Entwicklung einer partizipativ geteilten Vision – Impulse des Pastoralinstituts Bukal ng Tipan, Philippinen
Viele pastorale Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger lernten in den letzten Jahren durch die Teilnahme an Erkundungsreisen auf die Philippinen und durch die Teilnahme an Summerschools in Deutschland das Team des Pastoralinstituts Bukal ng Tipan unter Leitung von Father Marc Lesange und Dr. Estela Padilla kennen. Unterschiedlich waren die Erwartungshorizonte und die Lernerfahrungen, die die einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten. Vermutlich alle Beteiligte standen aber vor der Herausforderung, Veränderungsprozesse zu Hause gestalten zu wollen oder zu müssen.
Die Impulse zur Visionserarbeitung in Prozessen sollen in diesem Artikel im Zentrum stehen. Es wäre aber eine unzulässige Reduzierung, die Tätigkeit des Instituts auf dieses Themenfeld zu verkürzen. Vielfältig sind die Beiträge auch in den Bereichen Liturgie, Spiritualität, Ekklesiologie und Pastoralorganisation. Das Team des Pastoralinstituts begleitet Bistümer auf den Philippinen und im asiatischen Raum in Veränderungsprozessen und kann dabei auf vielfältige Erfahrungen sowie theologische, pädagogische und psychologische Kompetenzen der Teammitglieder zurückgreifen. Wichtig ist den Institutsmitgliedern immer die Botschaft, dass die Lerninhalte kapiert und nicht kopiert werden müssen. Die Inkulturation in den jeweiligen eigenen Arbeitszusammenhang muss jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer selbst leisten. Eine einfache Übertragung schließt sich nicht nur aufgrund des asiatischen Kulturraumes aus, sondern ist auch ein Widerspruch zu Basiseigenschaften der Prozesse, die sich mit den Vokabeln shared vision und maximum participation beschreiben lassen.
I. Von welcher Vision sprechen wir?
Begriffe wie Partizipation und Vision werden heute in der Pastoralorganisation auch in Deutschland thematisiert. Das oft zitierte Diktum des verstorbenen Bundeskanzlers Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, hat offensichtlich seinen Schrecken verloren. So fragen u. a. die Autoren des Dokuments „Gemeinsam Kirche sein“ der Deutschen Bischofskonferenz: „Welche Vision von der Kirche gibt uns Lumen gentium mit auf den Weg, wenn es von der gemeinsamen Berufung aller in der Kirche spricht?“ (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2015, 11). Auch die vielfach erstellten Pastoralkonzeptionen in unterschiedlichen Bistümern beginnen in der Regel mit der Vorstellung einer Vision.
Ähnlich liest man in Leitbildern von Unternehmen oder Einrichtungen zu Beginn oft von Unternehmensvisionen. Die Vision dient im Bereich der Strategieplanung von Unternehmen der klaren Ausrichtung der Ziele und Maßnahmen und ist grundsätzlich mit eigenen Mitteln erreichbar. Im Kontext der Gemeindeberatung und Organisationsentwicklung wird mit einem ähnlichen Visionsbegriff gearbeitet, denn mit Hilfe dieser Vision können in weiteren Prozessschritten gerade angesichts begrenzter Ressourcen Entscheidungen gefällt werden. Die Vision ist dann die Messlatte: Dient dieses Ziel der Vision? Bringt uns diese Maßnahme näher an die Verwirklichung unserer Vision heran? Es ist daher unabdingbar, sich in strategischen Prozessen zunächst der Frage nach der Vision zu stellen, da sie eine Zielorientierung erst ermöglicht. Die Qualität der Vision prägt den gesamten Prozess. Eine zündende Vision motiviert und trägt durch Durststrecken in Prozessen. Sie hilft, die richtigen Handlungsschritte anzuschließen und Veränderungen zielgerichtet anzugehen.
Der Auftrag, sich überhaupt Prozessen dieser Qualität zu stellen, ist dabei nicht nur unserer deutschen Kirchensituation geschuldet: „Die Seelsorge unter missionarischem Gesichtspunkt verlangt, das bequeme pastorale Kriterium des ‚Es wurde immer so gemacht‘ aufzugeben. Ich lade alle ein, wagemutig und kreativ zu sein in dieser Aufgabe, die Ziele, die Strukturen, den Stil und die Evangelisierungsmethoden der eigenen Gemeinden zu überdenken. Eine Bestimmung der Ziele ohne eine angemessene gemeinschaftliche Suche nach den Mitteln, um sie zu erreichen, ist dazu verurteilt, sich als bloße Fantasie zu erweisen“ (Evangelii gaudium 33).
II. Geteilte Vision – Maximale Partizipation
Papst Franziskus hat im oben erwähnten Zitat auch bereits einen Hinweis gegeben, wie eine Vision heute entwickelt werden muss, damit Veränderung ermöglicht wird: gemeinschaftlich. Father Marc Lesange, Gründer des Pastoralinstituts Bukal ng Tipan in Manila, erläutert Teilnehmerinnen und Teilnehmern der unterschiedlichen Fortbildungen des Instituts autobiografisch, wie er in einem schmerzlichen Prozess – der ihn persönlich auch in eine schwere Krise führte – zu der Erkenntnis gelangt ist, dass es nicht ausreicht, nur mit sich selbst oder einer kleinen Gruppe eine Vision zu entwickeln (sei diese auch noch so genial) und dann den Pfarreimitgliedern zu kommunizieren. Immer wieder scheiterte er bei der Verwirklichung seiner Vision einer nachkonziliaren Kirche, denn sie wurde stets nur als Vision des Pfarrers wahrgenommen, bei der man mit‑geht. Ähnliche Erfahrungen könnten sicherlich auch im deutschen Kontext zahlreiche pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berichten. In Father Marc reifte schließlich die Erkenntnis, dass nur eine maximale Beteiligung sein Dilemma lösen kann. In zahlreichen Begleitprozessen im asiatischen Kontext hat das Pastoralinstitut vielfältige Methoden zu einem Visionsprozess unter maximaler Beteiligung entwickelt. Die Grunderkenntnis, die dabei leitend ist, lautet: Nur eine Vision, die unter einer möglichst großen Beteiligung entstanden ist, wird anschließend auch handlungsleitend, da nur so die Sprache und die Anliegen der Menschen vor Ort sich widerspiegeln und die Vision einer umfassenden Sicht auf die lokalen Bedingungen gerecht wird.
Ähnliche Entwicklungen sehen wir in anderen Bereichen der Wirtschaft und der Gesellschaft, hier oft verbunden mit Schlagwörtern wie Web 2.0, Prosumer oder Open Innovation. Kennzeichen sind jeweils, dass eine passive Rolle (Konsument) verlassen wird zugunsten einer aktiven Beteiligung, die dann zu optimalen Ergebnissen führt, im unternehmerischen Kontext: geringster Verlust bei größtmöglicher Innovation (vgl. Fritsch 2012).
Der Impuls zur maximalen Beteiligung ist im kirchlichen Kontext nicht das modische Folgen eines aktuellen Trends, sondern gründet im Wesen der Kirche als Communio oder griechisch Koinonia, was im antiken Sprachgebrauch zunächst „Teilhabe“ bedeutete. Communio, vorgebildet in der Gemeinschaft des dreieinigen Gottes, dessen innertrinitarisches Geschehen sicherlich die höchste Form von Partizipation abbildet, ist das Wesensmerkmal der Kirche. Communio wird dabei auch außerhalb der Liturgie vielfältig bereits erfahrbar und ist doch auch immer wieder Aufgabe der Pastoralpraxis. Oder wie es „Gemeinsam Kirche sein“ im Anschluss an Papst Benedikt XVI. bei der Pastoraltagung der Diözese Rom am 26. Mai 2009 formuliert: Die Christgläubigen sind dann nicht mehr einfach Mitarbeiter des Klerus, sondern „‚mitverantwortlich‘ für Sein und Handeln der Kirche“ (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2015, 39).
So fragt der Beteiligungsprozess, wie ihn das Pastoralinstitut Bukal anleitet, nicht nach der Leistung, die der/die einzelne Gläubige für die Gemeinschaft bereits erbracht hat, um dann zu ermessen, wie viel Mitwirkungsrecht er/sie hat. Vielmehr werden alle mit Instrumenten wie Befragungen aller (!) Nachbarn in einem Viertel einbezogen. In einfachen Fragen wird zunächst nach der „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ (Gaudium et spes 1) gefragt. Auf diese Weise wird sowohl die Würde und Berufung jedes/r Getauften als auch die Sendung der Kirche zum Heil der Menschen ernst genommen. Die Antworten sind die Basis der Vision vor Ort und werden in verschiedenen Beratungsschleifen bis zur Bistumsvision weitergetragen. Wichtig ist dem Begleitungsteam dabei, dass die Sprache der Antworten erhalten bleibt, denn nur so können die Beteiligten sich wiedererkennen und das Problem einer kirchlichen Binnensprache erübrigt sich. Es entsteht eine Vision, die nicht mitgegangen wird, sondern die geteilt wird, denn sie basiert auf der gemeinsamen Arbeit und Wahrnehmung der Realität vor Ort und zeigt das gemeinsame Ziel für die Zukunft an.
Die Befragungen werden dabei nicht durch das Institut oder andere Organisationen vorgenommen, sondern durch zuvor geschulte Zweierteams aus der Pfarrei. Eine Person führt dabei das Gespräch, die zweite Person hört zu. Vor der Haustüre werden nach dem Gespräch dann in einem Fragebogen die Antworten notiert, sodass für den Gesprächspartner nicht der Eindruck entsteht, einen Fragebogen abarbeiten zu müssen. Durch diese Vorgehensweise geschieht zugleich Kontaktaufnahme und erste Beziehungen werden geknüpft. Die besuchten Bewohner des Viertels nehmen wahr, dass sich hier jemand für ihre Probleme und Fragen interessiert. Diese Antworten fließen später in die Erarbeitung der Ziele und Maßnahmen ein.
Auf diesem Teil der strategischen Prozesse liegt auch zeitlich der Schwerpunkt. Unverzichtbar sind für das Team des Pastoralinstituts dabei die verschiedenen „Schulungs“-Maßnahmen, die den Prozess begleiten, wobei das Wort deutsche Wort „Schulung“ nur unzureichend den englischen Begriff formation wiedergibt. Schulung oder Bildung ist hier im wirklich umfassenden Sinn gedacht. Die Prozessbeteiligten vor Ort gehen einen gemeinsamen Weg der Bewusstwerdung ihrer Berufung und Sendung aus Taufe und Firmung. Sie erleben und üben ein, was es heißt, Verantwortung für die Entwicklung der Kirche vor Ort zu übernehmen. Integrale Bestandteile dieses „Bildungsprozesses“ sind dabei Elemente wie Bibelteilen oder kreative Liturgien, denn es gibt nicht zwei Prozesse: einen Organisationsprozess und daneben einen geistlichen Prozess. Schulungsveranstaltungen sind in Methoden des Bibelteilens integriert, Meilensteine im Prozess werden in liturgischer Form gefeiert, den Beginn des Prozesses bilden Exerzitien für die Verantwortlichen und eine Versöhnungsliturgie für die Gemeinschaft, damit Neues wirklich wachsen kann.
III. Erfahrungen in Deutschland
Durch die verschiedenen Begegnungsmöglichkeiten sowie Veröffentlichungen u. a. von Dr. Estela Padilla, Dr. Christian Hennecke und Gabriele Viecens sind die ganzheitlichen Ansätze und Methoden auch im deutschsprachigen Kontext bekannt geworden.
Einige Elemente können dabei leicht an hiesige Erfahrungen anknüpfen. So kennen in Deutschland viele Gemeinden entsprechende Methoden, die an die Nachbarschaftsbefragung erinnern, aus dem Bereich der Sozialraumorientierung, wie es insbesondere die Caritas seit Jahren fördert. Auch die Gestaltung des Bibelteilens ist vielfach bekannt. Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse geistlich zu gestalten, ist das Anliegen auch der durch Ignatius von Loyola inspirierten Ansätze wie „Salz in der Gruppe“ oder ESDAC (Exercices Spirituels pour un Discernement Apostolique en Commun) sowie verschiedener durch die Schönstatt-Bewegung inspirierter Methoden. Jedoch kann man immer wieder beobachten, dass diese Elemente an vielen Stellen unverbunden nebeneinanderstehen oder ihre Erkenntnisse und Erfahrungen nicht für eine umfassende Pastoralplanung genutzt werden. Oft setzen Prozesse in unserem Kontext scheinbar auch theologische, spirituelle oder organisationstheoretische Vollprofis voraus, die dann vor Ort nur kurze Phasen der Begleitung anbieten können und in ihrer Nachhaltigkeit eingeschränkt sind. Mit Hilfe der Impulse und der kritischen Begleitung durch das Team aus Bukal ng Tipan haben sich im deutschsprachigen Raum vielfältige Netzwerke gebildet. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer tragen Verantwortung für die Pastoral auf sehr unterschiedlichen Ebenen. Sie sind aber überzeugt, im weltkirchlichen Kontext eine Lernerfahrung gemacht zu haben, die geeignet ist, Hilfestellung zu geben bei der Suche nach Antworten auf die Herausforderungen der Pastoral im deutschsprachigen Raum.
Für mich waren die Erfahrungen Grundlage meiner Impulse für die Basiskonzeption der Pfarreibegleitungsprozesse im Bistum Essen. Unter schwierigen Bedingungen (Personalzahlen, finanzielle Ressourcen), aber ermutigt durch ein im Dialogprozess entstandenes Zukunftsbild sind die Pfarreien verpflichtet, eine Pastoralkonzeption zu erstellen, die ausgehend von ihrer Vision über Ziele und Maßnahmen ihre Zukunft beschreibt. Im Unterschied zu vorherigen Prozessen ist keine zentrale Entscheidung gefallen, die vor Ort bewertet und durch Eingaben vielleicht korrigiert werden kann. Vielmehr sind Ressourcen für einen Prozesszeitraum bereitgestellt worden, sodass die lokale Verantwortung der Getauften wirksam werden kann. Mit verschiedenen Veröffentlichungen wurden die verantwortlichen Gremien ermutigt, möglichst viele Menschen vor Ort in diese Visionserstellung einzubeziehen (vgl. www.bistum-essen.de/info/pfarreien-gemeinden/pfarreientwicklungsprozess/).
In einem völlig anderen Kontext stehen wir mitten in einem solchen Prozess: Das Seelsorgeamt des Erzbistums Freiburg ist eine Einrichtung, für die ca. 320 Frauen und Männer in sehr unterschiedlichen Funktionen (Bildungsreferentinnen, Servicekräfte in Bildungshäusern, Drucker …) zentral und dezentral arbeiten. Ähnlich wie in den Seelsorgeeinheiten des Erzbistums Freiburg soll hier bald ein Qualitätsmanagementprozess – angelehnt an die Kriterien der European Foundation for Quality Management (EFQM) – beginnen. In der Vorbereitung wurde schnell deutlich, dass u. a. das Leitbild des Seelsorgeamtes einer Überarbeitung bedarf. Ausgehend von der gemeinsamen Reflexion der Leitungskonferenz zur Kundschaftererzählung im Buch Numeri (Num 13) wurde ein erster Entwurf zur Vision erarbeitet und den Mitarbeitenden zur Diskussion vorgestellt. Gleichzeitig wurde eine Mitarbeitendenbefragung vorbereitet in vorsichtiger Analogie zur Nachbarschaftsbefragung. Hier wurden wichtige Impulse für eine Weiterarbeit erhoben. Da das Seelsorgeamt im Auftrag des Erzbischofs handelt, werden die am 29.06.2017 veröffentlichten Diözesanen Leitlinien einen weiteren Beitrag zum Leitbild geben. Sicherlich können wir daher nicht für uns im Seelsorgeamt den Anspruch einer maximalen Partizipation in unserem Visionsprozess erheben. Ziel bleibt jedoch eine shared vision. Durch verschiedene Maßnahmen der Beteiligung in Themenfeldern des Visionsentwurfes z. B. aktuell bei der im Entwurf formulierten Dienstgemeinschaft und den aus der Mitarbeitendenbefragung ermittelten Themenfeldern Personalentwicklung oder Führungskultur wird eine neue Beteiligungskultur anfanghaft greifbar. Neu eingeführte monatliche „Mittagsimpulse“ lassen die spirituelle Basis unseres Dienstauftrages für alle sichtbar werden. Das Leitbild, das zunächst nur vorläufig im vergangenen Jahr in Kraft gesetzt wurde, wird nun diesen Sommer mit den Rückmeldungen der verschiedenen Beteiligungsformate und der Diözesanen Leitlinien überarbeitet und dann für fünf Jahre in Kraft gesetzt. Es ist sicherlich nur ein kleiner Beitrag zu einer Kirche der Beteiligung, doch können auch wir feststellen – ähnlich wie viele Gemeinden, die sich hier auf den Weg gemacht haben –, dass die Kultur sich verändert und die gemeinsame Arbeit eine neue Qualität bekommt.