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Wenn die Bibel zu sprechen beginnt

Ignatianische Exerzitien und Resonanzerfahrung

Aus der Erfahrung des Exerzitienbegleiters blickt Wilfried Dettling SJ auf die Frage der Resonanz. Er macht seine Überlegungen fest an einem zentralen Bestandteil der ignatianischen Übungen: der Schriftlesung in der Tradition der Lectio divina, die das Gelesene im Exerzitanden nachhallen lässt.

Das Wort „Exerzitien“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „Übung“. Religiös gesprochen handelt es sich dabei um geistliche Übun­gen, die helfen, die persönliche Gottesbeziehung zu vertiefen und Klar­heit zu finden bei anstehenden Entscheidungssituationen. Die klassi­schen Exerzitien gehen auf Ignatius von Loyola (1491–1556) zurück. Sie basieren auf Erfahrungen, die der Mann aus dem Baskenland im Jahr 1521 gemacht hat. Der Soldat Ignatius wurde damals bei der Verteidi­gung der Festung von Pamplona schwer verwundet. Zur Genesung brachte man ihn in sein Elternhaus nach Loyola. Als sich der Heilungs­prozess länger hinzog, wollte sich Ignatius mit leichter Unterhaltungs­lektüre die Zeit vertreiben. Da diese nicht vorhanden war, gab man ihm „Das Leben Christi“ des Kartäusers Ludolf von Sachsen († 1377) und die „Legenda aurea“ des Dominikaners Jacobus de Voragine († 1298). Zu­­nächst etwas widerwillig, dann aber durchaus interessiert und erstaunt las Ignatius in diesen Büchern. Er las vom heiligen Franz von Assisi und vom heiligen Dominikus und fragte sich: „Was wäre, wenn ich täte, was der hl. Franziskus und was der hl. Dominikus getan haben?“ (Pilgerbe­richt [PB] 7). Beim Lesen machte Ignatius wichtige Erfahrungen. Hierzu schreibt er in seiner Autobiographie: „Wenn er an weltliche Dinge dach­te, empfand er großes Vergnügen; sobald er aber ermüdet davon abließ, fand er sich trocken und unzufrieden. Wenn er jedoch daran dachte, barfuß nach Jerusalem zu gehen und nichts als wilde Kräuter zu essen und alle übrigen Strengheiten zu üben, die er bei den Heiligen wahr­nahm, da war er nicht nur getröstet (se consolaba), solange er sich bei solchen Gedanken aufhielt, sondern blieb auch zufrieden und froh, nachdem er davon abgelassen hatte“ (PB 8). Es dauerte längere Zeit, bis Ignatius diesen Unterschied überhaupt erst einmal gelten lassen konnte. Dann aber begann er, sich darüber zu wundern, und fing an nachzudenken, welche Bedeutung die verschiedenen Regungen und Stimmungen für ihn haben könnten. Er schreibt: „Allmählich kam er dazu, Klarheit über die Verschiedenheit der Geister zu gewinnen“ (ebd.).

Was sind ignatianische Exerzitien? Welche Elemente sind für diese Übungen besonders wichtig? Und worin besteht die Bedeutung der Exerzitien mit Blick auf die Resonanzerfahrungen, die die Exerzi­tanden dabei machen? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.

Was sind ignatianische Exerzitien?

Ignatius schreibt hierzu: „Unter diesem Namen ,geistliche Übungen‘ ist jede Weise, das Gewissen zu erforschen, sich zu besinnen, zu betrach­ten, mündlich und geistig zu beten, und andere geistliche Betätigungen zu verstehen […] jede Weise, die Seele darauf vorzubereiten und einzu­stellen, alle ungeordneten Anhänglichkeiten von sich zu entfernen und, nachdem sie entfernt sind, den göttlichen Willen in der Einstellung des eigenen Lebens zum Heil der Seele zu suchen und zu finden“ (Exerzi­tienbuch [EB] 1). Ignatianische Exerzitien sind also vom Geist getragene Übungen, die helfen, sich dem Anruf Gottes gegenüber zu öffnen. Gott wiederum zeigt sich dem Exerzitanden in den inneren Regungen. Der Exerzitand soll diese wahrnehmen und sich dann nach intensivem Ge­bet denjenigen Bewegungen anvertrauen, die zu mehr Freiheit, Trost, Freude, Liebe und Glück führen. Gleichzeitig soll er sich bewusst von den inneren Regungen verabschieden, die zu größerer Unfreiheit, Härte, Verschlossenheit, Zorn, Traurigkeit, Mißtrost und innerer Unruhe füh­ren (EB 313–336). Kurz gesagt: Ignatianische Exerzitien sind Übungen, die bei der Unterscheidung innerer Regungen helfen und den Exerzi­tanden ermutigen, mit Blick auf Gott das je neue „Leben zu wählen“ (Dtn 30,15–20).

Elemente ignatianischer Exerzitien

Wer ignatianische Exerzitien macht, hat sich zunächst auf einen äuße­ren Rahmen einzulassen. Ignatius betont hier verschiedene Aspekte: Der Exerzitand soll sich für einige Zeit aus seinem gewohnten Umfeld in die Stille zurückziehen. Ist dieser Schritt getan, soll er mit der inneren Haltung von „Großmut“ und „Offenheit“ (EB 5) in die Übungen eintre­ten. Er soll täglich mindestens fünf Stunden beten und regelmäßig mit einem Begleiter über seine Erfahrungen sprechen (EB 6). Darüber hin­aus soll er täglich am Gottesdienst teilnehmen (EB 20). Die Exerzitien können zwei bis dreißig Tage dauern. Die inhaltlichen Schwerpunkte sind der jeweiligen Situation des Exerzitanden anzupassen (EB 18–19). Sie umfassen Betrachtungen des eigenen Lebens, aber auch und vor allem Meditationen einzelner Ereignisse aus dem Leben Jesu, wie sie uns in der Heiligen Schrift überliefert sind. Wer sich auf diesen Rahmen einlässt, kann mit ignatianischen Exerzitien beginnen.

Lectio divina als geistliche Übung (Exerzitien)

Wie betet man nun mit biblischen Texten oder besser gesagt: Wie betet man biblische Texte? Ignatius hat hier vieles von dem Kartäusermönch Ludolf von Sachsen gelernt. Eine Methode, mit der man zur Zeit des Ignatius vor allem in den Klöstern die Bibel gelesen hat bzw. betend mit der Heiligen Schrift umgegangen ist, ist die Lectio divina. Wörtlich über­setzt heißt Lectio divina „göttliche Lesung“. Sie ist uns heute auch als „betende Lesung“, „meditative Lesung“, „geistliche Lesung“ oder als „hörende Lesung“ bekannt. Über die Wüstenväter und die frühen Kir­chenväter fand diese Art der Schriftlesung Eingang ins Mönchstum. Die Lectio divina ist „die Leiter der Mönche, durch die sie von der Erde in den Himmel hinaufgeführt werden“ (Guigo, Scala claustralium I), wie der Kartäusermönch Guigo sagt. Auch für Benedikt von Nursia (480–547), den Gründer des Benediktinerordens, ist die Lectio divina von besonderer Bedeutung. Sie ist ein wesentlicher Teil der täglichen benediktinischen Gebetspraxis. „Müßiggang ist der Seele Feind“, heißt es in der Regula Benedicti (RB). „Deshalb sollen die Brüder zu bestimm­ten Zeiten mit Handarbeit, zu bestimmten Stunden mit heiliger Lesung beschäftigt sein“ (RB 48,1).

Die fünf Schritte der Lectio divina

Wie praktiziert man die Lectio divina als geistliche Übung? Die Antwort darauf ist einfach. Ignatius empfiehlt zunächst, einen Zeitrahmen (eine Stunde) festzulegen und einen Ort, wo man die Lectio divina halten will. Ist dies geschehen, stellt man sich mit einem Vorbereitungsgebet auf die beginnende Gebetszeit ein. Man schlägt die Bibel auf und be­ginnt, langsam und aufmerksam zu lesen (lectio). Die Lesung kann still geschehen oder halblaut, indem man vor sich hin murmelt. Wenn einen beim Lesen ein Wort, ein Satz, eine im Text genannte Person oder eine Begebenheit anspricht und dies im Inneren eine Empfindung – eine Resonanz – hinterlässt, legt man die Heilige Schrift beiseite und lässt das Gelesene in sich nachklingen. An dieser Stelle kann man sich besin­nen und das Gelesene mit Blick auf seine Bedeutung auf das eigene Le­ben übertragen (meditatio). Einsichten, Empfindungen und Vorstellun­gen münden dann ins Gebet (oratio), das heißt ins Gespräch mit Gott. Wenn man merkt, dass die Aufmerksamkeit nachlässt und die Gedan­ken abschweifen, greift man von neuem zur Bibel und liest weiter, bis wieder ein Gedanke oder eine innere Regung aufsteigt. Wenn die Begeg­nung mit dem Wort Gottes in die verweilende Schau des Gegenwärtigen führt, braucht man nicht mehr weiterzugehen. Dann verweilt man in der Gegenwart des Herrn (contemplatio), verkostet die Dinge von innen her (EB 2) und überlässt sich ganz der Initiative Gottes. Am Ende der Gebetszeit hält man eine Art Rückblick und fragt sich, was einem beson­ders wichtig geworden ist und was vielleicht in einer sich anschließen­den Gebetszeit weiter vertieft werden kann. Im Wesentlichen umfasst die Methode der Lectio divina also vier Schritte: Lesung (lectio), Betrach­tung (meditatio), Gebet (oratio), schauendes Verweilen in der Gegenwart Gottes (contemplatio). Sollten sich dabei konkrete Handlungsoptionen abzeichnen, könnte man diese vor Gott nochmals ernsthaft bedenken und gegebenenfalls entsprechende Entscheidungen treffen (actio).

Lectio divina als „interpersonaler Akt“

Wer die Lectio divina praktiziert, wird schnell entdecken, dass dieser Umgang mit der Bibel einen ganz eigenen Akzent hat. Oft wurde diese Art der Schriftlesung mit einem Kommunikationsgeschehen verglichen, das der Trappist Michael Casey treffend als „interpersonaler Akt“ be­zeichnet hat (Casey 2009, 30). Bei der Lectio divina erfährt sich der Exer­zitand in gewisser Weise als ein Zeitgenosse der im Text beschriebenen Personen oder Umstände. Er ist überall wirk‑lich dabei, so als wäre er ein Teil längst vergangener Ereignisse. Selbstverständlich handelt es sich dabei um eine imaginierte Gleichzeitigkeit und Gleichörtlichkeit. Damit aber nicht genug. Bei der Lectio divina wird der Exerzitand auch in den Horizont der Erfahrungen der im Text beschriebenen Personen hinein­gestellt. Die Freude des Petrus kann zur Freude des Exerzitanden wer­den; das Staunen der Maria kann sein Staunen werden; die Angst der Jünger kann seine Angst werden; das Vertrauen Jesu kann sein Ver­trauen werden; alle Erfahrungen, von denen die Bibel berichtet, können seine Erfahrungen werden. „Die Evangelien stellen den Menschen Christus vor Augen, Sein Leben, Seine Gefühle. Sie helfen uns, das Leben Jesu von Seiner Geburt im Stall zu Betlehem bis zu Seinem Tod und Seiner Auferstehung zu betrachten. Auf diese Weise fühlen wir uns mit Seinem Leben vereint“, sagt Robert Kardinal Sarah (Sarah/​Diat 2017, 64 f.). Auch wenn bei der Lectio divina der wissenschaftliche Dis­kurs nicht ausgeblendet wird, gilt es dennoch festzuhalten, dass es sich bei dieser Art von Schriftlesung in erster Linie nicht um eine exegeti­sche Auseinandersetzung mit biblischen Texten handelt, sondern um einen Weg, wie man sich biblischen Texten existenziell nähern kann. So sagt Wilhelm von Saint Thierry: „Die Schrift muss im gleichen Geist gelesen und verstanden werden, in dem sie verfasst wurde. Du kannst Paulus nie verstehen, wenn du nicht beim Lesen durch die gute Mei­nung und bei der Meditation durch Sorgfalt und Eifer von seinem Geist trinkst. Du wirst David nie verstehen, wenn du dir nicht durch die eigene Erfahrung die Gefühle zu eigen machst, die in den Psalmen in Worte gefasst sind. So ist es auch mit den anderen Büchern. Was die Schrift betrifft, so unterscheidet sich sorgfältiges Lesen so sehr vom oberflächlichen Verständnis, wie die Freundschaft vom Kennen eines Fremden oder die Zuneigung zu einem Gefährten von einem zufälligen Gruß“ (zitiert nach Casey 2009, 31).

Lectio divina und Resonanz

Lectio divina ist also nicht nur wissenschaftliche Exegese. Lectio divina ist auch kein forschendes Grübeln. Lectio divina ist vielmehr ein Um­gang mit der Bibel, der uns konkret und persönlich in die Nähe mit Gott führt. Nicht das rationale Verstehen steht dabei im Mittelpunkt, son­dern das Hören und das meditative Aufnehmen des Wortes Gottes. Es geht um ein Verstehen mit dem Herzen, ein Verstehen, das aus der Stille in uns entsteht und eine Resonanz in uns hinterlässt, ein gebetetes Verstehen – ein persönliches Ergriffenwerden vom biblischen Text, von seinem Geheimnis und seiner Verheißung. Dabei lassen wir „Gott zu uns sprechen und ihn im Herzen wirken, statt uns selbst die Medizin einzuflößen, von der wir glauben, sie werde uns helfen“ (Casey 2009, 29). Der Umgang mit biblischen Texten geschieht bei ignatianischen Exerzitien genau auf diese Weise. Der Exerzitand wird mit der dem biblischen Text zugrundeliegenden Wirklichkeit in Kontakt gebracht und lässt sich auf das im Text überlieferte Geschehen ein. Er ist einge­laden, das Gelesene mit den inneren Sinnen zu hören, zu sehen, zu schmecken, zu riechen und zu ertasten und immer wieder sich auf sich selbst zurückzubeziehen, „um irgendeinen Nutzen aus einem jeden dieser Dinge zu ziehen“ (EB 108). Wenn Jesus zum Beispiel seine Jünger aussendet, um das zu tun, was er getan hat, kann der Exerzitand, nach­dem er den Text langsam und achtsam gelesen hat, etwas zurücktreten und sich dann die Szene und den Ort imaginativ ausmalen. In einem Schritt des meditativen Abwägens und Besinnens kann er sich in seiner Vorstellungskraft in die Szene hineinbegeben und selbst einer der Jün­ger Jesu werden. Er wird dann von Jesus beauftragt und ausgesandt. Nun kann der Exerzitand einen Schritt weitergehen. Er kann sich fragen: Was empfinde ich, wenn ich von Jesus ausgesandt werde? Was geht mir durch Kopf und Herz? Was will ich mit Jesus oder/​und den Jüngern be­sprechen, was will ich tun und wie will ich mich verhalten? Den „Schau­platz“ auf diese Weise zu bereiten, ist fantasievoll und sehr lebendig. Das ist bewusst gewollt.

Von der Resonanz zur Sendung

Viele Menschen suchen heute solch einen erfahrungsbezogenen Kontakt mit Gott. Wer sich auf diesen Weg einlässt, macht – christlich gespro­chen – die Erfahrung, dass die vielen Worte und Gedanken immer weni­ger werden. Dabei wird er zum Hörenden. Sein ichbezogenes Wollen, Denken und Tun kommt langsam zu einem Ende. Wenn dies eintritt, erkennt der Exerzitand, dass er von einer unverfügbaren Lebensmacht, der Gegenwart des Wortes Gottes, umhüllt und ergriffen ist. Dann ist auch der Moment gekommen, die Bibel beiseitezulegen, um die Freu­den „himmlischer Süßigkeit“ (Guigo, Scala claustralium X) von innen her zu verkosten und sich diesen vorbehaltslos anzuvertrauen. „Nicht das Vielwissen sättigt die Seele, sondern das Verspüren der Dinge von innen her“, schreibt Ignatius von Loyola. Diese Erfahrung ist gar nicht so selten; außergewöhnlich ist sie schon gar nicht. Wer sie macht, der kommt jedenfalls einer geistlichen Grundeinsicht nahe, die sich auch im Umgang mit der Bibel immer wieder bestätigt und für die geistliche Erneuerung eines jeden von uns heute von elementarer Bedeutung sein kann. Am Ende der Lectio divina verlässt man sozusagen bewusst die Szene, in die man beim Lesen hineinverwoben wurde, und kommt zurück ins konkrete Hier und Jetzt. In der Stille lässt man das Gelesene noch einmal nachklingen. Ignatius vergleicht dies mit einem Gespräch, das zwei Freunde miteinander führen (EB 54). Dabei geht es am Ende der Lesung vor allem darum, noch einmal bewusst auf die innere Reso­nanz zu lauschen, die sich bei der Lectio divina eingestellt hat, sie gelten zu lassen, abzuwägen und daraus gegebenenfalls konkrete Handlungs­schritte abzuleiten. Exerzitien – im Sinne des Ignatius von Loyola – macht man niemals einfach nur für sich selbst. Exerzitien sind geist­liche Übungen, die letztlich dazu helfen, tiefer und entschiedener an der Sendung Jesu, das heißt am Dienst am Nächsten, teilzuhaben und sich in Verantwortung nehmen zu lassen bei der Gestaltung der Gesellschaft und der Welt.

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt. Die Angaben beziehen sich auf beide Geschlechter.