Pastorale Resonanz
Hartmut Rosa hat mit seiner Resonanz alle überrascht und einige neidisch gemacht. Zum einen bietet er nicht nur Analyse, was insofern überraschend ist, als es an Analysen nicht mangelt. Meistens sind Vorträge auch im theologischen und pastoralen Kontext Kaulquappenvorträge, nämlich breite Analysen und dann ein Schwänzchen Antwort bzw. weiterführende Perspektiven. Rosa bietet eine Antwort, die, wenn sie nicht als die Antwort auf alle Probleme der komplexen Welt gewertet wird, mehr als brauchbar ist.
Zum anderen ist die Rosasche Antwort ein Antwortversuch auf die Frage, was ein gutes Leben ausmacht. Das tut manchen Theologen/innen weh, dass nicht sie diese Antwort gefunden haben, sondern ein Soziologe ein Programm vorlegt, das sogar offen ist für religiöse Weiterführung, da es mit dem Unverfügbaren rechnet, ja rechnen muss. Fallen deshalb so viele Theologen über Rosa her?
Resonanz, die pastoralen Mitarbeiter/innen und die Kirche
Ich finde es weiterhin spannend, die Überlegungen Rosas zur Resonanz auf die Kirche und ihre Mitarbeiter/innen und auf die Pastoral anzuwenden. Im Blick auf die Kirche und ihre Mitarbeiter/innen habe ich dies schon einmal anhand einer exemplarischen Aussage einer pastoralen Mitarbeiterin getan: „Ich bin müde und wütend“, so mein gleichnamiger Beitrag auf feinschwarz.net und das darauf folgende gleichnamige Heft des Berufsverbandes der Gemeindereferenten/innen.
Auch in persönlichen Gesprächen habe ich dieses Zitat öfters gebraucht, um die aktuelle Stimmung ins Wort zu bringen. Einmal sagte eine Pastoralreferentin: „Müde nicht, aber wütend.“ Doch öfter erlebe ich die andere Variante: Müde, nicht einmal wütend.
Ich meine, mit Rosas Soziologie der Weltbeziehung liegt ein Erklärungsmodell vor, mit dem die in der Kirche herrschende Lähmung beschrieben werden kann. In der Sprache Rosas geht es um eine stumme Weltbeziehung versus eine resonante Weltbeziehung. Die Gegenüberstellung ist nicht nur beschreibend gemeint, sondern auch normativ. Eine resonante Weltbeziehung ist das Kriterium für gutes oder gelingendes Leben. „Das gute Leben […] ist das Ergebnis einer Weltbeziehung, die durch die Etablierung und Erhaltung stabiler Resonanzachsen gekennzeichnet ist, welche es den Subjekten erlauben und ermöglichen, sich in einer antwortenden, entgegenkommenden Welt getragen oder sogar geborgen zu fühlen“ (Rosa 2016, 59; Hervorhebungen im Original).
Als Resonanzachsen macht Rosa drei verschiedene ausfindig, nämlich die horizontalen Resonanzachsen – das sind die zwischenmenschlichen und politischen –, die diagonalen Resonanzachsen zu den Dingen und die vertikalen zur Welt als Ganzer, zu denen die Religion zu rechnen ist.
Resonanz und Resonanzbeziehungen, so Rosa, sind dann gegeben, wenn Subjekte von dem durchaus fremden „Weltausschnitt“ affiziert werden und dazu bewegt werden, diesen wirksam zu erreichen, so dass gegenseitige Anverwandlung geschieht. Entscheidend ist dabei, dass beide „Entitäten“ sowohl aufeinander antworten als auch mit eigener Stimme sprechen. Es ist also eine wechselseitige Beziehung mit einem Moment des Unverfügbaren, denn Resonanz kann man nicht machen, aber in einem Resonanzraum erfahren. Rosas Anliegen ist es herauszufinden, wie Gesellschaft beschaffen sein muss, um Resonanzräume zur Verfügung zu stellen, in denen Subjekte stabile Resonanzachsen ausbilden können, die wiederum Resonanzerfahrungen wahrscheinlich machen.
Liest man die Ich-Aussagen der pastoralen Mitarbeiter/innen auf diesem Hintergrund, bleibt nur der Schluss, dass die Beziehung der kirchlichen Mitarbeitenden zum Weltausschnitt Kirche verstummt ist. Ihre Resonanzerwartungen, dass sie gleichzeitig Resonanz erzeugen wie erfahren, werden offensichtlich nicht erfüllt.
In der Spätmoderne kommt hinzu, dass Menschen ihre Resonanzerwartungen hauptsächlich auf eine Resonanzachse fokussieren, nämlich die Arbeit. Im Falle ihres Verstummens stehen dann keine Ersatzquellen zur Verfügung, was schnell in die Resignation, in den Zynismus und dann ins Burn-out driften lässt.
Damit ist ein grundlegender Widerspruch sichtbar, der sich seit dem Konzil in der Kirche ereignet hat. Seit dem Konzil gibt es nämlich ein großes Resonanzversprechen, dass das Volk Gottes Kirche ist, daher wirksam Kirche gestalten und mit eigener Stimme sprechen kann und dies eine zufriedenstellende Wechselwirkung erzeugt. Umso größer aber das Versprechen, umso größer auch die Erwartungen derer, die nach dem Konzil mit Verve angetreten sind, diese Kirche zu gestalten, zu prägen und auch zu verändern – hauptamtlich wie ehrenamtlich.
Hinzu kommt, dass die gleichen Personen den Eindruck erwecken, dass sie nicht nur keine Resonanz erzeugen können, sondern umgekehrt kaum mehr von dem affiziert und berührt werden, was Kirche ihnen persönlich zu bieten hat: Die Gottesdienste scheinen auch die nicht mehr zu nähren, die für sie verantwortlich sind; von den Personen, die diese Kirche repräsentieren, scheint kaum ein Funke mehr überzuspringen – wie auch, wenn sie wütend und/oder müde sind.
Offen ist, ob sich der Mangel an Resonanz auch auf die vertikale Resonanzachse der Religion bezieht. Wenn die Spätmoderne mit dem Verstummen der Resonanzachse der Religion einhergeht, legt sich die Vermutung nahe, dass auch kirchliche Mitarbeitende von dem möglichen Verstummen der Resonanzachse der Religion betroffen sind. Religion, so Rosa, besagt ja, dass die Urform des Daseins eine Resonanzbeziehung ist, nämlich: Da ist eine/r, der/die mir antwortet und entgegenkommt. Die Wechselbeziehung gegenseitiger Anverwandlung gerät ins Wanken, wenn die eine Seite der Beziehung in der Spätmoderne unter Plausibilitätsdruck geraten ist, und dies auch in der eigenen Gottesbeziehung des hauptamtlichen Christen.
Wendet man Rosas Resonanztheorie auf die Krise der Kirche an, wird deutlich, wie weitreichend die Zukunftsprozesse der Diözesen gehen müssen. Eine Verkürzung solcher Prozesse auf ein bisschen Strukturveränderung oder ein wenig Pastoralkorrektur ist nicht zielführend. Ich bin daher froh, dass die Ich-Aussagen meiner Kollegen/innen aufdecken, was im Sinne eines Zeichens der Zeit aufgedeckt werden muss.
Resonanz, die Menschen und die Kirche
Deshalb ist die noch spannendere Frage, was uns das Rosasche Konzept über die Kirchenentwicklung sagen kann, wenn sie denn kein Strukturprozess, sondern ein Relaunch des christlichen Projektes werden muss. Wie muss Kirche beschaffen sein, damit sie einen Resonanzraum zur Verfügung stellt, so dass Einzelne stabile Resonanzachsen ausbilden können oder, etwas bescheidener, Resonanzerfahrungen machen können?
Zum einen ist zu beachten, dass Kirche nicht allein diese Aufgabe hat, sondern Rosa identifiziert sie als Aufgabe der Gesellschaft und damit aller gesellschaftlichen Institutionen. Zum anderen muss sich Kirche auf die vertikale Resonanzachse und auf vertikale Resonanzerfahrungen konzentrieren, auch wenn sie sich nicht darauf beschränken darf. Rosa sieht einen „sensorische[n] Resonanzverbund, in dem die drei Achsen sich gegenseitig zu aktivieren und zu verstärken vermögen. ‚Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen‘ (Matthäus 18,20) – dieses Bibelwort lässt sich dann so verstehen, dass die Etablierung der sozialen Achse genügt, um die vertikale Resonanz hervorzurufen. Ebenso mögen dem (zumindest katholischen) Gläubigen auch Kreuz, Kelch oder das geweihte Wasser dazu dienen, vertikale Resonanz spürbar zu machen“ (Rosa 2016, 443).
Resonanz ist wechselseitig – theologische Konsequenzen
Resonanz ist kein einseitiges, sondern ein wechselseitiges Geschehen. Resonanz ist angelegt auf Gegenseitigkeit und auf wechselseitige Transformation. Wenn Kirche also einen Resonanzraum zur Verfügung stellen will, muss sie diese Wechselseitigkeit im Blick auf alle drei Resonanzachsen berücksichtigen.
Diese Herausforderung stellt sich zunächst theologisch, also im Blick auf ihre vertikale Resonanzachse. Denn das traditionelle Gotteskonzept ist nur bedingt wechselseitig, die Transformation nur im Blick auf den Menschen angedacht. Streng genommen ist der traditionelle Gott ewig und daher unveränderlich, allmächtig und daher sich selbst genügend, kontrollierend und daher auf keinen Fall in einer wechselseitigen Beziehung mit Mensch und Schöpfung. Die Prozesstheologie hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein Konzept vorzulegen, das diese Einseitigkeit überwindet. Ich glaube, genau dies ist an der Zeit, denn Rosas Konzept ist nicht nur ein Vorschlag, sondern beinhaltet auch die Diagnose, dass der heutige Mensch Wechselseitigkeit, Dialog und Gegenseitigkeit als Grundprogramm verinnerlicht hat. Eine Gottesvorstellung, die nicht fundamental dialogisch ist, lässt ihn kalt. Wieso auch nicht? Bleibt doch Gott selber in dieser Beziehung kalt, unberührt, unverändert. Im Resonanzkonzept aber bleibt nichts es selbst, auch Gott nicht. Alles verändert sich durch Berührung, Wirksamkeit und Anverwandlung.
Eine Kirche, die Resonanzraum sein will für den heutigen Menschen, braucht ein Gotteskonzept, das auf Wechselseitigkeit angelegt ist. Gott will berührt und transformiert werden, Gott ist im Prozess des wechselseitigen Bezogenseins, wie die Prozesstheologie betont.
In den Worten Catherine Kellers, der großen amerikanischen Prozesstheologin: „Whiteheads Gott bezeichnet nicht eine kontrollierende Macht, sondern einen lebendigen Prozess, der nicht getrennt ist von dem Universum, in dem wir alle leben – Menschen und andere Geschöpfe –, sondern verstrickt mit ihm in einem pulsierenden Prozess der Beziehungen. Dieser Gott erschafft uns nicht ex nihilo, sondern ruft uns eher heraus, wie in der Genesis, aus einer Tiefe des Möglichen. Die Gottheit kontrolliert und zwingt uns nicht, sondern lockt und überredet. Sie fühlt mit uns. Sie lehnt die passionslose Orthodoxie der göttlichen apatheia ab und setzt an ihre Stelle die Metapher einer grenzenlosen compassion, einer unendlichen patientia, Geduld, eines Mit-Leidens (paschein). Whiteheads technischer Terminus ist ‚the consequent nature of God‘, seine kulminierende theopaschale Formulierung ist: ‚Gott ist der größte Gefährte, der Leidensgenosse, der versteht‘“ (Keller 2016, 20 f.). Deshalb schreibt Keller, dass der Gott, den wir brauchen, auch uns braucht, aber nicht im Sinne einer repressiven Abhängigkeit, sondern im Sinne von Interdependenz mit uns, also echter Wechselseitigkeit.
Ich bin überzeugt, dass der größte Reformstau der Kirche in der Weiterentwicklung der christlichen Gottesrede liegt und dass es an der Zeit ist, die christliche Gottesvorstellung für Menschen zu plausibilisieren, die als spätmodern gelten, d. h. die die ausdifferenzierte Welt verinnerlicht haben und sich an der Schwelle zum digitalen Zeitalter befinden. Diese überfällige Hausaufgabe von Kirche und Theologie anzugehen, wird nicht bedeuten, dass sich der Bevölkerungsanteil der Religiösen enorm steigern lässt, aber er wird bewirken, dass religiös affinen Menschen ein theologisches Angebot gemacht werden kann, das sie in ihr plurales Denken integrieren können, in den Worten Rosas: das bei ihnen Resonanz findet.
Anknüpfend an die offene Frage, inwieweit das Verstummen der Resonanzbeziehung auch die vertikale Resonanzachse betrifft, liegt die Antwort nahe: Ohne Fortschritt in der Theologie wird die vertikale Resonanzachse verblassen, was jetzt schon von vielen wahrgenommen wird, gerade auch von denen, die sich hauptsächlich mit der traditionellen Theologie auseinandersetzen, zumindest sie weitergeben müssen: dem hauptamtlichen pastoralen Personal. In Gesprächen erzählen mir einige, dass sie vieles nicht mehr glauben können, aber trotzdem so weitergeben oder weitergeben müssen. Dieses Verhalten, so verständlich es individuell auch ist, wird nicht dazu beitragen, dass Kirche zum Resonanzraum für stabile vertikale Resonanzachsen wird, es wird eher das Verstummen befördern.
Resonanz ist wechselseitig – pastorale Konsequenzen
Dies gilt umso mehr, je mehr die horizontale Resonanzachse, die Beziehung zwischen Seelsorger/in und „Suchenden“, „Gläubigen“ oder neutral ausgedrückt „Klienten“ in den Vordergrund tritt und zukünftig entscheidend wird für religiöse Resonanzen. Wenn man Dirk Baeckers Thesen zustimmen kann, dann ist „die Kirche der nächsten Gesellschaft“ eine Kirche des Zeugnisses. Jede/r einzelne Christ/in ist aufgefordert, in der Beziehung zu einem/r Nächsten „mit dem eigenen Leben Zeugnis abzulegen für den Wert des bloßen Lebens“ (Baecker 2014, 14). In der Sprache Rosas ist der einzelne Christ, die einzelne Christin Zeuge oder Zeugin zum einen für „dieexistentielle Antwortbedürftigkeit des Menschen auf der einen und das Versprechen ihrer potentiellen Erfüllung auf der anderen Seite“ (Rosa 2016, 446; Hervorhebungen im Original), zum anderen für die existentielle Antworterfahrung, dass sich jeder Mensch mit eigener Stimme sprechend erfährt und dabei Resonanz erlebt – und dies nicht in einer geschönten Sonderwelt, sondern mitten in der unübersichtlichen und unvorhersehbaren Welt, in der Resonanzerfahrung und ihre Unverfügbarkeit gleichermaßen möglich wie gefährdet sind. Damit dieses Zeugnis des einzelnen Christen möglich wird, braucht es qualifizierte Personen, pastorale Mitarbeiter/innen, die selber Zeugen/innen sind und zum Zeugnis anleiten, so dass es geübt und reflektiert werden kann.
Die erste pastorale Aufgabe der Zukunft liegt dann in der Befähigung zur Zeugenschaft. Der/die Zeuge/in bietet sich anderen als Resonanzpartner an und erfährt sich dabei selber als wirksam. Der/die Zeuge/in steht dafür, dass der andere im Kontakt und in der Beziehung Resonanz erfährt und sich damit Unverfügbarkeit ereignet. Der/die Zeuge/in ist in der Lage, diese Resonanzerfahrung in Wort und Symbol zu bringen. Dabei wird ihm bewusst, dass es auf ihn/sie ankommt. Nur in der Resonanzbeziehung kann der andere erleben, was ihm christlich zugesagt ist. In der Resonanzbeziehung kann es erlebt und dann auch symbolisiert und versprachlicht werden. Aber diese Praxis der Zeugenschaft ist noch weitgehend Zukunftsmusik. Sie stellt sich noch als Aufgabe, die Schritt für Schritt zu bewältigen ist. Zunächst bedarf es des Blickwechsels, dass sich das Evangelium in Resonanzbeziehungen ereignet oder ereignen kann, und dann der Befähigung, im Licht des Evangeliums davon zu sprechen.
Eine weitere Konsequenz pastoraler Resonanz ist die Kirche, die Partizipation lernt, wie es Elisa Kröger treffend in ihrem Buchtitel ausdrückt (Kröger 2016). Viele Menschen gehen in Distanz zur Kirche, weil sie sich in Bezug zu ihr gerade nicht als mit eigener Stimme sprechend und selbstwirksam erleben. Sie haben den Eindruck, nur die Kirche spricht, und ihre Rolle ist nach wie vor zu hören, zu nicken und bisweilen zu schlucken. Partizipation sieht anders aus. Sie beginnt mit einer transparenten Information über Abläufe und Entscheidungen und beinhaltet Mitgestaltung und Mitbestimmung. Wenn Kirche die vertikale und horizontale Wechselseitigkeit von Beziehungen, die oben beschrieben werden, ernst nimmt, kommt sie an einer echten Partizipation nicht vorbei. Sie zu ermöglichen ist die zweite pastorale Aufgabe der Zukunft. Freilich halte ich die theologische Herausforderung für die fundamentalere. Aber keine der drei Herausforderungen kann aufgeschoben werden, will die „Kirche in der nächsten Gesellschaft“ (Baecker 2014) Kirche Jesu Christi sein.