Resonanz und Nachfolge
Ein Paradigma für ein alternatives Verständnis von „Glauben“? Ein Versuch
Nicht erst seit den Pfarreierneuerungsprogrammen von Rebuilt (White/Corcoran 2016) oder Divine Renovation (vgl. Mallon 2017, 33 ff.) wird „Jünger-Machen“ nach Mt 28,19 von manchen pastoralen Akteuren und kirchlichen Verantwortlichen als Hauptzielrichtung pastoraler Bemühungen gesehen. Doch was ist Nachfolge und Jüngerschaft? In den genannten Programmen wird Jüngerschaft an der Zunahme von traditionellen Vollzügen gemeindlicher Beteiligung gemessen: Ein echter Jünger/eine echte Jüngerin nimmt am sonntäglichen Gottesdienst teil und bringt sich möglichst breit in den Vollzügen der Ortsgemeinde ein. Charismatisch-evangelikale Vorstellungswelten und Formulierungen, die auch zunehmend im Bereich der katholischen Kirche zu finden sind, verbinden mit Jüngerschaft einen Zeitpunkt oder einen Prozess, in dem man „sein Leben Jesus übergeben hat“. Hier soll versucht werden, mit Hilfe des Rosa’schen Resonanzkonzeptes, angereichert mit Überlegungen aus den Paradigmen Neue Ökonomie und Soziale Innovation sowie einer „elementaren“ Glaubenstheologie, wie sie derzeit u. a. von Christoph Theobald (2018) im Anschluss an eine „Glauben zeugende Pastoral“ aus Frankreich formuliert wird, ein verändertes Verständnis von Nachfolge zu beschreiben. Immerhin greift Papst Franziskus das von ihm im Schlussdokument der lateinamerikanischen Bischofssynode von Aparecida 2007 maßgeblich mitgeprägte Theologumenon von den „missionarischen Jüngerinnen und Jüngern“ auf. Es gelte, möglichst viele Menschen zu „discípulos misioneros“ zu machen, und Franziskus verbindet es in Laudato si’ (2015) mit einem ökologisch-ökonomischen Kontext.
Rosa (2005) konstatiert eine zunehmende Beschleunigung in fast allen Bereichen menschlichen Lebens. Kurzzeitige „Entschleunigungsinseln“ wie „Auszeiten“ und „Unterbrechungen“ lösen nach Rosa das Problem nicht wirklich: Danach geht die Beschleunigungsmaschinerie unvermindert weiter. Die tiefer liegende Frage lautet: Wie können Menschen zu einem integralen „Zeitwohlstand“ kommen? Als Entwurf einer Antwort auf das Beschleunigungsproblem sieht Rosa sein Konzept von Resonanz. Es geht um die Frage, „unter welchen Bedingungen Menschen ihr Leben als gelingend oder misslingend erfahren“ (Rosa 2013, 34). Für die Erfahrung gelingenden Lebens sind bestimmte Austauschbeziehungen zwischen der subjektiven Welt, der Dingwelt und der Sozialwelt, also zwischen dem Ich, dem Es und dem Du/Ihr/Wir verantwortlich. Die Erfahrung von Resonanz – also etwas bewegen zu können – wirkt auf den Menschen zurück und bewegt ihn so selbst. Es entsteht je neu Interaktion, ein „Begehren nach Welt“ (ebd.). Für den Soziologen ist es entscheidend, Dinge und Menschen um ihrer selbst willen, nicht instrumentell, zu sehen und mit ihnen umzugehen. Diese Postwachstumsdynamik sei eine wahrnehmbare spätmoderne Reaktion auf das industriell-ökonomische Paradigma. Den Hintergrund bildet eine kollektive Verständigung über Glück und Lebensorientierung im 21. Jahrhundert. „Wie wollen wir Wohlstand verstehen in unserer Gesellschaft, in der die Menschen Zugang zu einer nie dagewesenen Fülle an Gütern genießen, aber immer weniger selbst bestimmbare Zeit zu haben scheinen?“ (Konzeptwerk 2014, 9).
Nachfolge und Jüngerschaft
Kann auf diesem Hintergrund Jüngerschaft (discipleship) in neuen Dimensionen gedacht werden? Welche Formen nimmt „Nachfolge Jesu“ an? Die Begrifflichkeit des Jüngerseins wurde in der Vergangenheit mehrheitlich in evangelikal-charismatischen Kreisen, insbesondere im Kontext neuer geistlicher Gemeinschaften gepflegt. Im römisch-katholischen Sprachgebrauch zeigt sie sich relativ neu und wird mit dem Erstarken charismatischer Spiritualität zunehmend salonfähig. Die neue Wertigkeit dieses Wordings innerhalb der katholischen Kirche fordert ein klassisches volkskirchliches Verständnis (wer getauft ist, ist sowieso Jünger Jesu) ebenso heraus, wie sie fragen lässt, wie sich christliche Berufung und Nachfolge auf dem Wege Jesu Christi in der Gegenwart jenseits traditionaler Vorstellungen von Steigerung des Gottesdienstbesuchs, Frequenz des Sakramentenempfangs und pfarrgemeindlicher Ehrenamtsaktivität gestalten lässt. Zumindest bieten biblische Kontexte einen gewissen Freiraum dafür, Nachfolge auch als Alternative zu traditionaler Kirchlichkeit zu verstehen und zu leben. Die Berufung und Antwort des Menschen, „hinter Jesus zu gehen“ (Mk 2,14 u. a.), mit Jesus im Kontext des persönlichen, sozialen und dinghaften Umgangs im Leben unterwegs zu sein, beinhaltet, dem Reich Gottes, das Gott selbst als Sphäre der Begegnung und der Gemeinschaft mit ihm und untereinander heraufführt, Raum zu geben und vorzustoßen zu einer „Freiheit der Kinder Gottes“ (vgl. Gal 5,13). Der „verlorene Sohn“, der hinausging und seine Erfahrungen machte, kommt als Veränderter wieder zurück ins Vaterhaus und wird dort barmherzig aufgenommen (Lk 15). Er wird sein Leben im Kontext des väterlichen Erbes anders leben. Die Sterndeuter (Mt 2) sind ebenfalls Prototypen der Nachfolge Jesu: Sie folgen der Verheißung, machen sich auf den Weg, sie suchen ihn, sie huldigen ihm, nachdem sie ihn gefunden haben. Von großer Freude erfüllt, kehren sie auf einem anderen Weg (als Veränderte) in ihr Land zurück. Der Kämmerer der Königin von Äthiopien in Apg 8,26–40 macht vermittels des ihn begleitenden Philippus eine Erfahrung der Gnade. Er, ein Suchender, sah auf einmal im jesajanischen leidenden Gottesknecht eine Verheißung von Zukunft und neuen Lebensmöglichkeiten für sich selbst. Er kehrte nicht nach Jerusalem, dem „Haftpunkt des Heils“ zurück, er schloss sich nicht dem Philippus und den anderen Jesus-Jüngern in Palästina an, er kehrte zurück, „er aber ging (seinen Weg) mit Freude“ (Apg 8,39). Man könnte ergänzen: mit Zufriedenheit, im Einklang mit sich und seinem Leben, in Resonanz …
Allen diesen vorgestellten Prototypen einer alternativen Gestalt von Nachfolge ist gemeinsam, dass sie eine Erfahrung des göttlichen Wirkens machen, die sie bewegt und verändert, jedoch nicht auf klassischen Wegen von Sammlung und Gemeinschaftsbildung verbleiben. Die Leerstellen des NT bieten die Möglichkeit, auf der Folie des postmodernen Resonanzparadigmas Nachfolge und Glauben alternativ zu beschreiben.
„Elementarer Lebensglauben“ – Impulse aus der französischen Pastoraltheologie
Der in Paris lehrende Fundamentaltheologe Christoph Theobald hat mit „Christentum als Stil. Für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis in Europa“ (2018) den Versuch einer für die Gegenwart adäquaten Typologie komplexer Glaubensfiguren unternommen. Sein Ausgangspunkt ist die soziologisch wahrnehmbare Veränderung der Kriteriologien für Religion und Glaube. „Der Glaubensbegriff lässt sich somit für den Soziologen nicht mehr durch bestimmte offiziell akkreditierte Inhalte und Praktiken identifizieren; er ist ein multipolares Beziehungsgeschehen geworden, das neue Praktiken entwickelt, alte wiederaufbereitet, vor allem sozial, kulturell und politisch ,gefärbt‘ ist“ (Theobald 2018, 81).
Die Einbeziehung des Stilbegriffs (Merleau-Ponty) erlaubt es Theobald, Glaube als „Lebensstil“ und als „Begegnungs- und Beziehungsgeschehen in der Welt“ (Theobald 2018, 58) zu deuten. So entwickelt Theobald eine Vorstellung eines elementaren Aktes eines Glaubens an das Leben, der in Verwundbarkeit und Offenheit dennoch Vertrauen wagt. Dies ist nach Theobald eine jedem Leben innewohnende Verheißung, die im Vertrauen angenommen wird, ein „Mut zum Sein“ (Paul Tillich). „Glaube ist somit ein ursprünglich anthropologisches, nicht unbedingt religiöses Phänomen: (1˚) Er taucht in unserer ‚Offenheit‘ und ‚Verwundbarkeit‘ auf; (2˚) er nimmt die Form des Fragens nach ‚Orientierung‘ in der Welt und nach dem ‚Sinn‘ unseres Lebens an und antizipiert das Ganze unserer Existenz, ohne darüber verfügen zu können; (3˚) ‚Glaube‘ zeigt sich dort, wo diese Unverfügbarkeit des ‚Sinnes‘ und des ‚Ganzen‘ nicht ideologisch übergangen, achselzuckend als uninteressiert abgetan (Kategorie der Indifferenz) oder aber auch einer agnostischen Unentschiedenheit überlassen wird“ (Theobald 2018, 83; Hervorhebung H. Sch.). Man könnte auch sagen: Jeder Mensch, egal, wo er/sie weltanschaulich oder religiös steht, vertraut sich in seiner Verwundbarkeit dem Rätsel und Geheimnis seiner Existenz in der Welt an, in der Hoffnung darauf, mit diesem Vertrauen nicht zum Verlierer zu werden.
In unserer Gegenwart in Europa greift die bloße Unterscheidung von christlicher und nicht-christlicher Existenz zu kurz. Der Andere ist nicht nur ein Nicht-Glaubender, sondern nach Theobald ein „Glaubender“ in einem grundsätzlichen Sinne. Jeder Mensch lebt dank eines fundamentalen Vertrauensvorschusses, er muss immer wieder einen zum Leben notwendigen Akt vollziehen, der jedoch nie endgültig vorliegt, sondern bei bestimmten Gelegenheiten und Ereignissen ganz neu aktiviert werden muss. Für Theobald sind es immer Andere, die diesen Akt in einem Menschen erzeugen, ohne allerdings diesen Lebensakt an deren Stelle setzen zu können.
Der Übergang von einem solchen elementaren „Lebensglauben“, dessen Träger Theobald als „Sympathisanten“ bezeichnet, zum Christusglauben der „Jünger“ wird dadurch markiert, dass das geheimnisvolle „Ganze“ nicht nur meiner, sondern aller Lebensgeschichten, nicht nur meiner Lebenswelt, sondern der gesamten Welt sich hier sozusagen von dem her füllt, was sich zwischen Jesus, seinen Jüngern und den vielgestaltigen Sympathisanten – zu allen Zeiten, auch heute – ereignet.
Die Offenbarungskonstitution des II. Vatikanums Dei verbum formuliert, dass Gott die Menschen wie Freunde anspricht und in seine Gemeinschaft einlädt (DV 2). Von dorther kennzeichnet Theobald Glaube als ein fundamentales Einladungs-, Beziehungs- und Begegnungsgeschehen. Daher ist heute weniger eine Vorstellung eines dogmatisch-inhaltsbezogenen Glaubens als vielmehr eines prozeduralen Glaubens anzunehmen, der sich in der Resonanz und im Gespräch mit den Stimmen dieser Welt (synchron und diachron) bildet und vollzieht. Der „elementare Lebensglauben“ erfordert es, für die Deutung und Gestaltung von Leben und Welt auf „jedermanns Interpretationskompetenz“ zurückzugreifen. Glaube ereignet sich so in einer basalen Figur als Aufnahme einer grundlegenden Kommunikation der Menschen als Jünger und Sympathisanten. Insofern nimmt Theobald das Konzept von Dei verbum als eines vielfach vernetzten Gesprächs (dialogus, conversatio, colloquium) und gemeinsamer Beratung (deliberatio) auf, das eine kritische Unterscheidung der „Zeichen der Zeit“ zum Ziel hat. „Das je heutige Hören der Stimme Gottes ist nur möglich im ,stereophonen‘ Hören aller auf eine Vielfalt mitmenschlicher und mit-christlicher Stimmen und deren Echo im ,Resonanzraum‘ des je eigenen Gewissens“ (Theobald 2018, 43).
Der stilistische Ansatz Theobalds, den er im Lehrschreiben von Papst Franziskus Laudato si’ gespiegelt findet, erlaubt es uns, ihn hier zur weiteren Interpretation des Rosa’schen Resonanzkonzepts heranzuziehen: „Die integrale Relationalität des Menschen, seine vitalen Beziehungen zu sich selbst, zum anderen, zu den anderen Geschöpfen (Lsi‘, 66), sowie seine Fähigkeit, aus sich ‚herauszugehen‘ (Lsi‘, 208) sind angesprochen, um seinen Blick und sein Hören vom Herzen her kommen zu lassen“ (Theobald 2018, 238).
Hinzu tritt noch der Gedanke der „Pastoralität“, wie ihn das Konzil in der Folge der Eröffnungsrede von Papst Johannes XXIII. gedacht hat. Das „pastorale Prinzip“ besagt, dass das, worum es in der Verkündigung der Botschaft geht, im „Adressaten“ bereits wirksam ist. In der Diktion Theobalds und seines stilistischen Denkens: Der Empfänger lässt sich auf den schöpferischen Vorgang der Formgebung seines Glaubens selbst ein.
Theobald selbst rückt seine Konzeption von elementarem Glauben und dem daraus erwachsenden Zukunftsdiskurs der Menschen, seien sie Jünger oder Sympathisanten, in den Horizont der ökologischen Herausforderungen als Zeichen der Zeit. „Christentum als Stil“ führt für ihn zur Gewährung einer heiligenden Gastfreundschaft und zu einer Einladung an die Menschheitsfamilie, zur Lösung der anstehenden Fragen und Probleme aktiv und bewusst beizutragen. Das betrifft dann den Dialog über Lebensstile, global verstandene Verteilungs- und Partizipationsgerechtigkeit, Umgang und Verbrauch von Ressourcen als Dimensionen des Glaubens an eine Zukunft des Lebens, die auch künftige Generationen als (stummen) Teil des Netzwerks der Menschheitsfamilie beinhaltet.
Mit diesen grundsätzlichen hermeneutischen Überlegungen wird nun zu sehen sein, ob das Resonanzdenken Hartmut Rosas Ansatzpunkte für ein alternatives Verstehen von „Glaube“ oder „Nachfolge“ bietet.
Resonanz als „Raum“ alternativer Figuren elementaren „Glaubens“
Zunächst einige Bemerkungen zur Kritik des Wachstumsparadigmas: Wachstum im Glauben als Jünger Jesu – und hier liegt möglicherweise der Berührungspunkt zum Rosa’schen Postwachstumsparadigma – könnte ja auch als alternativ zu einem klassischen numerischen und ökonomischen Wachstum (citius – altius – fortius) verstanden werden. Für dieses steht das calvinistisch-protestantische Arbeitsethos, das insbesondere durch den Puritanismus ausgeprägt wurde und das nach Max Weber entscheidend zur Industrialisierung und Modernisierung und zur Entwicklung des Kapitalismus beigetragen hat. Der daraus erwachsene ökonomische Wohlstand wurde und wird als Anzeichen göttlicher Berufung und Erwählung verstanden. Im so genannten Wohlstandsevangelium in pentekostalen Kirchen, v. a. Afrikas und Lateinamerikas, gilt innerweltlicher Besitz sowie Erfolg als Beweis für die Gnade Gottes. Es wäre eine zu überprüfende These, ob ein solches Verständnis der Erwählung, das mit dem industriell-ökonomischen Wachstums- und Steigerungs-, also mit dem Beschleunigungsparadigma verknüpft ist, möglicherweise auch mit einem numerischen Verständnis des Missionarischen, möglichst viele oder möglichst flächendeckend (!) zu evangelisieren, einhergeht. Der Gedanke des Gebens des Zehnten kann Beispiel dafür sein. Obwohl diese Idee in manchen kirchlichen Kreisen auch zur „religiösen Legitimierung“ für Kirchenfinanzierung missbraucht werden mag, kann eine spezielle Praxis des Gebens, Spendens und Stiftens (die auch unabhängig von kirchlichen Mitgliedschaften weit verbreitet ist) Ausdruck eines Bewusstseins dafür sein, dass das Einkommen und Vermögen nicht allein von mir erwirtschaftet wurde (Herkunft) und nicht allein von mir zu konsumieren ist (Nutzen, Destination), vielmehr mir „sozialpflichtig verliehen“ wurde und von mir zum Nutzen möglichst vieler verwaltet werden sollte. Es dient dann dazu, „Gott die Ehre zu geben“. In eine ähnliche Richtung geht die Begründung des Sabbats oder – im christlichen Kontext – des Sonntags als „Tag des Herrn“. Die biblische Begründung für den Sabbat bietet einerseits die Schöpfung (Ex 20), insofern durch die Schöpferruhe Gottes ihre Gutheit und Vollendung antizipiert wird, anderseits die Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens (Dtn 5). Beide Begründungen (Schöpfung und Freiheit) sind m. E. über den Rahmen eines explizit jüdisch-christlichen Interpretationsraums hinaus in ihrer Symbolkraft anschlussfähig. So könnte die „Idee des Sabbats“ – gerade nicht als Ruheinsel, um Kräfte für immer weitere Beschleunigungsprozesse zu sammeln – deutlich machen, dass auch die Zeit nicht mir gehört, sondern mir (von woher auch immer) verliehen ist, um in ihr etwas auszuprägen und zu gestalten und um sie im Vertrauen auf das Gesamt des endlich-zeitlichen Lebens anzunehmen. Jüdisch-christlich gewendet ist daran anschlussfähig, dass mit dem Sabbat/Sonntag als Symbol realisiert und gefeiert wird, dass alles IHM gehört, aus IHM seinen Ausgang nimmt und zu IHM zurückgeht. Daraus könnte eine Sonntags- oder „Sabbat“gestaltung erwachsen, die gerade jenseits von formalisierten vordergründigen Verwertungsinteressen kirchlicher (Sonntagsgebot zur „Beiwohnung“ der Messfeier) oder gewerkschaftlicher (Arbeitszeit und Tarife) Provenienz diese kritisch herausfordert.
An dieser Stelle kann nun das Resonanzparadigmas Rosas aufgenommen werden, um den weiteren Fortgang des Gedankengangs zu unterstützen. Für den Jenaer Soziologen besteht Resonanz (vgl. Rosa 2016) in Beziehungen der Gegenseitigkeit, in denen etwas zurückkommt und mich bewegt und verändert. Für Rosa geht es bei Religion, Kunst, Natur immer ums Ganze der Existenz. Die Beziehungen betreffen horizontal Menschen und vertikal Dinge. Rosa versteht den Autonomiegedanken in der Postmoderne nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter. Entfremdungserfahrungen hindern uns daran, ein gutes Leben zu erreichen. Resonanz ist demgegenüber eine Erfahrung der Relationalität, die nicht allein von der eigenen Gestaltungsmacht abhängt. Das Resonanzkonzept ist daher an vielen Stellen anschlussfähig für ein Verständnis von Glauben als Raum von Erfahrungen des Berührt- und Ergriffenseins, von Gegenseitigkeit, relationaler Wirksamkeit und eigener Resilienz. Dieses Konzept unterstützt eine Vorstellung, in der die Ansprache und Berufung, die Botschaft vermittelt durch Zeugen, als ein Begegnungs- und Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch (oder zwischen dem österlich präsenten Christus und dem Jünger/der Jüngerin) und zwischen Menschen mit ihren jeweiligen unverwechselbaren Interpretationskompetenzen verstanden wird. Ich fühle mich angesprochen, ein vorgängiger Ruf bringt bei mir etwas ins Schwingen. „Nachfolge“ als Antwort auf den Ruf setzt eine soziale Dynamik in Gang, die einen Raum der gegenseitigen Gastfreundschaft erschafft.
Postmoderne Formen von Vergesellschaftung, Alternativität und Neue Ökonomie
Auch andere Felder gegenwärtiger Formen menschlichen Lebens und Gestaltens sind offen für eine Interpretation eines „elementaren Glaubens“ im Sinne der Resonanz. Gerade in einer (in einer bestimmten Weise) individualisierten Gesellschaft entstehen derzeit offenbar Formen der Vergesellschaftung, die als post-traditionale Gemeinschaften versuchen, eine bessere Vereinbarkeit von Individualität und Gemeinschaftlichkeit zu realisieren. Iris Kunze (2009) hat beispielsweise die Öko-Dorf-Bewegung untersucht. Sie sieht eine solche „intentionale“ Gemeinschaftsform als alternativ-progressive Gegenvergemeinschaftung und als solche als ein Experimentierfelder für soziale Innovation. Als Szenario eines großen Übergangs zu einer nachhaltigen Weltgesellschaft versuchen die Akteure intentionaler Gemeinschaften, Freiheit und Autonomie, Selbstentfaltung und Authentizität und aktive Mitbestimmung, besser: Teilhabe zu leben. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch Bewegungen wie die vegan-vegetarische Bewegung, die bereits mit der Gründung des Vereins für natürliche Lebensweise 1867 in Nordhausen einen Weg in diese Richtung zeigte. Heute sind es beispielsweise die Slow-Food-Bewegung, die „Produktion“, Transport, Zubereitung und Aufnahme von Lebensmitteln in nachhaltiger und ökologischer Weise nebst analogen Essgewohnheiten vertritt, sowie die Tiny-House-Bewegung (oder Small House Movement), die angesichts einer immer höherem Pro-Kopf-Nutzung von Wohnraum, verbunden mit Gentrifizierung und Verteuerung der immer knapper werdenden „Ressource Wohnraum“, zu alternativen, kostenreduzierten und nachhaltigen Plan-, Bau- und Wohnkonzepten findet. Diese und ähnliche Bewegungen können als Teil einer nachhaltig und ökologisch orientierten Erneuerungsbewegung eines Lebens in Bescheidenheit mit dem Ziel von Ganzheit, Gesundheit und Zufriedenheit, ökologischem Gleichgewicht und sozialem Ausgleich gesehen werden.
Eine Variante dieser „neuen Alternativität“ zeigt sich in Ansätzen einer Neuen Ökonomie. Die share economy setzt auf intelligenten Verzicht. Teilen ist das neue Haben. Unterstützt durch neue Möglichkeiten der Informationsverarbeitung entwickeln sich derzeit – trotz der Gefahr der digitalen Monopolbildungen und damit neuen ökonomischen Interessen und Abhängigkeiten – diverse Sharing-Konzepte über Plattformen im Internet. Die Nutzung des Car-Sharing ist ein sich selbst verstärkendes Anzeichen dafür, dass Menschen in bestimmten sozialen Milieus, die aber auch in entsprechenden städtischen Wohnlagen leben, das „Statussymbol Auto“ hinter sich gelassen haben. Von Bla-Bla-Car über Couchsurfing oder anderem home-sharing bis hin zum food-sharing eines Valentin Thurn entstehen neue Werte wie intelligente und nicht-besitzen-wollende Mobilität und Spontaneität, neue Kontakte in sozialen Netzwerken und Nachhaltigkeit. Friederike Habermann kennzeichnet als ecommony einen Gegenentwurf zu einer herkömmlichen Wirtschaftsweise, in dem Menschen sich daran orientieren, was sie tatsächlich für ein gutes Leben brauchen, und dabei soziale Kommunikationsbezüge des Miteinander-Habens und -Teilens bevorzugen (vgl. Habermann 2014, 23).
Im Hintergrund stehen die auch in religiös-weltanschaulicher Perspektive zentralen Fragen: Was ist „Fülle“? Was ist ein „Gut“? Was bedeutet „Konzentration“? Wie kann ich mich einlassen auf das Wesentliche? Im Begriff des „Zeitwohlstands“ kulminiert diese alternative Terminologie und bringt damit auf den Punkt, um was es angesichts einer Gesamtperspektive auf das Leben und seiner Begrenztheit bzw. Bedrohtheit geht. So werden unter dem Label Work-Life-Balance neue Formen des Ineinanders von Leben und Arbeit erprobt, das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Sozialzeit neu miteinander in Beziehung gesetzt: Sabbatzeiten, Lebenszeitkonzepte wie Altersteilzeit oder bewusster vorzeitiger Eintritt in den „Ruhestand“ unter Inkaufnahme der Einbuße bestimmter Rentenwerte. Zeit wird zunehmend zur Ressource, die als Zeit für mich und als gefüllte Zeit mit anderen und für andere bedeutsam wird. In allen diesen Beispielen wird deutlich, dass sich in einigen Segmenten postmoderner Gesellschaften eine Verschiebung von Plausibilitätslogiken andeutet, die sich von einem Belohnungseffekt (Kapitalismus) hin zu einer inneren Motivation zu einem gemeinsamen Tätigsein unter Gleichrangigen ohne Geldbeziehungen entwickelt (common-based peer production). Menschen werden vermehrt mit oder ohne eine (non-pekuniäre) Tauschlogik füreinander aktiv (z. B. in einem Nachbarschaftsnetzwerk).
Soziale Innovation
In einem letzten Schritt sollen nun die alternativen Denk- und Handlungsformen, die wir nicht nur im Kontext „resonanter Weltbeziehungen“ (Rosa), sondern sogar eines „elementaren Glaubens“ (Theobald) gedeutet haben, durch ein in jüngster Zeit gewachsenes Verständnis Sozialer Innovation erschlossen werden. Jürgen Howaldt und andere verstehen „Soziale Innovation“ in Weiterführung und Kritik von technischen und ökonomischen Innovationen als ein postindustrielles Innovationsparadigma (vgl. Howaldt/Jacobsen 2010). „Ein angemessenes Verständnis von Innovation lässt sich […] nur dann erarbeiten, wenn einerseits relevante Erwartungsstrukturen und andererseits kommunikativ strukturierte Beobachtungsprozesse unterschieden werden, an denen individuelle und kollektive Akteure beteiligt sind“ (Aderhold 2010, 117). An dieses sozialwissenschaftliche Verständnis von Innovation knüpft die theologische Vorstellung Theobalds an, dass die „Jünger“ an dem gemeinsamen Kommunikationsprozess (colloquium, dialogus) teilnehmen, dafür einen Raum der Gastfreundschaft eröffnen, in dem sie die „Interpretationskompetenz jedermanns“ wertschätzen und zur prozessualen „Bearbeitung“ des Begegnungs- und Beziehungsgeschehens in der Welt erbitten und lernend annehmen und so „weiterverarbeiten“. Dies ist eine Chance, einerseits zu den sozialen Innovationsprozessen für eine nachhaltige Veränderung von Gesellschaft beizutragen und sich einzubringen, andererseits auch, für das eigene Verständnis von „Nachfolge“ und explizitem „Christusglauben“ zu lernen.
„Unabhängig von ihrem Zuschnitt können Innovationen als Antriebskräfte für sozialen Wandel angesehen werden. Sie lockern fest gefügte Erwartungshaltungen auf oder bauen diese gar um; auch und gerade gegen den Widerstand von Gewohnheit, Unsicherheit und etablierten Interessen“ (Aderhold 2010, 121). „Soziale Innovationen, die vor allem an den Grundmustern von Sozialität ansetzen, also unter anderem an Handlungen, Kommunikationen, Interaktionen, Institutionen, Erwartungen, Systemiken und Funktionalitäten, können neue Wege aufzeigen, neue Richtungen bisheriger Problemlösungsverfahren ermöglichen“ (ebd.). Dann wird es möglich sein, „die im Innovationsbezug überfälligen Sinn-, Werte- Relevanz-, Funktions- und Wirkungsfragen zu stellen“ (ebd. 123).
„Resonanz“ wird so zum kommunikativen Prozess, zur sozialen Innovation, sodass man sich aufeinander bezieht. Soziale Innovation hinterfragt und problematisiert die Wachstums- und Wettbewerbs- bzw. Konkurrenzdynamiken des herkömmlichen industriellen Paradigmas. Sie besteht u. a. in der Erzeugung von Alternativbewusstsein, das zu anderen Stilen führt, „die Welt zu bewohnen“. Christen als „Jünger“ können vom „Glauben jedermanns“, der sich u. a. in alternativen Lebensstilen zeigt, für ihren eigenen Glauben profitieren. Der Kern christlich-missionarischer Glaubensexistenz ist es, in gestalteten Räumen der Gastfreundschaft (philoxenia = das Fremde lieben), die „den Gastgeber in einen ‚Gast‘ des Gastes verwandelt“ (Theobald 2018, 88), sich in die Sprachspiele des Anderen zu initiieren und darin Vielfalt und Multipolarität der verschiedenen Aspekte des unerschöpflichen Reichtums des Evangeliums besser zu zeigen und zu entwickeln, die innere Pluralität der christlichen Tradition und die neue Kompetenz im „elementaren Glaubensakt“ zu entdecken: die des Ausdrucks oder der Interpretation. Sie ist „zu respektieren und in vielen Fällen zu provozieren“ (ebd.).
Schluss: Resonanz und „Glauben“
Wir haben uns unsererseits in diesem Gedankengang auf einen ganz eigenen Dialog eingelassen zwischen den vielfältigen Figuren „elementaren Glaubensverständnisses“ (Theobald) und Formen eines Begegnungs- und Beziehungsgeschehens in der Welt, wie sie in Stilen Neuer Ökonomie, alternativen Lebenskonzepten und Sozialer Innovation theoretisch und praktisch zum Tragen kommen. Dies alles ist umfasst von dem Resonanzparadigma (Rosa), das theologisch und pastoral anschlussfähig scheint.
Offenbar haben alle Menschen eine Vorstellung und eine Vision von einem „Leben in Fülle“ (Joh 10,10). Dazu entstehen in postmodernen Gesellschaften derzeit alternative Leitbilder und Zielvorstellungen. Wenn Resonanz theologisch und pastoral relevant werden soll, so finden sich bereits trinitarisch in Gott selbst resonante Beziehungen. Sie übersteigen sich in der Offenbarung und Sendung des ewigen Logos (Inkarnation) als Begehren nach Welt auf die Schöpfung hin: Gott spricht die Menschen an wie Freunde und lädt sie in seine Gemeinschaft ein (DV 2). Der in seiner zeichenhaften vorösterlichen Existenz, dem österlichen „Ereignis“ und als nachösterlich Präsenter „sprechende“ Logos setzt Menschen frei, in einem Begegnungs- und Beziehungsgeschehen mit ihm und Anderen die kontext-, kultur- und zeitabhängigen Aspekte des Gottesreiches und des Evangeliums immer neu zu entdecken und zeichenhaft zum Ausdruck zu bringen.
„Jünger machen“ (vgl. Mt 28,19) heißt also nicht unbedingt, sich selbst und andere unter Druck zu setzen, um die Menschen irgendwohin zu bekommen. Eher bedeutet es, die Bedingungen für einen Raum der Gastfreundschaft zu schaffen, in dem möglichst viele Menschen entdecken und sich austauschen können, wie sie das elementare Vertrauen auf das Leben interpretieren und wagen und so zu „Wohlstand“, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit für sich und andere beitragen können. Eine Kirche, die so aus sich herausgeht und sich als „Kirche im Werden“ in gastfreundlichen Räumen versteht, ist ein Selbstvollzug von Kirche als Dialog in den Begegnungs- und Beziehungsformaten mit Menschen in der Welt. Die missionarische Dimension einer sich so verstehenden Kirche erweist sich nicht als die Reproduktion des tatsächlich oder vermeintlich gewesenen „Kirchentums“, sondern in der einladenden und vorurteils- und absichtslosen Beteiligung an diesem großen Gesprächsdialog. Theobald fügt hinzu, „dass ‚Kirche‘ in solchen signifikanten Begegnungen entsteht, in denen das reine Interesse am immer bedrohten ‚Glauben‘ des Anderen an den Sinn seines Lebens der ‚Raum‘ wird, wo dieser Andere Christus entdecken kann“ (Theobald 2018, 88). Insofern wird Kirche in diesem Begegnungs- und Beziehungsgeschehen immer wieder neu „gegründet“, eine Gemeinschaft, die heilige Gastfreundschaft gewährt und selbst wahrnimmt, die als lernfähige Gemeinschaft Beratung und Dialog realisiert, die die leiblichen Dimensionen des Glaubens wahrnimmt, die in der Kontemplation in sich hinein und darin auch über sich hinaus und aus sich herausgeht, um sich selbst in der Begegnung mit dem Anderen als „messianisches Volk“ und als „Tempel des Heiligen Geistes“ wiederzufinden. Sie gibt sich damit hinein in eine Dynamik des Werdens, in der das Evangelium mit und in dem Entdecken unterschiedlicher, auch alternativer „Glaubensfiguren“ wächst und damit ihr (d. h. der Kirche) eigenes Wesen und Werden aktualisiert und artikuliert.