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Praxis der Sinus-Milieus®

Gegenwart und Zukunft eines modernen Gesellschafts- und Zielgruppenmodells

In kirchlichen Kreisen ist es ruhig geworden um die Sinus-Milieus. Gab es vor gut zehn Jahren mit dem Erscheinen der ersten „Sinus-Kirchen­studie“ heftige Diskussionen um die Berechtigung und Sinnhaftigkeit des Milieuansatzes im kirchlichen Kontext, so ruft die milieusensible Pastoral heute meist weder besondere Begeisterung noch Abwehr her­vor, zumindest im katholischen Bereich. Das Informationsbedürfnis hinsichtlich der sozialen Milieus scheint bei vielen kirchlichen Mitar­beiterinnen und Mitarbeitern gestillt – bei gleichzeitiger Ratlosigkeit darüber, wie denn die Erkenntnisse der Milieuforschung praktisch umzusetzen seien.

Gegenläufig zu dieser Situation erscheint nun ein „Grundlagenwerk, d. h. eine autoritative Darstellung des Milieuansatzes von SINUS und dessen Anwendungsmöglichkeiten“ (V), das es nach Aussagen der Her­ausgeber, der vier Gesellschafter der Milieuinstitute Sinus (Heidelberg) und Integral (Wien), bislang noch nicht gab. Ziel des Buches ist es, die Gültigkeit des Milieuansatzes von Sinus auch in Zeiten fortschreitenden gesellschaftlichen Wandels zu begründen, seine Aktualität angesichts von Digitalisierung und Globalisierung zu untermauern und seinen Nutzwert für Wissenschaft und Wirtschaft zu demonstrieren.

Offensichtlich sehen sich also die beiden führenden Milieuinstitute in der Begründungspflicht, die Validität ihres Zielgruppenmodells vierzig Jahre nach seiner „Erfindung“ zu verteidigen. Wenn man so will, kann man darin auch eine Antwort auf das abflauende Interesse am Milieuan­satz (nicht nur von Sinus, sondern auch von anderen Anbietern) sehen – wobei der kirchliche Kontext aus der Perspektive der Milieuinstitute aber nur ein Anwendungsbereich unter vielen anderen mehr ist. Somit ist auch deutlich, dass es sich bei diesem Buch um eine Publikation pro domo handelt, was auch an der Autorenschaft erkennbar wird: Die Bei­träge stammen von Gesellschaftern, Mitarbeitenden, wissenschaft­lichen Beiräten sowie Kunden und Partnern des Sinus-Instituts. Die Texte der wissenschaftlichen Beiräte unterscheiden sich von den anderen Texten, da sie, bei grundsätzlicher Affinität zum Ansatz von Sinus, eine tendenziell stärkere Distanz zu ihm erkennen lassen.

Wer ein wenig zur Milieuforschung informiert ist, wird in dem Buch nicht sonderlich viel Neues erfahren. Dennoch bietet es einen aktuellen und konzisen Überblick über Forschungsprojekte von Sinus, über so genannte line extensions, d. h. „Erweiterungen des klassischen Milieu­modells für spezielle Bevölkerungsgruppen und spezielle Anwendun­gen“ (VI), darunter die jugendlichen Lebenswelten in Deutschland und Österreich, die Migrantenmilieus, die Übertragung der Milieus in den geographischen Raum mithilfe der Sinus-Geo-Milieus der Firma microm (Neuss), die Digitalen Sinus-Milieus sowie die für bestimmte Zwecke maßgeschneiderte Segmentierung durch die Kombination der Sinus-Milieus mit marktspezifischen Typologien (am Beispiel der „Digitalen Lebenswelten“ im Auftrag des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet [DIVSI] oder von Rentnertypen der Zukunft). Außerdem werden folgende Anwendungsbereiche des Milieuansatzes vorgestellt: Mobilitätsforschung, Bildungsforschung, Nachwuchs- und Personalmarketing, Media- und Kommunikations­planung, Pastoral sowie der Mehrwert einer lebensweltlichen Kunden­segmentierung gegenüber ausschließlich verhaltens- (z. B. Big Data‑)​basierten Ansätzen. Dabei werden auch Grenzen des Milieuansatzes nicht verschwiegen.

Die ersten drei Beiträge verstehen sich als Grundlegung und wollen die Relevanz der Sinus-Milieus, auch im weltweiten Kontext (vgl. die inter­national vergleichbaren Sinus-Meta-Milieus, die für Industrieländer [established markets] und für Schwellenländer [emerging markets] vor­liegen), verdeutlichen. Die Grundannahme dabei lautet: „Alle manifes­ten Verhaltensweisen, etwa Kauf- und Konsumentscheidungen, können Ausdruck von Grundüberzeugungen sein und dazu dienen, Zugehörig­keit (zum eigenen Milieu) oder Abgrenzung (zu fremden Milieus) zu signalisieren“ (30). Dabei wird deutlich, dass die diskriminatorische Kraft der Milieus oft größer ist als die soziodemografische Betrachtung – „Unterschiede nach Milieus sind oft weit klarer als jene zwischen sozio­demografisch definierten Subgruppen“ (ebd.). Beispielsweise lässt sich zeigen, dass das Milieu der Bürgerlichen Mitte den Erfolg rechtspopulis­tischer Parteien in Deutschland, Österreich oder der Schweiz erklären kann, insofern die Bürgerliche Mitte ihre „kulturelle Vorbildfunktion an die globalisierungsbeflissenen und neoliberal argumentierenden Eliten abgegeben hat“ (33), zunehmend Unsicherheit und Bedrohung ihres Wohlstands wahrnimmt und diese auf das Versagen des politischen Systems und den „Verrat der Mitte“ zurückführt. Wohl ist klar: „Unmit­telbare Verkaufsförderung ist nicht der beste Einsatzbereich der Sinus-Milieus“ (34). Es lassen sich aber komplexere soziale Situationen mit ihnen verstehen und daraus Handlungsanleitungen ableiten.

Im letzten Beitrag des Bandes schreibt der Religionssoziologe Michael N. Ebertz, auch Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Sinus, über „Sinus-Milieus®, Kirchenmarketing und Pastoral“. Er verweist auf die „subterranean theologies“ (David Martin), die untergründigen Theolo­gien, die sich sehr gut aus dem Material der Kirchenstudien des Sinus-Instituts rekonstruieren lassen und die zeigen, wie Religiosität milieu­spezifisch unterschiedlich gefiltert und generiert wird. Solche Einsich­ten vermögen, so Ebertz, „die versteinerten Sozial- und Denkverhält­nisse in den institutionalisierten Religionen wenn nicht zum Tanzen, dann jedenfalls in Bewegung zu bringen“ (211).

Ebertz empfiehlt: „Für die Kirche dürfte es sich also lohnen, ihre kom­munikative Praxis […] unter Milieugesichtspunkten zu reflektieren und differenziert weg von milieuverengten Vergemeinschaftungserfahrun­gen in Richtung Dienstleistung zu verlagern“ (221). Er ist aber skeptisch, ob dies gelingt: „Die meisten Bistümer und Landeskirchen in Deutsch­land verfügen zwar dank der SINUS-Forschung über das strategie- und marketingrelevante Milieu-Wissen, zudem auch noch über georeferen­zielle Milieu-Daten des microm-Instituts, aber das kirchliche Betriebs­system hat noch keinen internen Konsens gefunden, die Chancen, die in einer adressatendifferenzierten ‚milieuorientierten Pastoral‘ liegen, für ein Kirchenwachstum zu nutzen. Ist das kirchliche Betriebssystem in Deutschland, aber auch in der Schweiz und in Österreich marketing‑, gar marktresistent?“ (223).

Damit sind wir wieder bei den anfangs genannten Umsetzungsschwie­rigkeiten angelangt. Sie liegen wohl vor allem darin begründet, dass der Umgang mit (Milieu‑)​Vielfalt in vielerlei Hinsicht anstrengend ist und zusätzlich das Ziel, sich durch die Rekonstruktion der impliziten Milieu-Theologien anfragen, herausfordern und bereichern zu lassen, sehr ambitioniert ist – zu ambitioniert für viele, die derzeit viel mehr mit kircheninternen Fragen beschäftigt sind. Das besprochene Buch könnte zumindest ein Anstoß sein, das bei Weitem noch nicht gehobene Potenzial, das für die Pastoral in der Milieuforschung steckt, nicht zu vergessen.

Tobias Kläden