Weihnachten: ein Fest der Familie?
Auch wenn es daheim zuhause wohl nur selten so zugeht wie im amerikanischen Film, gilt auch im europäischen Kulturkreis vielen Menschen Weihnachten nicht nur als Fest des Friedens und der Besinnung, sondern auch und vor allem als Fest der Familie. Dementsprechend soll diese Festlichkeit dann auch in möglichst harmonischer familiärer Geborgenheitsatmosphäre begangen werden. Kaum Kosten werden gescheut, der Weihnachtstrubel in Kauf genommen, lange Wege trotz Schnee und Glätte überwunden, alte Konflikte zumindest für eine Zeit lang beiseitezulegen versucht, um wenigstens zu Weihnachten ein paar Tage oder auch nur Stunden im Kreise der Lieben zu verbringen. Laut einer Studie des Marktforschungsinstituts GfK verbringen 86 Prozent der Deutschen den Weihnachtsabend im Familienkreis. Weihnachten als Familienfest ist zu einem Massenphänomen geworden, dem man sich nur schwer verweigern kann. Nur drei Prozent begehen Weihnachten allein. Sich dem Sog von Weihnachten zu entziehen und einfach so zu tun, als sei Weihnachten ein Tag wie jeder andere, fällt äußerst schwer.
Die Religiosität der Menschen spielt dabei, für die Weise, wie sie Weihnachten begehen, zunächst einmal kaum eine Rolle. Dass die Familienidylle nicht die ursprüngliche Botschaft von Weihnachten ist; dass die Weihnachtskrippe in ihrer heutigen Form, mit der wir diese Botschaft verbinden, erst zu Beginn der Neuzeit Verbreitung fand; dass die Zusammenschau der biblischen Weihnachtsgeschichten die wenig behagliche Situation der Geburt in der Fremde in einem Stall bei Bethlehem mit ein paar dazugelaufenen Hirten vom Feld darstellt; dass der Wunsch nach einer Weihnachtsfeier mit Vater, Mutter, Kind eigentlich eine überkommene Reminiszenz an das Ideal des Bürgertums des 19. Jahrhunderts ist; dass es in der Weihnachtsgeschichte nicht um die Familienangehörigen, sondern um Gott geht, der bei den Seinen sein will – all dies ist für das gesellschaftliche Empfinden von Weihnachten kaum von Relevanz.
Es bleibt, dass Weihnachten – durchaus aus christlicher (Kultur‑)Tradition heraus – für viele Menschen ein Fest der Liebe ist, und dass diese Botschaft in Erneuerung der Erfahrung familiärer Gemeinschaft und Geborgenheit greifbar gemacht werden soll. Wo bleiben in dieser Situation jedoch Menschen, deren Angehörige, möglicherweise erst kürzlich, verstorben sind, deren Kontakte nach heftigem Streit so abgebrochen sind, dass keine Wiederaufnahme der Kommunikation möglich erscheint, oder deren räumliche Distanz zu ihrer Familie sich einfach nicht überwinden lässt? Gerade für sie ist der Verweis auf den „eigentlichen Kern“ von Weihnachten eher Hohn als Trost. Während sie im Alltag mit dem Alleinsein unter Umständen ganz gut klarkommen, erleben viele gerade in den Weihnachtstagen, die aus dem christlichen Grundgedanken heraus eigentlich eine Zeit der Freude für alle sein sollen, ihre Einsamkeit besonders drastisch. Kaum ein Mensch will in dieser Zeit wirklich gern allein sein; schon in den kalten, dunklen Wintermonaten zuvor, die viele Menschen am liebsten in kuscheliger Zweisamkeit („Wintimacy“) verbringen, haben die Singlebörsen den größten Zulauf. Fällt dann auch noch das familiäre Netz aus, das zu Weihnachten bei den Menschen um sie herum eine außerordentliche Bedeutung erhält, kann diese Ausgrenzung mitunter als dramatisch empfunden werden.
Glücklicherweise ist die Gesellschaft auf diese Problematik zunehmend aufmerksam geworden. Gerade unter Christen gibt es Menschen, die es als ihre Aufgabe empfinden, besonders zu Weihnachten die christliche Botschaft der Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes auch für jene Menschen greifbar zu machen, die im Alltag bei der Erfahrung von Nähe häufig außen vor gelassen sind. Die Geschichte Gottes, der sich zur Heiligen Nacht als Kind in der Krippe in diese Welt hineingibt, um den Menschen nahe zu sein, begreifen sie als Ansporn und als Aufforderung, gerade in dieser Zeit arme und bedürftige Menschen nicht allein zu lassen. Warum nicht am Heiligabend ein großes gemeinsames Fest feiern, zu dem gerade die Menschen eingeladen sind, die sonst in ihrem Leben nur (noch) wenig Gemeinschaft erfahren, sich aber gerade in dieser Zeit danach sehnen?
Mittlerweile ist dieser Gedanke in viele einzelne christliche Initiativen vor Ort übergegangen. Da sich die Weihnachtsbotschaft nicht nur an Christen richtet, spielt für die Teilnahme an diesen Veranstaltungen die Religionszugehörigkeit keine Rolle. Dennoch ist der Kreis der Zielpersonen trotz des ähnlichen Grundgedankens durchaus unterschiedlich. Teilweise schlägt sich dies auch in der Benennung nieder. So ist die Veranstaltung „Heiligabend nicht allein“ der Pfarrei St. Johannes Burg im Bistum Magdeburg ausschließlich auf Pflegebedürftige ausgerichtet. Häufig sind jene nicht nur wegen ihrer Bewegungsschwierigkeiten, sondern auch aufgrund fehlender Versorgung und Vorkehrungen vor Ort in ihrer Mobilität eingeschränkt und haben deshalb nur schwer die Möglichkeit, die Weihnachtstage im Familienkreis zu verbringen. Bei der „Offenen Weihnacht“, die sich in Münster auf mehrere katholische Pfarreien erstreckt und mittlerweile unter diesem Namen auch auf die Umgebung ausgebreitet hat, war dagegen anfangs an Obdachlose gedacht. Deshalb hieß diese auch zuerst noch „Obdachlosen-Weihnacht“, bevor auch andere das Angebot für sich entdeckten. Mittlerweile hat sie sich zu einem vielfältigen Angebot mit teils gediegenerer, teils rustikalerer Ausprägung für verschiedene Personengruppen entwickelt. Die „Gemeinsame Weihnacht“ in der Ringkirche in Wiesbaden war dagegen von Anfang an als große Weihnachtsfeier für alle gedacht und zielt beispielsweise auch auf Familien mit Kindern ab, die Weihnachten in großer Runde verbringen möchten. Von älteren Alleinstehenden über soziale Bedürftige bis hin zu jüngeren Menschen soll mit allen Altersklassen und sozialen Schichten gemeinsam Weihnachten gefeiert werden. Das Düsseldorfer „Weihnachtsfest für alleinstehende Männer“ indes ist als Veranstaltung des CVJM allein auf männliche Alleinstehende beschränkt. Dieselbe Art von Veranstaltung allein für Frauen wird in jener Stadt vom BDKJ organisiert.
Noch etwas größer als die Düsseldorfer Männerweihnacht und damit wahrscheinlich die größte Veranstaltung dieser Art ist die Wuppertaler „Heiligabendfeier für einsame und alleinstehende Menschen“. Von den Veranstaltern wird Wert darauf gelegt, dass es sich um ein karitatives Angebot handelt und sich die Feier als solche an alleinstehende und einsame Erwachsene und nicht an Familien richtet. In gemeinsamer Trägerschaft von CVJM, Caritas und Diakonie ausgerichtet, werden bis zu 700 Gäste und etwa 100 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer erwartet. Aufgrund ihrer Größe findet die Veranstaltung nicht im Gemeinderaum, sondern in der dekorativen Historischen Stadthalle Wuppertal statt.
Da sich die Veranstaltungen insbesondere an finanziell schlechter gestellte Menschen richten, werden sie in aller Regel aus Spenden finanziert und von einem großen ehrenamtlichen Engagement getragen. Auch wenn, wie in Wuppertal, ein kleines Eintrittsgeld erhoben wird, ist es nicht zur Kostendeckung vorgesehen. 3 Euro Eintritt stehen hier 20 Euro Aufwendungen pro Person gegenüber.
Vom Programm her geht es bei den Weihnachtsfeiern häufig klassischer und traditioneller zu als zuhause. Es gibt Kaffee und Kuchen, man unterhält sich, singt gemeinsam Weihnachtslieder, lauscht Weihnachtsgeschichten und weihnachtlicher Musik von Flöten, Klavier und Bläsern. Mitunter wird auch ein kleines Theaterstück aufgeführt. Im festlich geschmückten Saal dürfen Weihnachtsbaum und Krippe natürlich nicht fehlen. In Münster kommt der Weihbischof zu Besuch, in Wuppertal der Oberbürgermeister. Auch auf eine kleine Bescherung und ein Weihnachtsessen, dass je nach finanzieller Basis größer oder kleiner ausfallen kann, wird meistens nicht verzichtet. Häufig wird außerdem noch auf freiwilliger Basis zum Besuch der Christmette, der Christvesper oder des Krippenspiels eingeladen. Während Gottesdienste für Singles bereits einige Verbreitung gefunden haben, sind Weihnachtsgottesdienste speziell für Alleinstehende allerdings weiterhin ein Desiderat.
Wer an Weihnachten alleine ist und nach einer Weihnachtsfeier für Alleinstehende sucht, kann sich an die Einrichtungen der Caritas und Diakonie vor Ort oder auch an die Sozialberatung der Kommune wenden. Neben den genannten Institutionen werden weitere Angebote von sozialen Einrichtungen wie der Heilsarmee, dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) oder der Arbeiterwohlfahrt (AWO) organisiert.
Während viele alleinstehende Menschen die familiäre Atmosphäre zu Weihnachten besonders vermissen, gibt es daneben auch jene, die auf die klassisch gewordene Form der Familienfeier bewusst verzichten wollen, beispielsweise um zu Weihnachten mehr Zeit für Ruhe und Besinnung zu finden. Für diesen Interessentenkreis bieten mittlerweile einige Klöster für die Weihnachtstage eine Zeit des Mitlebens an (nähere Informationen im Bericht „Weihnachten hinter Klostermauern“ auf katholisch.de). In der Abgeschiedenheit der Klostergemeinschaft findet sich bei Gebet und Meditation die Möglichkeit, dem Weihnachtswunder auf ganz neue Weise nahezukommen. Für solche, die sich trotz aller Angebote an Weihnachten einsam fühlen oder für die das so harmonisch geplante Weihnachtsfest in Streit endet, bietet unter anderem die ökumenisch getragene TelefonSeelsorge Hilfe.
Auf ganz unterschiedliche Weise wird so Menschen im Heute das Licht von Weihnachten nahegebracht. In der Zuwendung, die sie erfahren, wird für sie die Güte Gottes greifbar, damit es heißen kann:
Groß ist von jetzt an Gottes Herrlichkeit im Himmel;
denn sein Frieden ist herabgekommen auf die Erde
zu den Menschen, die er erwählt hat und liebt!
(nach Lk 2,14; Gute Nachricht Bibel)