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Eine Art von Begehren nach Welt

Hartmut Rosa im Gespräch

Um das eigene Leben als gelungen ansehen zu können, brauchen Menschen mehr als Anerkennung – sie brauchen Resonanz. Erst wenn sie die Erfahrung machen, etwas zu bewegen und von anderen und der Umwelt bewegt zu werden, stehen sie fest in der Welt. Fehlen „resonante Weltbeziehungen“, erklärt der Soziologe Hartmut Rosa, kann dies zu Burnout und anderen Zeiterkrankungen führen. – Wir stellen dieses bereits 2013 in der Zeitschrift „Psychologie heute“ publizierte Interview zur Einführung in Rosas Resonanzkonzept an den Anfang des Schwerpunktteils dieser Ausgabe.

Psychologie heute (PH): In Ihrem 2005 erschienenen Buch Beschleuni­gung machen Sie das gestiegene Tempo und den Optimierungszwang dafür verantwortlich, dass wir unter enormen Leistungsdruck geraten und kein „gut genug“ mehr kennen. Nun stellen Sie in Ihrem neuen Buch als Soziologe die Frage nach dem guten Leben. Was ist ein gutes Leben?

Hartmut Rosa: Das ist natürlich eine schwierige Frage, an der sich schon die Philosophen abgearbeitet haben. Die Soziologie kann und sollte dar­auf keine Antwort geben, weil Menschen vielfältig sind. Für den einen ist das Leben gelungen, wenn er möglichst oft Saxophon spielen kann, für den anderen, wenn er endlich seinen Traum, am Wasser zu leben, verwirklicht. Als Soziologen können wir aber durchaus fragen, unter welchen Bedingungen Menschen ihr Leben als gelingend oder misslin­gend erfahren.

PH: Sie verfolgen in Ihrem Projekt „Soziologie der Weltbeziehung“ die These: Menschen erfahren ihr Leben dann als gelungen und sinnhaft, wenn sie Resonanzerfahrungen machen können. Was meinen Sie damit?

Rosa: Menschen sind glücklich, wenn sie in einer resonanten Austausch­beziehung mit der Welt stehen. Wie aber kann man Welt beschreiben? Es gibt drei Ebenen von Welterfahrung. Wir haben Beziehungen zur Natur, zu Bäumen und Pflanzen und zu Dingen, wir haben Beziehungen zu anderen Menschen, und wir haben die Welt unserer eigenen Erfah­rungen, Empfindungen, Wünsche und Nöte. Ich glaube, ein Leben ge­lingt, wenn diese Weltbeziehungen – subjektive Welt, Dingwelt und Sozialwelt – als resonant erfahren werden. Anders ausgedrückt: Ich mache die Erfahrung, dass ich etwas bewegen kann und bewegt werde. Dass mein Tun in einem organischen Zusammenhang mit der Umwelt steht und etwas zurückkommt.

PH: Das Gefühl, etwas bewegen und bewirken zu können, wird in der Psychologie Selbstwirksamkeit genannt. Ist das ein Element von Resonanz?

Rosa: Selbstwirksamkeit ist per se noch keine Resonanzerfahrung und keine Garantie für ein gutes Leben, aber sie ist eine notwendige Bedin­gung dafür. Die Soziologie der Weltbeziehung fragt danach, wie Men­schen sich in die Welt gestellt fühlen. Es ist eine notwendige Bedingung unseres Handelns und unserer Orientierung, dass wir eine Art von Welt­konzept in uns tragen. Da draußen ist etwas, und die Frage ist, wie man dazu in Beziehung tritt. Resonante Weltbeziehungen sind solche, bei denen man der Idee folgt, was da draußen ist, berührt und bewegt mich. Es ist nicht nur instrumentell oder kausal mit mir verbunden, sondern konstitutiv. Menschen, die in sich das Gefühl oder die Hoffnung haben, dass sie etwas bewirken können, sind von innen her motiviert und ent­wickeln ein tieferes Interesse an Dingen.

PH: Was Sie beschreiben, ist eine Haltung von Neugier und Begeiste­rungsfähigkeit.

Rosa: Ich würde noch weiter gehen, man könnte fast sagen, das Welt­verhältnis ist libidinös aufgeladen. Es ist eine Art von Begehren nach Welt und danach, Dinge auszuprobieren. Es ist eine bestimmte Haltung, mit Welt zu interagieren in einer Form, welche die Welt nicht auf Mate­rial da draußen reduziert, sondern als eigenständige Bezugsgröße sieht, mit der man in einem inneren Austausch steht, sodass es ein wechsel­seitiges Resonanzverhältnis ist.

PH: Die Welt als Gegenüber wie ein Du?

Rosa: Es geht um eine Art von Gegenüber-Erfahrung, die eben nicht ein reines Echo sein darf. Die Welt ist immer auch eine widerständige Quel­le, die andere Ergebnisse zeitigt, als man haben will, und anderen Prin­zipien und Ansprüchen folgt. Das macht die Beziehung besonders reiz­voll. Resonanz ist nicht Echo, sondern ich sende etwas aus, und das hat eine Wirkung: Es kommt etwas zurück in gewandelter Form. Und da­nach sehnen sich Menschen offensichtlich. Ich bin überzeugt davon, dass man damit zum Beispiel das gewachsene Interesse am Ehrenamt erklären kann. Warum engagieren sich so viele, obwohl sie kein Geld damit verdienen und auch nicht immer Anerkennung erfahren? Ich glaube, es liegt daran, dass immer mehr Menschen in ihrer Arbeit keine Resonanz mehr erfahren und das Gefühl haben, sich zu verausgaben, ohne dass etwas zurückkommt. Selbst große Erfolge werden schnell abgehakt, und man bekommt das nächste Projekt auf den Tisch. Im Ehrenamt finden viele eine Resonanzsphäre, die sie im Job schmerzlich vermissen.

PH: Was macht es heute so schwer, am Arbeitsplatz Zufriedenheit zu erfahren?

Rosa: Arbeitsbeziehungen stehen unter Effizienz- und Optimierungs­druck. Ob Kassiererin im Supermarkt, Arzt oder Wissenschaftlerin, alle müssen in möglichst kurzer Zeit möglichst hohe Ergebnisse erzielen. Das zwingt geradezu zu einem instrumentellen Weltverhältnis, das auf Resonanzen keine Rücksicht nehmen kann. Die Ausbildung von Reso­nanzverhältnissen ist immer zeitintensiv. Und die gezielte Verweige­rung von Resonanzen aus Zeitgründen führt zu Frustrationserlebnissen und zu gesundheitlichen Krisen. Dass Burnout insbesondere in Pflege­­berufen auftritt, ist kein Wunder, weil es im zwischenmenschlichen Bereich immer Resonanzerwartungen gibt. Die Pflegebedürftigen war­ten auf ein Lächeln, eine Berührung, ein freundliches Wort. Das kostet Zeit. Menschen in Pflegeberufen sollen aber schnell und effizient sein. Dieser Doppelanspruch macht krank.

PH:  Welche Rolle spielt Anerkennung in Ihrem Verständnis von Reso­nanz? Geht es Menschen im Job nicht vor allem um Anerkennung und Wertschätzung?

Rosa: Ich bin nicht nur durch meine Liebe zur Musik, sondern auch durch die Auseinandersetzung mit meinem Doktorvater Axel Honneth auf den Resonanzbegriff gekommen. Er vertritt die These, dass Men­schen immer angewiesen sind auf Anerkennung und dass unsere Lebens­führung, vielleicht auch unsere Weltbeziehung, dominiert wird von der Suche nach Anerkennung und der Furcht vor Missachtung. Ich glaube jedoch, dass Indifferenzerfahrungen noch schlimmer als Miss­achtungserfahrungen sind. Menschen leiden heute darunter, dass sie das Gefühl haben, es spielt gar keine Rolle, ob sie da sind oder nicht. Nicht gesehen zu werden, ist schlimmer, als missachtet zu werden. Den sozialen Tod kennen wir aus archaischen Kulturen, in denen man Men­­schen durch komplette Resonanzverweigerung umgebracht hat, indem man so tat, als wären sie nicht existent. Die Frage ist: Worauf sind wir letztlich aus? Ich glaube, wir suchen nicht nur nach Anerkennung. Es gibt Momente von Glück, von gelingender Weltbeziehung, die man nicht auf Anerkennung reduzieren kann. Dazu gehören zum Beispiel Naturerfahrungen. Viele Menschen sagen, ich muss in die Berge oder ans Meer fahren. Wenn ich am Strand stehe und die Wellen heranrollen, stehe ich anders in der Welt. Das eigene Wesen öffnet sich, man hat das Gefühl, dass das, was heranbraust, mit dem Inneren in einer engen Beziehung steht, und Ähnliches passiert auf dem Berg oder im Wald oder beim Hören eines Musikstücks. Viele kennen das, dass man von Musik berührt wird, so sehr, dass man gar nicht sagen kann, ob die Musik außen oder innen ist. Das ist eine sehr tiefe Erfahrung.

PH: Sie behaupten, dass es immer schwieriger wird, solche beglücken­den Erfahrungen zu machen, weil das Lebenstempo enorm gestiegen ist. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Beschleunigung und Resonanz?

Rosa: Mein Resonanzmodell ist der Versuch, eine Antwort auf das Be­schleunigungsproblem zu geben. Ich glaube, dass wir einen systema­tischen Fehler in der Moderne und in unserer Kultur machen. Wir glau­ben, dass Optionssteigerung das Leben verbessert. Von diesem Irrglau­ben lassen wir uns immer wieder verführen. Wir glauben, mehr ökono­mische Ressourcen, mehr technische Möglichkeiten und mehr soziale Freiheiten würden uns ein besseres Leben bescheren. Ich will das nicht diskreditieren, aber wir haben diese Idee verabsolutiert und damit den instrumentellen Weltbezug in den Mittelpunkt gestellt und uns da­durch nicht nur psychische, sondern auch große ökologische Probleme geschaffen. Diese sind nicht technisch oder politisch zu lösen, sondern nur durch eine Änderung des Weltverhältnisses, indem wir Natur wie­der als Resonanzraum und ‑sphäre erfahren. Beschleunigung untergräbt Resonanz. Wir entwickeln keine Beziehung mehr zu den Räumen, in denen wir uns bewegen. Wenn ein Kind in einer stabilen Umgebung aufwächst, erschließt es sich den Raum als Ganzes, es verinnerlicht den Schulweg, kennt alle Büsche und Steine, Farben und Gerüche. Sozial­geografen können deutlich zeigen, je öfter man umzieht, umso mehr verliert man dieses resonante Raumverständnis und tauscht es gegen ein instrumentelles ein. Ich muss wissen, wo Supermarkt, Schule und Arbeitsplatz sind. Das Dazwischen spielt keine Rolle mehr. Das fängt schon mit den Nachbarn an, die werden gar nicht mehr wahrgenom­men. Ich habe früher, als ich noch gar nicht über Resonanz nachgedacht habe, meinem ersten Computer einen Namen gegeben. Erst im Rück­blick ist mir klar, dass das der Versuch einer Aneignung war. Heute weiß ich noch nicht mal, was für ein Computermodell ich gerade habe. Wenn die EDV-Abteilung sagt, jetzt ist es Zeit für einen neuen, schmeiße ich das alte Modell raus. In allen Lebensbereichen sind wir darauf geeicht, Resonanzerfahrungen zu untergraben.

PH: Das Wort Wegwerf­­gesellschaft gibt es ja schon lange, nur rangieren wir inzwischen in allen Lebensbereichen ständig aus. Das Wegwerf­prinzip scheint universell zu gelten.

Rosa: Was wir uns nicht klarmachen: Wir tun nicht nur der Umwelt etwas Schlechtes, sondern auch uns selbst. Wenn ich von vornherein weiß, eine Beziehung wird nicht dauerhaft sein, ist es geradezu unklug, eine Resonanzbeziehung aufzubauen, weil der Verlust dieser Beziehung dann großen Schaden anrichtet. Wir betrachten Dinge und Menschen nur noch instrumentell. Aus Selbstschutz. Ich glaube, dass wir zuneh­mend auch so mit Arbeitskollegen umgehen. Wenn man das erste Mal einen Job hat, interessiert man sich noch für die Lebensgeschichte der Kollegen. Wenn Sie viele Male die Stelle wechseln oder erleben, dass die Kollegen kommen und gehen, sagen Sie: Erspar mir deine Geschichte. Das gilt auch für den Umgang mit Kulturprodukten. Wenn ich eine CD einmal anhöre oder nur eine Woche lang habe, kann sie für mich keine konstitutive Bedeutung gewinnen, dafür muss man langfristig mit den Dingen umgehen. Man stellt sich heute keine CD oder Schallplatte ins Regal, sondern lädt den Titel runter, all das erschwert die Ausbildung resonanter Weltbeziehungen.

PH: Mit einem großen CD- oder Bücherregal gilt man heute als hoff­nungsloser, nostalgischer Anachronist.

Rosa: Durch die Beschleunigung sozialen Wandels sind wir von einer positionalen zu einer performativen Orientierung übergegangen. Man definiert sich ständig neu und natürlich auch seinen Musik- und Lite­raturgeschmack. Man definiert sich auch nicht mehr über einen be­stimmten Beruf, einen Wohnort oder eine politische Orientierung, sondern man positioniert sich immer wieder neu. In der Spätmoderne sind die Veränderungen so häufig geworden, dass wir permanent über­prüfen müssen, ob die Dinge noch richtig und angemessen sind. Ist mein Job noch der richtige? Oder sollte ich mich umorientieren? Ist meine Familie noch die richtige? Oder haben wir uns auseinander­gelebt? Das gilt erst recht für Wohnorte und Glaubensfragen. Man sagt: „Im Moment versuche ich es gerade mit Zenbuddhismus.“ Menschen sagen nicht mehr: „Ich bin konservativ“, sondern: „Ich habe letztes Mal CDU gewählt, aber wer weiß, wen ich nächstes Mal wähle.“

PH: Die Wahlmöglichkeiten sind ja auch segensreich. Für viele ist es eine Befreiung, nicht den Beruf des Vaters übernehmen zu müssen, der einem vielleicht gar nicht liegt. Wo kippt die Freiheit um in einen Zwang?

Rosa: An der Idee, dass Menschen in der Adoleszenz ihre Weltposition wählen, suchen und schaffen müssen, möchte ich unbedingt festhalten. Meine These ist nur, dass in der Spätmoderne vor allem durch die digi­tale Revolution und die Revolution der Finanzmärkte die Dynamik der Veränderung so hoch ist, dass es nicht mehr möglich ist, sich eine Welt­position zu schaffen.

PH: Haben wir ein Problem der Oberflächlichkeit?

Rosa: Man könnte das so beschreiben, aber das klingt mir zu moralisch. Wir haben in der Spätmoderne einen anderen Umgang mit Welt. Wir sind wie Surfer, die von Welle zu Welle springen und keine klare Rich­tung mehr haben, weil wir nie wissen können, welche Welle am Ende die beste sein wird. Es gibt kein harmonisierendes Lebenskonzept mehr. Die Frage ist jetzt, ob man im Modus des Surfens resonante Weltbezie­hungen aufbauen kann, und da bin ich skeptisch und eher pessimis­tisch. Der Surfer kann vielleicht eine gewisse Form von Autonomie für sich in Anspruch nehmen, aber es wird ihm kaum gelingen, dauerhafte Resonanzbeziehungen aufzubauen. Die Gefahr besteht, dass die Welt­erfahrung des Surfers in eine Indifferenzerfahrung umschlägt. Ich glaube, der Gegensatz von Resonanzbeziehungen sind indifferente Weltbeziehungen.

PH: Wer auf Resonanz pocht und an einem Ort und in einer Position bleibt, gilt aber schnell als träge und nicht flexibel genug.

Rosa: Diese Angst ist auch berechtigt. Dass Menschen sich an falschen Glücksvorstellungen orientieren, hat strukturelle Gründe. Man hat die Sorge, unterzugehen, wenn man mal eine tolle Welle auslässt. Es gibt keine Nischen mehr, in denen man sich ausruhen kann. Stillstand ist immer schon Rückschritt. Es gibt keinen Ort mehr, wo man sagen kann, jetzt habe ich meine Nische, meine Position, wo ich in die Tiefe gehen kann. Man kann aber zumindest seine Orientierung ändern und sich mehr nach dem ausrichten, wo man Resonanz erfährt. Wir brauchen eine kollektive Verständigung über Glück und Lebensorientierung. Die­se Debatte versuche ich anzustoßen. Jeder betet zwar den Satz nach, dass Reichtum nicht glücklich macht, aber wir ziehen keine Konsequen­zen daraus. Wir haben die Frage nach dem guten Leben zur Privatsache erklärt und gesagt: Du musst selbst deine Prioritäten setzen. Familie, Beruf, Religion, wie du das gewichtest, ist deine Sache. Das war ein Fehler. Dadurch haben wir zugelassen, dass die kollektiven Strukturen, in denen wir leben, sich so verändert haben, dass sie uns ein gelingen­des Leben fast unmöglich gemacht haben. Es wird höchste Zeit, dass wir nicht nur darüber diskutieren, wie die Wirtschaft wächst und wie wir noch mehr Freiräume und technische Bedingungen schaffen, sondern auch darüber, wie wir Resonanzräume sichern und Entfremdungs­erfahrungen vermeiden.

Mit Hartmut Rosa sprach Birgit Schönberger.

Erstveröffentlichung in: Psychologie heute 40 (1/2013), 34–38. Wiederveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.