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Seelsorgerinnen und Seelsorger in einer beschleunigten Gesellschaft

Auf dem Hintergrund von Hartmut Rosas Analyse der Beschleunigung als Grundmerkmal moderner Gesellschaften nimmt Martin Spaeth Erfahrungen von Beschleunigung in der Seelsorge in den Blick. Er macht dabei Religions­verlust als theologisch relevante Beschleunigungsursache aus. Angesichts des Zeitdrucks in den Seelsorgeberufen ist daran zu erinnern, dass die Bot­schaft von der zuvorkommenden Gnade Gottes vor jeder pastoralen Leis­tungsbilanz auch für die Seelsorgerinnen und Seelsorger selbst gilt.

Hartmut Rosa beschreibt die moderne Beschleunigung als einen Akzele­rationszirkel, in dem sich technische Beschleunigung, beschleunigter sozialer Wandel und ein beschleunigtes Lebenstempo gegenseitig an­treiben, so dass sich das Tempo der Beschleunigung immer mehr stei­gert (vgl. Rosa 2005, 161–310). Ebenfalls eine Art Akzelerationszirkel findet man in nicht wenigen Pastoralteams: Seelsorgerinnen und Seel­sorger als Individuen, die sich durch ihre jeweilige Lebenshaltung und Arbeitsweise gegenseitig antreiben und dadurch das Tempo des Teams insgesamt zunehmend steigern. Es wird immer mehr und immer schneller gearbeitet in der Pastoral, der Zeitdruck nimmt zu und mit ihm die Belastung und Unzufriedenheit der einzelnen Teammitglieder.

Außenstehende mögen zunächst vermuten, dass dieser Druck vom Leiter des Teams – in der Regel der Pfarrer – ausgeht, indem dieser immer mehr Aufgaben auf immer weniger pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verteilt. Nach meinen vielfältigen Beobachtungen ist der Mechanismus subtiler.

In einem Pastoralteam arbeitet ein Pastoralreferent mittleren Alters, des­sen seelsorgerliche Berufstätigkeit sehr stark mit seinem Privatleben verflochten ist. Tochter und Sohn sind die tragenden Kräfte der Minis­trantengruppe und managen deren verschiedene Aktivitäten. Seine Frau leitet seit Jahren das Familiengottesdienst-Team und ist mit den anderen Frauen des Teams häufig unterwegs. Er selber empfindet sich nach fast zwanzig Jahren Tätigkeit vor Ort als (ein) Zentrum der Seelsor­geeinheit. Tatsächlich – ohne ihn mit seinen zahlreichen Beziehungen und Verbindungen „geht fast nichts“. Bei ihm zu Hause rufen weitaus mehr Menschen „dienstlich“ als „privat“ an, und wenn einer der zahl­reichen Anrufe nicht ihm gilt, ist es jemand aus der Ministrantengruppe oder dem Familiengottesdienst-Team, der Frau, Tochter oder Sohn spre­chen will. – Er selber empfindet den Mangel an Rückzugsmöglichkeit und die konstante Präsenz in der pastoralen Öffentlichkeit als äußerst anstrengend und fühlt sich permanent „im Stress“, kann sich anderer­seits aber nicht vorstellen, durch eine stärkere Trennung von Berufs- und Privatleben und eine Reduktion seiner Aufgaben die eigentlich erwünschten Ruhezonen in sein Leben zu bringen, und befürchtet, dadurch an Bedeutung und Wichtigkeit zu verlieren.

Der Pfarrer als Leiter desselben Pastoralteams und der Seelsorgeeinheit ist in verschiedenen Gremien tätig und Dienstvorgesetzter u. a. der zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der sozialen kirchlichen Einrichtungen. Aufgrund seiner Arbeitsbelastung, über die er häufig klagt, nimmt er jedes Jahr lediglich zwei Wochen Urlaub während der Sommerferien. Auch in dieser Zeit lässt ihn die Seelsorge nicht los – er sucht hier nach passenden Fotomotiven für Bilder, die er im Senioren­kreis der Gemeinde präsentieren kann. Mit dem Pastoralreferenten wetteifert er insgeheim darum, wer größeren Einsatz für die Gemeinde­arbeit zeigt, will er doch hinter diesem nicht zurückstehen.

In dieser Gemengelage ist es für die deutlich jüngere Gemeindereferentin schwierig, ihren Anspruch auf ein Privatleben durchzuhalten. Sie erfüllt ihre Aufgaben weitgehend in ihrem Büro im Pfarrhaus, wo sie auch er­reichbar ist, nicht in ihrer Privatwohnung. Ihre Freizeit verbringt sie größtenteils im Freundeskreis, der nur teilweise in Verbindung zur Kirchengemeinde steht, und sie trainiert eine Kindergruppe im Hand­ballverein, so dass sie auch an Sonntagen nicht immer in ihrer Kirchen­gemeinde präsent ist. Genau das wird ihr von nicht wenigen Gemeinde­mitgliedern ausgesprochen oder unausgesprochen zum Vorwurf ge­macht, häufig mit Hinweis auf die ständige Präsenz des Pastoralrefe­renten und die große Verantwortung und Arbeitsbelastung des Pfarrers, die durch die „Zurückhaltung“ der Gemeindereferentin noch verstärkt werde. Es fällt ihr schwer, sich gegen diesen Druck auf Dauer zu behaupten.

Die beschriebene Situation, die sich so und ähnlich an vielen kirchlichen Orten findet, wirkt als Akzelerationszirkel: Die beteiligten Individuen treiben sich durch das, was sie tun, gegenseitig an, so dass die Beschleu­nigung ihres Arbeitstempos ständig zunimmt. Alle Beteiligten leiden unter dieser Situation, unternehmen jedoch aus Gründen, die noch zur Sprache kommen werden, nichts gegen diese.

Angesichts solcher Situationen erstaunt es, dass die groß angelegte deutsche Seelsorgestudie (vgl. Jacobs u. a. 2015) u. a. zu dem Ergebnis kommt, dass sowohl die Lebens- als auch die Arbeitszufriedenheit von Seelsorgenden jeweils etwas über der der Durchschnittsbevölkerung liegt, so dass eine erste Zusammenfassung dieser Studie den Titel trägt „Überraschend zufrieden bei knappen Ressourcen“ (ebd. 294). Offen­sichtlich kom­pensiert die hohe Identifikation mit den seelsorgerlichen Aufgaben den Leidensdruck, der durch Zeitprobleme entsteht, erheblich.

1. Erfahrung von Beschleunigung in der Seelsorge

Zeitdruck ist kein Spezifikum pastoraler Berufe, sondern weit verbreitet in der spätmodernen Leistungsgesellschaft. Über den eigentlichen „Stress“ hinaus leiden die Seelsorger/​-innen jedoch zusätzlich daran, dass bei dem, was sie tun, Seelsorge „zunehmend zum zentralen Auf­trag mit Seltenheitswert“ (Gärtner 2009, 62) wird. Das heißt, das, was ihre eigentliche Aufgabe ist und wozu sie sich ganz besonders berufen fühlen, kommt in der Fülle ihrer anderen Tätigkeiten zu kurz. In dieser Hinsicht scheint nicht der Zeitdruck ein Proprium pastoraler Berufe zu sein – diesen haben viele andere Berufe auch. Ein Proprium besteht vielmehr darin, dass die Seelsorgenden viele Dinge tun, die zwar nötig, aber nicht ihr „Kerngeschäft“ sind. Darüber vernachlässigen sie die Ver­kündigung des Evangeliums, sodass diese häufig nur eine marginale Rolle im Ganzen ihrer Arbeit einnimmt. Da sie die Verkündigung als ihre Berufung betrachten, handelt es sich bei dieser nicht nur um irgendeine wichtige Aufgabe innerhalb eines „betrieblichen Arbeits­feldes“, sondern vielmehr um eine „Lebensaufgabe“ mit existenziellem Stellenwert. Die Empfindung, diese zu verfehlen, übt einen hohen Leidensdruck aus.

Die Gründe für diesen Arbeitsdruck, der dazu führt, das „Eigentliche“ zu verfehlen, sind auf den ersten Blick exogener Natur, d. h. sie sind nicht in der Person des Seelsorgers, sondern in systemischen Bedingungen seines Arbeitsumfeldes begründet. Dazu zählen die Zunahme von Ver­waltungsaufgaben und Koordinationsleistungen aufgrund der zu „Seel­sorgeeinheiten“ oder „Pastoralen Räumen“ zusammengelegten Ge­meinden und die gleichzeitige Abnahme des Personals in der Seelsorge (durch Sparmaßnahmen oder Nachwuchsmangel oder beides). Nicht zu unterschätzen ist die Verteilung der Arbeitszeit auf die ganze Woche einschließlich der Abende und des Wochenendes, wodurch selbst z. B. bei einer 40‑Stunden-Woche die „gefühlte“ Arbeitszeit deutlich länger sein kann. Hier gehen quantitative und qualitative Aspekte der Arbeits­zeit ineinander. Schließlich sind steigende Erwartungen sowohl der Kirchenleitungen als auch der Gemeindemitglieder zu nennen. Die „Kirche provoziert in ihrem Binnenbereich damit zeitstrukturell genau das Gegenteil ihrer zeitkritischen Botschaft, nämlich zeiteffiziente Be­schleunigungspraktiken und eben keine entschleunigende Entlastung“ (Schüßler 2013, 207).

Insgesamt darf der fortschreitende Säkularisierungsprozess, so komplex er im Einzelnen ist, als Zeitdruck erzeugender Faktor in der Pastoral nicht unterschätzt werden. Säkularisierung wird in der Seelsorge häufig als quasi „unsichtbarer Feind“ betrachtet, gegen den angekämpft wer­den muss. Der Bedeutungsverlust der Religion im Allgemeinen und der kirchlichen Arbeit im Besonderen verleitet nicht wenige Seelsorger da­zu, ihre Anstrengungen zu erhöhen, um die immer wieder feststellbare Erfolglosigkeit ihres Tuns zu überwinden. Dabei übersehen sie, dass die verbreitete Abkehr der Menschen von der Kirche in der säkularer wer­denden Gesellschaft nicht in erster Linie mit der Unzufriedenheit an den Kirchen und dem, was sie tun, zusammenhängt, sondern darin begründet ist, dass Religion in der Rangliste dessen, was den Menschen wichtig ist, weit hinten nach Familie, Freunde, Freizeit, Beruf und Poli­tik platziert ist. Diese Problemanzeige macht deutlich, dass eine theolo­gische Auseinandersetzung mit der Säkularisierung, die sich nicht in Abwehrreaktionen oder pastoralen Kompensationsbemühungen er­schöpft, dringend geboten ist.

Zwar sind es exogene Faktoren, die Arbeits- und Zeitdruck hervorrufen. Dennoch wird diese Empfindung, zu wenig Zeit zu haben und mit den eigenen Aufgaben nicht zurande zu kommen, häufig als eigenes Unver­mögen durch das Seelsorgepersonal betrachtet. Die Zeitprobleme wer­den personalisiert. Die Interpretation der Zeitkonflikte als persönliches bzw. individuelles Versagen im Umgang mit der Zeit hat zur Folge, dass die pastoralen Mitarbeiter/​-innen ihr Engagement in der Seelsorge und damit ihren Zeitdruck weiter erhöhen.

Ein zweiter und genauerer Blick auf die pastoralen Zeitnöte im Zusam­menhang der Beschleunigungsproblematik insgesamt lässt die genann­te personalisierende Interpretation als Fehldeutung erscheinen. Die spätmoderne Beschleunigung und ihre Folgen – wie auch immer man sie bewerten mag – sind kein individuelles, sondern ein kulturelles und soziales Phänomen, dem sich niemand ohne weiteres entziehen kann. Ich beschränke mich im Folgenden auf einen theologisch relevanten Aspekt, nämlich auf den Zusammenhang von Religionsverlust in der modernen säkularen Gesellschaft einerseits und Beschleunigung ande­rerseits. Dabei ist allerdings nicht die eben erwähnte Erscheinung ge­meint, dass die allgemein zunehmende Entkirchlichung zu einer abneh­menden Wirksamkeit pastoralen Handelns führt, was wiederum die pastoral Tätigen zu einer Steigerung ihrer Anstrengungen veranlasst. Vielmehr geht es um die Annahme, dass der Verlust des christlichen Erlösungsglaubens den modernen Menschen zu einem Selbsterlösungs­streben führt, das ihn unter enormen Erfolgs- und Zeitdruck setzt.

2. Religionsverlust als theologisch relevante Beschleunigungsursache

Triebkräfte und Motoren der Beschleunigung in ihrer ganzen Komplexi­tät wurden von Hartmut Rosa umfassend untersucht und dargestellt. Technische Beschleunigung, beschleunigter sozialer Wandel und be­schleu­nigtes Lebenstempo im menschlichen Alltag bilden einen Akzele­rationszirkel, dessen Wechselwirkung die genannten Bereiche weiter antreibt. Ein zusätzlicher Antrieb erfolgt durch drei „externe Triebkräf­te“, nämlich erstens das ökonomische System des Kapitalismus, das Zeitgewinne in Profitsteigerungen umwandelt, zweitens die moderne Kultur, die aufgrund eines „schnelleren Lebens“ entsprechend mehr Lebensmöglichkeiten, Erlebnisse und Glückserfahrungen verheißt, so­wie die zunehmende soziale Differenzierung, die aufgrund einer sich steigernden gesellschaftlichen Komplexität und entsprechender Syn­chronisationsbedürfnisse zu einer Zunahme des Lebenstempos führt.

Die zweite der genannten „Triebkräfte“ der Beschleunigung, der „kul­turelle Motor“, betrifft genuin das Feld der Theologie. „Das eigentliche, verborgene, aber kulturell höchst wirksame ‚Heilsversprechen‘ der sozialen Beschleunigung, so lässt sich im Anschluss an die ‚kulturalisti­schen‘ Argumentationen von Hans Blumenberg, Marianne Gronemeyer und anderen vermuten, besteht darin, dass sie ein säkulares funktio­­nales Äquivalent für die Idee des ‚ewigen Lebens‘ zu bieten scheint und daher als die Antwort der Moderne auf das unvermeidliche große Kultur­problem der menschlichen Endlichkeit, den Tod, verstanden werden kann“ (Rosa 2005, 287; Hervorhebung im Original). Das zitierte funk­tionale Äquivalent für die Erwartung eines ewigen Lebens nach dem Tod, die durch die Säkularisierung nach und nach destruiert wurde, besteht in innerweltlichen Heils- und Glückserwartungen. Das Ver­schwinden des Glaubens an ein ewiges Leben nach dem Tod führt dazu, dass die Heilsverheißungen, die sich im Jenseits erfüllen sollten, nun ins Diesseits hereingezogen werden. Hinzu kommt, dass die Verant­wortlichkeit für das Gelingen des menschlichen Lebens von Gott, dessen Bedeutung im Prozess der Säkularisierung immer mehr geschmälert wird, auf die Menschen übergeht: Nicht mehr Gott ist der Akteur in Bezug auf das menschliche Heil, sondern der Mensch übernimmt diese Rolle und ist „seines eigenen Glückes Schmied“ geworden.

Der Verlust Gottes und der Religion gehört danach zu den wesentlichen Ursachen der neuzeitlichen Beschleunigung. Das Ende des Glaubens an ein Leben nach dem Tod konfrontiert den Menschen mit der zeitlichen Begrenztheit seines irdischen Lebens, in dem sich nun alles abspielen muss, was er vom Leben erwartet. Noch bedeutender in diesem Zusam­menhang jedoch ist der abhanden gekommene Erlösungsglaube: Nach­dem Heil und Erlösung nicht mehr von Gott erwartet werden, hat der Mensch selber an dieser Front zu kämpfen. Er muss sich durch Glücks­erleben eigene Befriedigung und Sinnstiftung verschaffen. Diese an­spruchsvollen Forderungen an sich selbst beschleunigen das Leben durch eine gesteigerte Aktivität und drohen ihn zu überfordern. Der Glaube an und die Hoffnung auf eine Erlösung durch Gott wird abgelöst durch ein Selbstkonzept des Menschen, der willens und in der Lage ist, sich selber von allem Unheil, mit dem ihn Welt und Leben konfrontie­ren, zu befreien.

Pastorale Profis sind von der beschriebenen Entwicklung nicht ausge­nommen. Auch als Theologinnen bzw. Theologen und „Gläubige von Berufs wegen“ sind sie nicht davor gefeit, ihre eigenen Anstrengungen in der Verkündigung des Evangeliums so sehr in den Vordergrund ihres Handelns, Fühlens und Denkens zu stellen, dass dabei ein zentraler Punkt des christlichen Glaubens in den Hintergrund tritt: das Wirken der Gnade Gottes. – Gerade der Verlust des Glaubens an die Gnade Got­tes ist, wie wir gesehen haben, ein wesentliches Motiv dafür, dass der moderne Mensch sich selbst erlösen muss. Verliert nun die Seelsorgerin oder der Seelsorger die Gnade Gottes aus dem Blick, gerät sie oder er in die Gefahr, das eigene pastorale Handeln zu verabsolutieren und darü­ber zu vergessen, dass dieses die Erlösung durch Gott zur Voraussetzung und zugleich zum Inhalt hat. Genau das kann Folgen für den Umgang mit der Zeit nach sich ziehen.

3. Zeit-Druck bei Seelsorgerinnen und Seelsorgern

Die Arbeits- und Zeitbelastung von in der Seelsorge Tätigen kann also auf ein Bestreben zurückgeführt werden, das aus diesen selbst kommt. Dieser innere Druck besteht im übersteigerten Bestreben des Seelsorgers und der Seelsorgerin, zu helfen und zu heilen, Gott und das Reich Gottes spürbar werden zu lassen und den Menschen das Evangelium zu ver­kündigen. Die Motivation ist dabei naturgemäß in erster Linie intrin­sisch, da es um die eigene Überzeugung und den eigenen religiösen Glau­ben geht, der weitergegeben werden soll. Das Evangelium will und soll das Leben der Menschen und damit die Welt verändern und letztlich erlösen. Allerdings stellt sich genau hier die Frage nach der Rolle und Aufgabe (ja, nach der „Sendung“) des Seelsorgers und der Seelsorgerin: Oft scheinen sie die alleinige Verantwortung dafür zu empfinden, dass das Evangelium bei den Menschen ankommt und Früchte trägt – genau diese Sendung ist ja der erfüllende Sinn ihres Lebens, auch wenn diese einen enormen Zeit- und Beschleunigungsdruck für ihr Leben bewirkt.

Einerseits also verkündigen die Seelsorgerin und der Seelsorger Gottes befreiende und erlösende Gnade, die dem Menschen geschenkt ist. Auf der anderen Seite arbeiten sie und er so, als hinge das Heil der ihnen an­vertrauten Menschen alleine von ihrem pastoralen Handeln ab. Darin tritt ein tragischer Widerspruch zutage: Die beschriebenen Verkündi­ger/​-innen des Gottesreiches scheinen dieses göttliche Geschenk für sich selber nicht annehmen zu können, da sie offensichtlich glauben, ihre Existenzberechtigung hänge von ihrem fast unbegrenzten seel­sorgerlichen Handeln ab. Und das, obwohl sie eine Botschaft verkün­digen von der Liebe Gottes und von der Verheißung, dass der Mensch in seiner ganzen Endlichkeit von Gott angenommen ist.

4. Begrenzung pastoralen Einsatzes durch Annahme der Gnade Gottes

Im Zuge eines Professionalisierungsanspruchs auch der pastoralen Be­rufe erscheinen nicht wenigen pastoral Tätigen verschiedene Formen des Zeitmanagements als Lösung ihrer Zeitprobleme. Durch Techniken der Planung, beispielsweise Prioritätensetzung nach Wichtigkeit und Dringlichkeit, Tages- und Wochenpläne, Eliminierung von „Zeitdieben“ u. Ä. soll die Zeit möglichst effizient genutzt werden. So hilfreich ein­zelne Zeitplanungstechniken dabei sein können, die Arbeitszeit sinnvoll zu planen, besteht dennoch die Gefahr, dass Zeitmanagement zum Selbstzweck und Planung verabsolutiert wird. Hinzu kommt das Pro­blem, dass sich Seelsorge nicht immer planen lässt und dass stets mit Unerwartetem zu rechnen ist. Das ist geradezu eines ihrer Wesensmerk­male, da sie sich im Kontext menschlicher Beziehungen abspielt.

Bei aller Unterschiedlichkeit ist solchen Strategien gemeinsam, dass sie die Zeitnöte nicht tatsächlich befriedigend lösen und dass sie zugleich neue Probleme hervorrufen. Die dauerhafte Akzeptanz der Vernachläs­sigung eigener essenzieller Bedürfnisse muss fast zwangsläufig zu einer Selbstschädigung des Seelsorgers oder der Seelsorgerin führen. Pastora­les Arbeiten nach allen Regeln des Zeitmanagements eliminiert das Un­geplante und Spontane, aber pastoral jeweils Angemessene und Gebo­tene.

Es wird deutlich, dass das Grundproblem pastoraler Zeitnot nicht auf der Ebene von Strategien zu lösen ist. Es muss m. E. auf der Ebene der persönlichen Haltung zu Arbeit und Leben insgesamt angesetzt werden. Ausgangspunkt ist dabei die meinen Überlegungen zugrunde liegende Annahme, dass der beschriebene innere Antrieb der pastoralen Mitar­beiter der Hauptmotor des Beschleunigungsdrucks ist. Das schließt nicht aus, dass es daneben bisweilen auch äußeren Druck seitens der Kirchenleitungen, Vorgesetzten und auch seitens der Ehrenamtlichen in den Kirchengemeinden und Seelsorgeeinheiten gibt.

Wenn in erster Linie „innerer“ Druck zu pastoralem Zeitdruck führt, können die Auswege daraus nur über einen Umgang mit diesem inneren Druck führen. Seelsorgende wollen möglichst alles tun, um das Evange­lium zu verkündigen und den Menschen das Heil Gottes nahezubringen (vgl. zum Folgenden Spaeth 2007, 271–279.313–316). Demgegenüber dürfen sie sich daran erinnern (lassen), dass Gnade immer „zuvorkom­mendes“ Geschenk Gottes ist, das erst als Geschenk vom Menschen an­genommen werden muss, bevor es von ihm der Welt durch sein eigenes Handeln anverwandelt werden kann. Das gilt auch für die Verkündi­gung des Evangeliums; es ist geschenkt, um verkündet zu werden. Ob das Evangelium Frucht trägt bei den Menschen, hängt nicht allein ab von der menschlichen Verkündigungsanstrengung, sondern es findet auch eigene Wege. Das bedeutet allerdings keine Aufforderung zur menschlichen Untätigkeit. Der Seelsorger, der die göttliche Gnade an­nehmen kann, darf sich von Gott bedingungslos, d. h. auch ohne „pastorale Leistungsbilanz“, angenommen wissen. Es gilt, sich das immer wieder bewusst zu machen. Das kann zugleich den Druck nehmen, alle Zeit perfektionistisch für pastorales Tun zu optimieren und durch überzogene Planung möglicherweise einen „Kairos“ Gottes „auszulassen“. Diese Haltung kann einfließen in eine Spiritualität der Zeit in der Überzeugung, dass er, der Seelsorger, als Mensch von Gott geschaffen ist, um an der Vollendung der Welt mitzuarbeiten, jedoch aufgrund seiner geschöpflichen Begrenztheit auch nur eine begrenzte Verantwortung an jener hat. So kann er zu einer gelassenen seelsorgerli­chen Haltung gelangen, nach der er einerseits seinen Teil bei der Ver­kündigung leistet, auf der anderen Seite diese nicht verabsolutiert, sondern darauf vertraut, dass Gott es ist, der sein Wort zu den Men­schen bringen will.

Gekürzte und durchgesehene Fassung des gleichnamigen Beitrags in: Kläden, Tobias/​Schüßler, Michael (Hg.), Zu schnell für Gott? Theologische Kontroversen zu Beschleunigung und Resonanz (Quaestiones disputatae 286), Freiburg/Br. 2017, 202–221.