Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie
Im psychologischen und psychotherapeutischen Kontext hatten die Themen Religiosität und Spiritualität üblicherweise einen schweren Stand: Die aufklärerisch-agnostische Tradition in Psychologie und Medizin ist gegenüber Fragen der Religiosität lange Zeit skeptisch bis ablehnend gewesen. Auch heute ist die Frage danach, welche Rolle diese Thematik in der Psychotherapie spielen soll und ob z. B. spirituelle Interventionen in die Psychotherapie einbezogen werden können, alles andere als unumstritten. Der Forschungs- und Diskussionsstand im deutschsprachigen Bereich hinkt dabei der internationalen Entwicklung hinterher; etwa in den USA haben spirituelle Aspekte im psychotherapeutischen Setting einen viel höheren Stellenwert als in Europa, was angesichts der dort gänzlich anderen Religionskultur auch nicht verwundert.
Das Thema kommt aber mittlerweile auch im hiesigen Kontext auf die Tagesordnung und ist Gegenstand der professionellen Auseinandersetzung, so dass man vielleicht von einem sich abzeichnenden „spiritual turn“ in Psychotherapie und Psychiatrie sprechen kann. Jedenfalls ist angesichts der anwachsenden kulturellen Vielfalt in Deutschland festzustellen, dass die unterschiedlichen Wertvorstellungen, Weltdeutungen und religiösen Überzeugungen auch in Psychiatrie und Psychotherapie an Bedeutung zunehmen. Offensichtlich besteht noch Nachholbedarf hinsichtlich der Kultur- und Religionssensibilität im therapeutischen Zusammenhang.
Einen Beitrag zur Deckung dieses Nachholbedarfs liefert das hier vorgestellte Fallbuch, das von den Mitgliedern des Referats „Religiosität und Spiritualität“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), dem größten wissenschaftlichen Fachverband für Fragen der psychischen Erkrankungen in Deutschland, erarbeitet wurde. Die Referate der DGPPN sind „task forces“, in denen Spezialistinnen und Spezialisten eines Gebiets, die in unterschiedlichen institutionellen Zusammenhängen arbeiten, den wissenschaftlichen Forschungsstand bearbeiten. Die Mitglieder des Referats „Religiosität und Spiritualität“ haben bereits 2017 ein Positionspapier „Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie“ in der Zeitschrift Spiritual Care veröffentlicht, auf die in dem Fallbuch immer wieder Bezug genommen wird.
Eine zentrale Empfehlung dieses Papiers lautet, „dass sich alle beraterisch und therapeutisch Tätigen bewusst eine bessere interkulturelle und religionssensible Kompetenz aneignen. Sie sollten in der Lage sein, gegenüber Patientinnen und Patienten aus anderen Kulturen und weltanschaulichen Prägungen die Perspektive wechseln zu können“ (155). Das bedeutet konkret, dass in der Anamnese die Spiritualität und Religiosität der Betroffenen exploriert werden sollte, auch wenn die Behandelnden selbst nicht religiös sind, um herauszufinden, ob Religion und Spiritualität einen Belastungsfaktor oder eine Ressource darstellen. Dahinter steht die zentrale Erkenntnis: „Religion und Spiritualität können Teil des Problems oder Teil der Lösung sein“ (21).
Es dürfen aber auch keine Grenzverletzungen aus religiösen Motiven vorkommen; religiöse Interventionen wären z. B. eine Überschreitung der professionellen therapeutischen Kompetenz, allenfalls ist eine Vermittlung an die jeweiligen religiösen Professionellen oder die jeweilige religiöse Gruppe möglich. Der Glaube des anderen (auch der des Therapeuten) darf nicht diffamiert werden. Weiterhin ist eine wichtige Voraussetzung für eine erhöhte Religionssensibilität und Sprachfähigkeit, dass die therapeutisch Tätigen ihre eigene religiöse oder areligiöse Biographie aufgearbeitet haben. In den therapeutischen Weiterbildungsinstituten müssen schließlich religionskundliche Grundkenntnisse vermittelt und religions- und spiritualitätssensible Fallbesprechungen durchgeführt werden.
Das Fallbuch konkretisiert und illustriert die Empfehlungen des Positionspapiers, es arbeitet nicht systematisch, sondern exemplarisch. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit wurden zwanzig Fälle ausgewählt, die in kurzen Fallvignetten vorgestellt und dann von einer anderen Kollegin/einem anderen Kollegen kommentiert werden. Die insgesamt vierzehn Autorinnen und Autoren stammen selbst aus unterschiedlichen Konfessionen und Therapieschulen. So wird eine große Bandbreite an religiösen Aspekten aus unterschiedlichen religiösen Gruppierungen deutlich, die in verschiedensten Krankheitsbildern und Lebenssituationen relevant werden. Es geht u. a. um Themen, die in der traditionell abendländischen Kultur ungewohnt sind (z. B. der Glaube an Dschinnen, rituelle Reinigungen, magische Praktiken und andere religiöse Rituale), sowie um Schuld und Schuldgefühl, Vergebung und Verzeihung, um Glaubenszweifel, um das Auseinanderfallen eines einheitlichen Ich-Erlebens, um Probleme hochreligiöser Patienten, aber auch um unerfüllte spirituelle Sehnsüchte nicht religiös sozialisierter Patienten, um den Missbrauch von Religion oder die protektive Wirkung der spirituellen Dimension.
Eine Einleitung stellt den aktuellen Diskussionstand zum Thema „Spiritualität in der psychotherapeutischen Praxis“ dar, ein Schlusskapitel fasst die Erträge zusammen und zieht Konsequenzen für die therapeutische Praxis und Weiterbildung. Das Buch ist durch die zahlreichen Fallbeispiele abwechslungsreich und anschaulich zu lesen; Kenntnisse aus dem psychologischen/psychotherapeutischen Bereich können hilfreich sein, sind aber keine Voraussetzung, um Gewinn aus der Lektüre des Fallbuchs zu ziehen.
Das Buch leistet auch einen Beitrag zur Förderung der Dialogfähigkeit zwischen säkularen und religiösen Lebensdeutungen. Dies stellt eine zentrale Herausforderung für eine plurale Gesellschaft dar – auch angesichts der Tatsache, dass „die lebensweltlich bedeutsamste Konfliktlinie unserer Zeit nicht mehr zwischen religiös Gläubigen und Ungläubigen verläuft“, sondern zwischen Menschen, die „offen für fremde Lebensdeutungen sind, und denen, die totalitär strukturiert sind“ (24).
Tobias Kläden