 35). Vielmehr beruht „die abschließende Kanonisierung unserer 27 Schriften [de facto] […] auf Akten kirchlicher Lehrvollmacht“ (ebd. 45). Aber unabhängig von der Beantwortung dieser Frage ist im ganzen Prozess der Kanonbildung das Bedürfnis nach Klarheit, was „echte“ und „wahre“ Jesustradition sei, deutlich. So ist der Kanon vor allem aus innerkirchlichen Motiven entstanden. Die Entstehung des Kanons ist „weithin bestimmt von dem Bemühen, die ‚echte‘ Tradition von falschen Traditionen abzugrenzen“ (Schneemelcher 1999a, 9). Gefördert wurde dies jedoch durch Entwicklungen von außen (Gnosis, Marcion etc.). Es ging immer um die Entscheidung zwischen wahrer und falscher Tradition, und so spiegelt sich in der Kanonbildung auch die Gestaltwerdung der kirchlichen Lehre. Mit ihrem neutestamentlichen Kanon „stellte die Kirche […] ‚ein Normbild ihres eigenen Wesens‘ [K. Schelke] auf, dem sie selbst treu bleiben will“ (Vögtle 1966, 46).
Christliche Identität
Das im neutestamentlichen Kanon gewonnene „Normbild“ weist theologische Spannungen auf – dies ist ein Gewinn. Diese Spannungen müssen nicht aufgelöst, sondern vielmehr genutzt werden (vgl. Söding 1996, 1181). So ist die Schrift ein Identifikationstext, in dem Christen ihre Identität finden können – und zwar in Einheit und Vielfalt (nicht hineingepresst in eine „Harmonie“; vgl. Tatian). Der Prozess, in dem sich diese Schrift zum verbindlichen Maßstab entwickelte, ist ein Prozess der Identitätsfindung, sowohl positiv (durch die Sammlung der anerkannten Schriften) und zugleich negativ (durch die Aussonderung der nicht-anerkannten Schriften). Die Geschichte des neutestamentlichen Kanons ist zudem eine Geschichte der „rangmäßigen Gleichstellung [der 27 neutestamentlichen Schriften] mit der von Anfang an vorhandenen ‚Schrift‘“ (Vögtle 1966, 11), dem AT. Hier wird deutlich, dass das Bemühen um eine christliche Identität, um eine Norm christlicher Existenz, kein Produkt späterer Zeiten ist, sondern bereits ein Anliegen des Urchristentums. Dabei erfolgte die Auswahl der kanonischen Schriften „im allgemeinen mit gutem theologischen Urteil“ (Conzelmann/Lindemann 1980, 9). Seine Autorität erhält der Kanon zu Beginn zwar zentral v. a. aus formalen Gründen (v. a. aufgrund der apostolischen Autorenschaft); aber auch bei nachvollziehbaren historischen Zweifeln behielt er seine Berechtigung aufgrund des Themas, der Offenbarung Gottes in Christus, und der Art, wie dieses Thema jeweils bearbeitet wird (vgl. ebd.). Man kann sich so dem Urteil Bernhard Lohses anschließen: Es „ist […] erstaunlich, mit welcher Treffsicherheit die damalige Kirche im Ganzen die wesentlichen und auch zuverlässigsten Schriften in den Kanon aufgenommen hat. Es gibt schwerlich eine andere Schrift, deren Aufnahme in den Kanon man nachträglich wünschen möchte“ (Lohse 1983, 37). Im nachgezeichneten Prozess der Kanonbildung finden sich alle zu Beginn genannten Elemente, die für die Ausbildung einer (christlichen) Gruppenidentität notwendig waren: Selbstdarstellung, Registrierung des anderen, die (theologische) Bildung eines Binnenselbstverständnisses als Gruppe und Ordnung und eine Außendarstellung gegenüber der Umwelt. Mit dem Kanon beantwortete die Kirche die Frage nach ihrer Grundlage und Identität. Was christlich ist, muss sich seitdem an eben diesem Kanon messen lassen.