Hartmut Rosas „Resonanzpädagogik“ in bibliodramatischer und religionspädagogischer Perspektive
Die Entwicklung des Bibliodramas verlief in den letzten Jahrzehnten immer wieder unter Inspiration durch und kritischer Adaption von Konzepten, Ansätzen und Zugängen aus den verschiedenen Bezugswissenschaften. Sei es die Verhältnisbestimmung zum Psychodrama, die Aufnahme rezeptionsästhetischer Impulse aus der neueren Hermeneutik, sei es Martin Bubers oder Otto Friedrich Bollnows Begegnungsphilosophie/‑pädagogik oder Gernot Böhmes Beitrag zum Durchdringen von „Atmosphäre“, sei es die Verhältnisbestimmung zum Bibliolog oder zu den Ignatianischen Exerzitien, jeweils ging es um Kontext‑bezogene Rekonstruktionen und insofern natürlich jeweils auch um Neukonstruktionen dessen, was Bibliodrama jeweils sein könnte.
Und nun „Resonanz“, konkreter: „Resonanzpädagogik“ von Hartmut Rosa. Welche Impulse ergeben sich daraus für das Bibliodrama – im Besonderen für ein Bibliodrama, das in formellen und informellen Kontexten eines lebendigen Lernens stattfindet, sei es in Schule, Erwachsenenbildung oder Gemeinde?
Hartmut Rosa, geb. 1965, Soziologieprofessor in Jena, ist sicher einer der derzeit gefragtesten Gegenwartsinterpreten in Deutschland. Sein aktuelles opus magnum „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (2016) hat weit über Politikwissenschaftler- und Soziologenkreise hinaus Beachtung gefunden. Es startet mit der Kernthese: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung“. Die pessimistische Gegenwartsanalyse dahinter lautet: Die Beschleunigung aller Lebensumstände führt Individuen und Gesellschaften auf eine slippery slope, auf eine schiefe Ebene, auf der Biographien ins Rutschen kommen, weil sie an dem gefühlten Zwang scheitern, alle Optionen nutzen zu müssen oder zu können.
Rosa hat den Mut zur globalen Gesellschaftsanalyse, er hält einer Gesellschaft, die selbst nicht mehr weiß, wohin ihre Eigendynamiken sie treiben, den Spiegel vor. Dadurch wurde er zum gefragten Politikberater, von dem sich Bundespräsidenten die Welt erklären lassen. Resonanz begegnet dabei als Chiffre, als Vision eines glückenden Miteinanders.
Für die Bibliodramabewegung ist der Resonanzbegriff allerdings nicht neu. Resonanzen zu geben gehört zur Feedbackkultur im Bibliodrama, körperliche Resonanzen können gespielte Interaktionen sein. Auch die Entschleunigung des Zugangs zu biblischen Texten, Interaktionen und Deutungen gehört zum Kernbestand des Bibliodramas.
Im Jahr 2002 erschien zum 60. Geburtstag des großen Bibliodramatikers Gerhard Marcel Martin der Sammelband „Resonanzen. Schwingungsräume Praktischer Theologie“, herausgegeben von Constanze Thierfelder und Dietrich Hannes Eibach. Marcel Martin hatte selbst festgestellt, es gehe im Bibliodrama „um das Phänomen der Resonanz, darum also, dass Traditionen und Gegenwart, Texte und Menschen in ein gemeinsames Feld von durchaus differenzierten, sich gegenseitig verstärkenden, aber auch irritierenden und verfremdenden Schwingungen geraten” (Martin 2000, 9). Allerdings hatte sich schon damals der Resonanzbegriff durch seine relative Unschärfe ausgezeichnet. Resonanz meint bis heute im Bibliodrama vieles: Feedback, Körperlichkeit im Spiel, Emotionalität, Offenheit, Ganzheitlichkeit, Korrelation und vieles mehr. Der Resonanzbegriff wurde zwar zur Projektionsfläche sehr unterschiedlicher Interessen und Intuitionen, seine analytische Schärfe blieb aber begrenzt.
Jetzt, 15 Jahre später, besetzt also Hartmut Rosa den Resonanzbegriff im Sinne einer romantisch-idealistischen Gesellschaftstheorie, was seiner Schärfung auch für die Bibliodramabewegung durchaus gut tut. Rosa versteht unter Resonanz „eine durch Affizierung und Emotion, intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren“ (Rosa 2016, 298).
Der kleine Band „Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert“ (Rosa/Endres 2016) ist eigentlich nur ein ausführliches Interviewgespräch Rosas mit dem Lernmethodiker, Pädagogen und Regisseur Wolfgang Endres. Rosa setzt darin, begleitet durch Endres, seinen Resonanzbegriff mit dem derzeit herrschenden Paradigma in der Pädagogik ins Verhältnis. Resonanz wird in „Resonanzpädagogik“ zum konstruktiv-kritischen, ergänzenden Gegenüber zur allseits geforderten und die aktuellen Lehrpläne dominierenden Kompetenzorientierung. Die pädagogische Kompetenzorientierung, geboren aus dem Pisa-Schock zu Beginn der 2000er Jahre, gefordert von einer an flexiblem Humankapital interessierten Wirtschaft, hat sich inzwischen im Bildungswesen etabliert.
Es war zu erwarten, dass damit die pädagogische Debatte aber nicht zum Erliegen kommt, sondern dass es vielmehr wieder eine Gegenbewegung geben würde, ausgelöst durch mögliche Defizite des Kompetenz-Ansatzes oder seiner Anwendung. Rosa bringt seine Sichtweise schon im Vorwort markant zum Ausdruck: „Kompetenz und Resonanz sind zwei ganz verschiedene Dinge. Kompetenz bedeutet das sichere Beherrschen einer Technik, das jederzeit Verfügen-Können über etwas, das ich mir als Besitz angeeignet habe. Resonanz dagegen meint das prozesshafte In-Beziehung-Treten mit einer Sache. […] Resonanz enthält ein Moment der Offenheit und der Unverfügbarkeit, das sie von Kompetenz unterscheidet. Kompetenz ist Aneignung, Resonanz ist Anverwandlung der Welt: Ich verwandle mich dabei auch selbst“ (Rosa/Endres 2016, 7).
Ob Rosa mit dieser Charakterisierung den pädagogischen Kompetenzbegriff wirklich angemessen würdigt und zu Recht kritisiert, darf bestritten werden. Er weist aber allemal zu Recht auf die Gefahr einer falsch verstandenen Reduktion von Bildungsprozessen auf die bloße Anwendung von Fähigkeiten und Fertigkeiten hin.
Rosas Anliegen speist sich aus seiner Gegenwartsanalyse. Resonanz wird dabei zum Gegenbegriff einer Entfremdung durch Beschleunigung. Die machtförmige Anwendung von Kompetenzen gerät dabei in den Verdacht, zur Beschleunigung beizutragen (vgl. Rosa/Endres 2016, 12 f.). „Anverwandlung“ meint im Gegenzug das existentielle Berührtwerden bzw. Verändertwerden durch eine Sache, die ich meinerseits nicht einfach beherrsche. Bibliodramatisch meinen wir wohl genau das, wenn wir davon sprechen, dass nicht nur wir einen Text lesen, sondern umgekehrt auch der Text uns. Rezeption heißt: gegenseitige Verwandlung in Prozessen der Verlangsamung.
Bildung ist, Welt für die Subjekte zum Sprechen zu bringen oder in Resonanz zu versetzen. Dann kann es, so Rosa, auch zum „Knistern“ im Klassenzimmer kommen, wenn eben der Funke überspringt. Resonanz ist ein leibliches Phänomen, auch darin dem körperbezogenen Ansatz des Bibliodramas verwandt. Auch dass die biblischen Texte sich im Spielen nie erschöpfen, dass sie sich vielmehr immer wieder entziehen, korrespondiert dem Resonanzgedanken Rosas: „Resonanz ist das Hören einer anderen Stimme. Und dazu gehört, dass das Andere mir als Anderes entgegentritt. Da muss es immer etwas geben, was ich vielleicht nicht verstehe, was sogar nicht anverwandelbar ist“ (Rosa/Endres 2016, 21). Resonanz, das sind immer nur einzelne besondere Momente, nie ein Dauerzustand. Schule als Resonanzraum, so Rosa, ist immer auch gefährdet: Er droht stets in Indifferenz und Desinteresse einerseits, in Repulsion (Schule als Kampfzone) andererseits zu degenerieren.
Der Gegensatz zwischen einer „Resonanzpädagogik“, wie Rosa sie beschreibt, und einem differenzierten Verständnis von Kompetenzorientierung erscheint mir allerdings gar nicht so groß und auch nicht so zwingend, wie Rosa ihn darstellt. Dabei steht mir allerdings ein religionspädagogisch adaptierter Kompetenzbegriff vor Augen: Wir gehen dabei entschlossen von der Perspektive der Lernenden aus, ohne den Bildungsgehalt der Sache zu unterschlagen. Es kommt im Religionsunterricht, der von einem solchen Verständnis geprägt ist, auf ein angemessenes Verhältnis von Konstruktion und Instruktion an. Auch im Bibliodrama nehmen wir im Prozessfeedback unsere zuvor – gerne höchst subjektiv – formulierten Perspektiven wieder zurück und stellen uns der Außensicht der Gruppe und des Textes – mit bleibenden Interpretations-Freiräumen.
Rosa spricht seinerseits auch davon, dass es ein dynamisches Verhältnis von autonomem Lernen und Phasen braucht, in denen der Lehrer als „Stimmgabel“ den Ton angibt und so Wege in den Stoff hinein anbahnt. „Resonanz‑sensible Selbstwirksamkeit“ der Agierenden ist dabei eine Quelle der Motivation. Zentral ist für solche Bildungsprozesse eine lebendige Feedbackkultur, die Ressourcen-orientiert sein soll, um die Bildungssubjekte nicht zu überfordern.
Rosas Buch „Resonanzpädagogik“ ist sowohl für das Bibliodrama als auch für eine Religionspädagogik hilfreich, weil es auf die Gefahr vorschneller Funktionalisierungen eigentlich offener Prozesse hinweist. Prozesshaftigkeit und Resonanz-Sensibilität setzen eben beide eine gewisse Offenheit voraus, die bei bestem Willen, es anders zu machen, leider allzu oft von den immanenten Zwanghaftigkeiten des Schulbetriebs überlagert wird. Auch bibliodramatische Prozesse können, gerade wenn die Leitung besonders engagiert oder auch charismatisch ist, Resonanz‑vergessen manipulativ werden. Dann kracht es hoffentlich, anstatt zu knistern.