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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

möglicherweise ist es eine Reaktion auf die zunehmende Vielfalt und Aus­differenzierung moderner Gesellschaften: Schlagworte wie „Hei­mat“, „deutsche Leitkultur“, traditionelle Bilder und Werte bei Ge­schlech­terrollen und Familienvorstellungen etc. sind gesellschaftlich wieder auf die Tagesordnung zurückgekehrt. Viele haben Sorge, dass angesichts von Migration und wachsender Pluralität von Lebensstilen und ‑formen ihre Identität verlorengeht, und wenden sich im politi­schen und kulturellen Raum gegen liberale, tolerante Haltungen und, wie sie sagen: „Multikulti“. Im religiösen System und in der Kirche sind ähnli­che Beobachtungen zu machen. Es wächst die Zahl derer – oder zumin­dest artikulieren sie sich lauter als bisher –, die ein klareres „katho­lisches Profil“ einfordern. Dies betrifft die Art und Weise des Lebens in Pfarrei­en, kirchliche Einrichtungen und die Vorstellungen von christlichem Leben und wie die nachwachsende Generation dort hinein­sozialisiert werden soll. Klare Kante zeigen! Die Faszination der Mess­feier in der außerordentlichen Form (Tridentinische Messe) ebenso wie Auffassun­gen über kirchliche Praktiken oder bestimmte Frömmigkeits­formen sind für sich genommen erst einmal Teil einer legitimen Vielfalt katho­lischer (im Sinne vielfältiger!) Frömmigkeitsausübung. Das ist in Ord­nung. Das Problem stellt sich dann, wenn die eigene persönliche Auf­fassung und Ausrichtung der Ausgangspunkt ist, den ande­ren/die an­dere, der/die nicht so denkt und handelt, abzuqualifizieren oder ihm/ihr das Katholischsein oder den Glauben abzusprechen. Das Weltbild kommt dann vereinfacht und recht holzschnittartig daher: weiß – schwarz, Deutscher – Ausländer, gläubig – ungläubig. Der ver­meintliche „Gegner“ wird dann zumeist diffamiert und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft. Wenn die eigene Orientierung zum Maß aller Dinge wird, wenn der eigene Wahrheitsanspruch sich mit einem Anspruch auf Durchsetzung verbindet, dann ist auf Dauer ein Grundkonflikt vorprogrammiert.

Ist diese Bewegung der „Alternativität“ eine Antwort auf immer mehr aufgeweichte Grenzen, auf eine Haltung, in der alles gleich‑gültig ist? Auf eine Gesellschaft, in der sich jeder erlaubt, was er will und was ihm Spaß bereitet? Auf eine als zu diffus, seelenlos oder als Elfenbeinturm empfundene Theologie? Auf eine als lasch empfundene Kirchen- und Religionspraxis? Möglicherweise wurde in der jüngeren Vergangenheit, spätestens seit den 90er Jahren, seit denen der Wandel und die gesell­schaftliche Veränderungsdynamik an Fahrt aufgenommen haben, zu wenig der Diskurs mit anderen um die eigene Verortung gesucht. Der Dialog gestaltet sich heute oft schwierig, da Vernunftgründe nicht zie­hen und mancher grundsätzlich nicht am Austausch und an differen­zier­ter Meinungsbildung im Kontakt mit Menschen anderer Auffassun­gen und Orientierungen interessiert ist. Differenzierungsprozesse und die damit verbundene wahrgenommene Fremdheit werden als Bedro­hung des eigenen Sinnsystems empfunden und verursachen Angst. Nach der Auflösung von monopolistischen Deutungssystemen, die den Sinnhorizont normativ und hierarchisch-institutional herstellten, wird Identität zur unhintergehbaren Aufgabe für den Einzelnen/die Einzel­ne, die er/sie in Freiheit und in der gesellschaftlichen Kontextualität und lebensgeschichtlichen Dynamik zu leisten hat.

Das Thema Identität ist deshalb so aktuell, weil sich dahinter die Frage verbirgt, was der von möglichst vielen anerkannte verbindliche Grund ist, auf dem wir in einer offenen und an Sinnhorizonten und Lebenssti­len pluralen Gesellschaft (und in der Kirche als Gottesvolk) zusammen­leben können. Rückgriffe auf Narrative wie das „christliche Abendland“ und „das Haus voll Glorie“ muten seltsam unhistorisch an. Solche Bil­der, die in die „gute alte Zeit“ projiziert werden („Früher war mehr Lametta!“), sind Utopien der Vergangenheit und halten selten der historischen Überprüfung stand. Auch ein Rückgriff auf „Nationalität“ ist so ein Anachronismus. Im 19. Jahrhundert hat sich das Bewusstsein einer (unter der Hegemonie Preußens) geeinten deutschen Nation im kriegerischen Antagonismus mit Österreich und Frankreich gebildet. Für die Gegenwart, die von viel größeren Einigungsprozessen (Europa, Weltfamilie) sowie von wirtschaftlichen, ökologischen, kulturellen und medialen Globalisierungsprozessen gekennzeichnet ist, scheint mir diese Hermeneutik des 19. Jahrhunderts, die sich in manch populisti­schem Regierungshandeln wiederfindet, denkbar ungeeignet. Aber solche Bilder haben offenbar eine große Suggestionskraft für die Schaf­fung von persönlicher und kollektiver Identität. Und sie entfalten der­zeit Resonanz und Wirkung in Gesellschaft, Staat und Kirche.

Doch was macht Identität tatsächlich aus? Was gehört zu einem „katho­lischen Profil“? Müsste dies nicht vielmehr ein christliches Profil sein? Welche Vorstellungen von Glaubensinhalten, moralischer und religiöser Praxis gehören dazu? Welchen Stellenwert haben und wie gestalten sich Abgrenzung und Anknüpfung miteinander? Von Hans-Joachim Höhn wird die kirchliche Profilierungsfalle als Abgrenzungsstrategie zur Ge­winnung von Identität – nicht ohne Augenzwinkern – beschrieben und problematisiert: „Wer nur auf die Bestimmung von Unterschieden aus ist, kopiert eine Strategie, die von allen Unternehmensberatern zur Pro­filschärfung empfohlen wird. Und wer das nachmacht, was alle anderen vormachen, hört auf, sich zu unterscheiden.“ Eine Strategie in Gesell­schaft und Kirche, die der derzeitigen gesellschaftlichen Situation ange­messen ist, besteht also gerade nicht darin, sich exklusiv aufzustellen und Unterscheidendes zu betonen, sondern gerade inklusiv zu denken und zu handeln. Es sei die kleine Anmerkung erlaubt, dass dies für den Bereich des kirchlichen Handelns offenbar eher einen Weg der Nach­folge Jesu darstellt als die Abgrenzung. Jesus hat nach dem Zeugnis der Evan­gelien Meidungsgesetze und Tabuvorschriften, wie sie jede Reli­gion kennt, durchbrochen und Grenzen überschritten, um eine von Gott her eröffnete universale Heilsdynamik zu entfalten. Diese ermutigt in den Bildworten vom Salz der Erde und vom Licht der Welt die Jünge­­rin­nen und Jünger Jesu dazu, in zentrifugaler Bewegung auszustreuen und in zentripetaler Orientierung interessierte Menschen zu sammeln. Identi­tät ergibt sich hier aus einer Nachfolge, die sich dem Anderen und dem Fremden öffnet, um an der Sendung Gottes zu allen Menschen teilzu­nehmen. Offensichtlich ist also derzeit nicht die Vielfalt das Pro­blem, sondern der Mangel an zugelassener Vielfalt und dem kommu­nikativ bearbeitenden Umgang mit ihr.

Identität ist nicht etwas Vorgegebenes, sondern etwas Aufgegebenes. Identität ist kein subjektiv gesetzter oder eingenommener Status, son­dern ein dynamischer Prozess, u. a. der Zuschreibung von außen. Iden­tität und Fremdheit sind zunächst Konstruktionen, deren Metaphern sich in Anknüpfung und Abgrenzung bilden. Dem wollen wir in dieser Ausgabe von εὐangel nachspüren und laden Sie, unsere Leserinnen und Leser, zur Entdeckungsreise ein.

Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen

Ihr