IEEG-Tagung Kirche(n)gestalten
Das Institut für die Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) hat in seiner nun fast 25-jährigen Geschichte in profilierter Weise den pastoralen Diskurs vorangebracht und sich insbesondere um die Vermittlung der Erfahrungen der Anglikanischen Kirche (Mission Shaped Church und Fresh Expressions of Church) verdient gemacht. In der wunderschönen Pommerschen Landschaft, ein wenig in der Peripherie Deutschlands gelegen, macht es gleichsam selbst „am Rande“ auf den gesellschaftlichen und missionarischen Wandel von Christsein und Kirche aufmerksam und versucht aus Forschung und Analysen Anregungen und Begleitung für eine kirchliche Zukunft zu geben.
Die diesjährige Tagung (24.–26.5.2018 in Greifswald), zu der sich das Who’s Who (nicht nur) der protestantischen „Szene“ der missionalen Kirchenentwicklung zusammenfand, widmete sich den wie anderswo auch drängenden Fragestellungen der Ekklesiologie. Der Institutsleiter Michael Herbst votierte in seinem grundlegenden Einführungsvortrag dafür, in der aktuellen Transformationskrise hin zu einer öffentlichen Minderheits- und Missionskirche die noch vorhandenen Ressourcen mutig in die richtige Richtung zu investieren. Mission sei nicht die Rettung der Kirche in ihrer vergangenen Gestalt. Für Herbst sind die zwei derzeit wichtigsten Baustellen die Begleitung zu einem lebendigen und mündigen Christsein als Formation der Getauften sowie eine „regio-lokale Kirchenentwicklung“ – hin zu einer „Kirche der vielen Anschlussstellen“ mit attraktiveren Zentralorten und lokalen Gemeinden, die von kleinen Gruppen lebendiger Christen getragen werden.
Die Soziologin Christel Gärtner vom Münsteraner Exzellenzcluster Religion und Politik machte deutlich, dass die alten Indikatoren nicht mehr für die Wahrnehmung und Beschreibung postmoderner Religiosität geeignet seien. Insbesondere Jugendliche verbinden ihre eigene Religiosität mit lebenspraktischen Formen und in der Zuwendung zu anderen. Benjamin Schließer versuchte als Neutestamentler einen historischen Blick auf die Forschungen zur Ausbreitung der Jesus-Bewegung. Ein angelsächsischer Triumphalismus sei vergangen, man analysiere heute nüchtern die Rahmenbedingungen nicht nur für das Überleben, sondern auch für die Verbreitung des frühen Christentums in seiner formativen Phase. Neben einer Wiederentdeckung des Glaubens sind für Schließer eine Offenheit für Vielfalt sowie eine Option für die ganze Gesellschaft und eine Transformation der Ethik zentrale Gesichtspunkte. Dem frühen Christentum als Avantgarde sei eine soziale und kulturelle Innovation gelungen. Dies sei in der Postmoderne analog zur Antike auch wieder neu möglich angesichts von religiösem Pluralismus. Schließer optierte für neue Resonanzen anstatt des Reformstresses und der Beschleunigung des herkömmlichen kirchlichen Lebens.
Der Ratsvorsitzende der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, zeigte in seinem Vortrag den Unterschied zwischen der unsichtbaren geglaubten und der empirischen fassbaren Kirche auf. Je nachdem, wie man beide in Beziehung zueinander setzt, verstehe man Kirche entweder als „Gesellschaftkirche“, die sich an die Bedingungen der Gesellschaft anpasst, um wettbewerbsfähig zu sein. Kirche als Kontrastgesellschaft hingegen mit Anspruch auf Wahrheit finde ihre Identität aus Abgrenzung. Für Bedford-Strohm ist, wie es einem hohen Kirchenfunktionär in der Regel zukommt, die Lösung ein mittleres Modell einer öffentlichen Kirche als Teil einer pluralistischen Zivilgesellschaft, bei der sich biblisch gegründete Identität mit Weltzugewandtheit verbindet. Der Bayerische Landesbischof warb dafür, von der Amtslogik zu einer Flexibilitätslogik überzugehen, u. a. die Digitalisierung ernst zu nehmen und die Lebensnähe der theologischen Ausbildung zu stärken.
Ulrich Körtner, Systematiker aus Wien, entwickelte eine an den derzeitigen Arbeiten der GEKE (Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa) ausgerichtete Theologie der Diaspora. Ein empirisch-deskriptiver Begriff von Diaspora, der an bestimmten Mitgliederzahlen im Verhältnis zur umgebenden Bevölkerung orientiert ist, kann die Sicht auf eine theologische Sicht der Diaspora versperren, die dazu ermutigt, dass Kirche sich in die Diskurse der Umgebung einmischt. Körtner votierte für einen relationalen Diasporabegriff und damit für eine öffentliche Theologie, der die Kommunikation des Evangeliums zugrunde liegt. Die Kommunikation Gottes mit dem Menschen sei allerdings nicht auf die kirchlich verfasste Kommunikation begrenzt.
Aus England angereist, unternahm der in Durham lehrende praktische Theologe Pete Ward den Versuch, Kirche von den Rändern her neu zu erschließen. Am Beispiel des Benefizkonzerts One Love Manchester zeigte er Hintergründe und Ausdrucksformen neuer (populärer) Religiosität auf. Der katholische Bochumer Pastoraltheologe Matthias Sellmann verstand Religionsfreiheit als einen diagnostischen Marker und als ein zentrales Prinzip, das das Potenzial hat, neue religiöse Erfahrung zu erschließen. Religiöse Sanktionen, Appelle und Indienstnahmen fruchteten nichts mehr. Es sei nun eine Zeit, in der die Kirche das Potenzial der Freiheit ermöglichen könne. Christen sollten – nicht nur trotz, sondern gerade wegen – der Vielfalt von „Deutungssprachen“ ihre Stimme erheben und sich einbringen im Dienst an Humanität, Demokratie und Säkularität, und zwar gerade mit dem, was sie als Weisheit des Christlichen verstanden haben. Sellmann fordert in diesem Zusammenhang eine Organisation von Kirche, die die frei gewählte Dosis von Interaktion der Einzelnen sichert.
Aus dem Niederlanden angereist, stellte Stefan Paas die Erfahrungen von Leitung als leadership im Sinne eines Teamworks zur Ermöglichung von Visions- und Gründungsprozessen der Niederländischen Protestantischen Kirche vor. Steffen Fleßa, Betriebswirtschaftler an der Uni Greifswald, und Günter Faltin, seines Zeichens Unternehmer, befassten sich in ihren Beiträgen mit Change-Management und unternehmerischem Handeln (Entrepreneurship) in der Kirche. Den Abendvortrag über die Vision einer zukünftigen Kirche hielt der anglikanische Bischof von Kensington, Graham Tomlin. Die Tagung endete mit Perspektiven auf Leitungsverantwortung in Uppsala (Antje Jakelén) und auf geistliche Herausforderungen kirchlicher Reformation (Hans-Jürgen Abromeit).
Trotz aller Vielfalt der Zugänge und der Rollen der Vortragenden (Theologen, Praktiker, Kirchenleitende) fällt doch auf, dass sich einerseits die Themen und auch die gemachten Optionen bei unterschiedlichen Akteuren als Veranstalter ähnlicher Tagungen immer wieder ähneln. Zum anderen bleibt der Eindruck zurück, dass die Theoriediskussion pastoraler und kirchlicher Transformationsprozesse noch stärker davon durchdrungen sein sollte, wie die Mentalitäten und die Handlungsweisen der pastoralen und kirchlichen Praxis davon in innovativer Weise tatsächlich geprägt werden können.