Die Lebensführungstypologie
Eine integrative Typologie der Lebensführungen in der BRD
1. Einleitung
Die Lebensführungstypologie geht auf sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung von Gunnar Otte in den frühen 2000er Jahren zurück. Sein Forschungsanliegen war, die vielfältige Landschaft unterschiedlicher akademischer und nicht-akademischer Lebensstilmodelle, deren Struktur, Erklärungskraft und sozialwissenschaftliche Grundierung in den Blick zu nehmen, um ein integratives und vor allem frei verfügbares Lebensstilmodell zu entwickeln. Es geht also nicht um ein neues Produkt auf dem Markt der Lebensstilmodelle, sondern es handelt sich eher um ein Meta-Modell. Aus den vielen Desideraten, die Otte in der Sekundäranalyse von nahezu 30 Modellen ermittelt hat, ergaben sich neue Eigenschaften: Die Typologie ist frei verfügbar und replizierbar. Sie ist zudem unabhängig von Erhebungszeit und Erhebungsraum. Die Milieuzuordnung ist zudem unabhängig von der Stichprobenzusammensetzung und vom Zuordnungsalgorithmus des Statistikprogramms. Damit wird kumulative Forschung möglich, weil das Instrument in unterschiedlichen Forschungszusammenhängen immer die gleichen Eigenschaften misst. Viele Modelle waren bis dahin zudem eher theoriearm: Wie entstehen soziale Milieus? Wohin entschwinden oder diffundieren sie? Welche Logik steckt in der Alltagsinszenierung der Menschen?
Das Modell von Otte aus dem Jahr 2005 ist von der Datenbasis und hinsichtlich der Variablen „in die Jahre gekommen“. Daher haben wir (die Autoren dieses Beitrags) das Modell einem Relaunch unterzogen, um ein aktualisiertes und differenzierteres Modell zu entwickeln. Dabei haben wir die sozialwissenschaftliche Architektur, die Gunnar Otte entwickelte, nahezu komplett beibehalten und neu operationalisiert.
2. Sozialwissenschaftliche Theorie
Die Lebensführungstypologie beschreibt modellhaft einen zweidimensionalen sozialen Raum. Die horizontale Achse beschreibt den Grad der individuellen Modernität in Abhängigkeit von Lebensalter und sozialer Herkunft (Generation). Die vertikale Achse berücksichtigt den subjektiven Umgang des Individuums mit den Ressourcen „Bildungsgrad“ und „ökonomisches Kapital“ (Einkommen, Vermögen). Diese Dimensionalität zeichnet zahlreiche Lebensstilmodelle aus. Beide Dimensionen lassen sich mit einschlägigen sozialwissenschaftlichen Theorien grundieren:
(1) Bezüglich des Lebensalters gilt: Der Lebenslauf in einem Wohlfahrtsstaat ist nach Martin Kohli, einem schweizerischen Soziologen, mindestens dreigeteilt: in eine Phase der biografischen Offenheit (Jugend/Junge Erwachsene), in eine Phase der biografischen Konsolidierung und Etablierung (Erwerbsphase) und in eine Phase der biografischen Schließung (Ruhestandsphase). Umbrüche und Unregelmäßigkeiten sind hierbei berücksichtigt. Jede Phase provoziert individuelle Investitionen: in Neues (Offenheit), in Orientierung und Bindung (Konsolidierung), hinsichtlich einer Neuorientierung und Klärung (Etablierung) und hinsichtlich Konservativismus und Ordnung (Schließung). Jede Phase korrespondiert auch mit der sozialen Herkunft des Individuums: die Nachkriegsgeneration mit ihren Pflicht- und Akzeptanzwerten, die 68er-Generation bzw. die Babyboomer mit ihren Selbstentfaltungs- und Modernisierungswerten sowie die noch junge „Generation X“ und die Millennials mit ihren postmodernen Wertekonfigurationen und -samplings („Generation Y“). Hinsichtlich der Theorie und Erforschung des Wertewandels in Abhängigkeit von den Generationen ist vor allem der deutsche Soziologe Helmut Klages zu nennen. Die horizontale Achse in der Lebensführungstypologie nennen wir „Biografische Route/Modernität“.
(2) Bezüglich des Einkommens und des Bildungsgrades gilt: Beide Parameter werden vom Individuum als Kapitalien, als Ressourcen in den Lebensalltag „investiert“. Kulturelle Vorlieben kommen so zum Vorschein (volkstümliche, populäre, triviale oder hochkulturelle Schemata), ebenso Investitionen in einen anspruchsvoll-gehobenen, respektabel-strebenden oder kalkulierend-bescheidenen Lebensstil. Diese vertikale Achse, die sich stark auf die soziale Lage bezieht, nennen wir „Ausstattungsniveau“. Dieses Investitionsparadigma beruht auf den Theorien des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Er war auch einer der ersten Sozialwissenschaftler, die eine Art „sozialen Raum“ skizzierten – die Basis aller zweidimensionalen Lebensstilmodelle bzw. Milieulandkarten der Gegenwart.
3. Bestechende Einfachheit und Genauigkeit
Im Zusammenspiel beider Dimensionen (Biografische Route/Ausstattungsniveau) ergibt sich ein sozialer Raum aus 4 x 3 Einzelfeldern, den zwölf Lebensführungstypen. Die obige Grafik gibt die Lebensstile in der BRD in ihren prozentualen Anteilen und ihrer systematischen Anordnung im sozialen Raum wieder. Otte erkannte, dass ein großer Teil der knapp 30 Lebensstilmodelle, die seit Anfang der 1980er entwickelt worden sind (darunter die prominenten Modelle von Sinus, Sigma und Delta sowie das sozialwissenschaftliche Modell von Gerhard Schulze aus den frühen 1990er Jahren) die Idee des sozialen Raums aufgreifen, die Pierre Bourdieu Ende der 1970er Jahre formulierte.
Die Lebensführungstypologie wird mit nur 14 Variablen (sieben Variablen pro Dimension) berechnet. Jede Variable ist dabei ein Statement zu grundlegenden Werte- und Konsumbereichen. Die Auswahl der Variablen unterliegt dabei wichtigen Kriterien: Sie müssen in verschiedenen lokalen Zusammenhängen anwendbar sein und korrelieren im Idealfall mindestens moderat mit (ausschließlich) einer der beiden Dimensionen (Variable Alter, Bildung bzw. Einkommen). Sie sollten zudem ich‑bezogen formuliert sein und sich auf alltägliche bzw. ästhetisch-kulturelle Handlungszusammenhänge beziehen. Zugleich sollten sehr spezialisierte Variablen außen vor bleiben, denn sonst gerät ein Modell in Gefahr, Scheinkorrelationen zu produzieren. Ein Modell, dem ein Statement zur persönlichen Einstellung zum Umweltschutz zugrunde liegt, wird beispielsweise vorhersehbare Erkenntnisse innerhalb einer großen Umweltstudie produzieren.
Die Zuordnungsprozedur einzelner Fälle oder großer Stichproben ist kinderleicht: Mithilfe eines Summenindex pro Dimension (Ausstattungsniveau und Modernität/Tradition) wird eine genaue Zuordnung zu einer der zwölf Lebensstilgruppen möglich. Unschärfen durch Überlappungen sind ausgeschlossen. Gleichwohl werden Unschärfen sichtbar, weil es sich hinsichtlich des Antwortverhaltens in der Erhebungsphase um die subjektiveVerarbeitung der beiden Dimensionen handelt. Damit kann man im gehobenen Alter durchaus noch biografisch offene Lebensstile aufweisen bzw. im jugendlichen Alter bereits sehr traditionell sein.
Sowohl Einzelfälle als auch große Stichproben können über den Weg der Indexbildung einem der zwölf Typen klar zugeordnet werden. Unsere vielfältigen empirischen Erkundungen zeigen, dass die Typologie empirisch zuverlässig ist. Verschiedene Validierungsberechnungen dienten der feinen Justierung der zunächst hypothetisch formulierten Lebensstilbeschreibungen. Diese beruhen auf den Studien Ottes sowie auf korrespondierenden Lebensstilbeschreibungen anderer Modelle.
4. Vistenkarten der einzelnen Lebensstile
4.1 Lebensstile im anspruchsvoll-gehobenen Segment (obere Mittelschicht/Oberschicht)
Gehoben-Konservative (LFT01):
Tradition des Besitzbürgertums, Konservativismus, Distinktion durch Rang, Exklusivität im Lebensstandard, klassische Hochkultur, Leistungs- und Führungsorientierung, Verantwortung, Religiosität
Statusbewusst-Arrivierte (LFT02):
Tradition des Bildungsbürgertums, Liberalität, beruflich gesetzte Selbstverwirklichung (Angekommen-Sein), etabliertes Understatement, Hochkulturkonsum, teilweise mit alternativem Einschlag, Sinn für Authentizität und Kennerschaft im Konsum
Leistungsbewusst-Intellektuelle (LFT03):
Tradition der Postmoderne, junge, kulturell und akademisch geprägte Elite, Liberalität und Modernität, Umwandlung des Bildungskapitals in Hochkulturkonsum, in Leistungs- und Selbstverwirklichungswerte, Persönlichkeitsentfaltung: Erfolg im Beruf, Leistung und Individualität, kosmopolitisches Denken, hohe und umfassende Mobilität
Reflexive Avantgardisten (LFT04):
Kulturell geprägte akademische Avantgarde bzw. junger progressiver Mittelstand, Postmodernität, Kreativität und Machbarkeitsdenken, biografisch-berufliche Flexibilität, hohe Aktivität, ausgeprägtes Leistungsstreben, Hochkulturkonsum in Verbindung mit Spannungsmomenten, Authentizität durch Wertigkeit (Markenbewusstsein), Individualität, globalisiertes Lebensgefühl
4.2 Lebensstile im respektabel-strebenden Segment (bürgerliche Mittelschicht)
Solide Konventionelle (LFT05):
Tradition des Kleinbürgertums, Pflicht- und Akzeptanzwerte, Sicherheitsorientierung, Mainstream-Konsum mit punktuell hochkulturellem Anspruch, eher bürgerliche Moralvorstellung von einem guten Leben, solide Einkommens- und Eigentumsverhältnisse
Statusorientierte Bürgerliche (LFT06):
Tradition des modernen Bürgertums, d. h. die (älter gewordene) bürgerliche Mitte, Konformität in allen Lebensbereichen, Funktionalität durch Bequemlichkeit, Neuorientierung im beruflichen Leben, Neujustierung des Beziehungslebens, Statusbetonung, in Teilen Statusverunsicherung: Anschluss halten an die gesellschaftliche Oberschicht, Angst vor sozialem Abstieg
Bürgerlich-Leistungsorientierte (LFT07):
Tradition der Postmoderne, neue moderne Mittelschicht, junge Familien, Fokus auf solide berufliche Karriere, Partizipation am Mainstream der modernen Erlebnis- und Freizeitkultur, Symbiose von Selbstverwirklichung, Erfolg/Leistung und Familienzentriertheit
Expeditiv-Pragmatische (LFT08):
Primat des modernen Erlebniskonsums, Innnovation und soziales Eingebunden-Sein, moderates Leistungsdenken, pragmatisches Karrieredenken (Generation Y), idealistische Prägung, hohe Anpassungsfähigkeit
4.3 Lebensstile im kalkulierend-bescheidenen Segment (untere Mittelschicht/Unterschicht)
Limitiert-Traditionelle (LFT09):
Tradition der Facharbeit, Pflicht- und Akzeptanzwerte, Glaube und Religion, einfache Lebenslagen und stark eingegrenzte Aktionsradien (Heimzentriertheit, finanziell und gesundheitlich begrenzte Ressourcen), oftmals verwitwete Personen/Alleinstehende, dadurch wenig Teilhabe an gesellschaftlichen Leben, Sicherheitsdenken/-streben, Sinn für Bescheidenheit, Unauffälligkeit und Funktionalität
Defensiv-Benachteiligte (LFT10):
Tradition von einfacher (Dienstleistungs-)Arbeit, geringe Ressourcen verfügbar, insgesamt unterprivilegierter Lebensstil: geringer Aktionsradius, wenig Partizipation am gesellschaftlichen Leben, prekäre Lebenslagen, Defensivität als zentraler Habitus, traditionelle Geschlechterrollen, Distanz zur Hochkultur
Konsum-Materialisten (LFT11):
Prinzip des Erlebniskonsums in der Polarität von Arbeitsalltag (Kraft- und Facharbeit) und Entspannungsmomenten (häuslich und außerhäuslich), Distanz zu Hochkultur, Affinität zu spannenden Lebensmomenten moderner Massenkultur (Trivialkulturmuster)
Jugendkulturell-Unterhaltungsorientierte (LFT12):
Jugendkulturelle Szenen, teilweise mit Stilprotest, Erlebniskonsum und hedonistischen Werten (Vergnügen ohne Verantwortung), Offenheit für neue Entwicklungen als Lebensprinzip, Selbstverwirklichung und Individualität
5. Pastoraltheologisch-sozialwissenschaftliche Anwendungspraxis
Wir haben das Modell aufgrund unseres eigenen Bedarfs entwickelt und machen damit in unseren Forschungs- und Arbeitsfeldern äußerst positive Erfahrungen: Im Arbeitsbereich von Marko Heyse innerhalb der Arbeitsgruppe BEMA des Instituts für Soziologie der Universität Münster konnten erste Studien in repräsentativen bundesweiten Telefonbefragungen vorgenommen werden. Das Modell wurde auch im Rahmen des Münster-Barometers erprobt.
Die Lebensführungstypologie bildet ein wesentliches Tool in den Forschungsberichten zur Evaluation der Ausbildung von Seelsorgenden im Bistum Münster (Hauptabteilung Seelsorge-Personal im Bischöflichen Generalvikariat Münster in Kooperation mit dem ZAP Bochum). Mithilfe des Modells konnte das soziale Feld der Pfarrei mit ihren Gemeinden, Gremien und Verbänden präziser konturiert und kirchengeschichtlich belegt werden. Eine weitere wichtige Erkenntnis in diesem Forschungskontext ist, dass mithilfe dieses Modells gegenwärtig eine weitere zeitliche Etappe in der Pastoraltheologie und ‑praxis begründet werden kann: Während mithilfe des Sinus-Modells seit 2005 kirchliche Seelsorge angesichts der vielfachen Fusionsprozesse vor allem hinsichtlich einer Distributions- und Kundenlogik betrachtet wurde, führt die Anwendung der Lebensführungstypologie gegenwärtig zur Erkenntnis eines „diakonalen Turns“ in der Pastoralforschung mit dem Fokus auf die Entdeckung und Entwicklung vielfältiger kirchlicher Orte und Gelegenheiten innerhalb einer Pfarrei. Es scheint sich eine Trendwende vom fusionsbedingten Gemeinde-„Upgrading“ der 2000er Jahre hin zu einem „Downsizing“ (Bildung von Kommunitäten als eigenständige Formen und Variationen von „Gemeinde“) abzuzeichnen. Die Typologie entpuppt sich als hervorragendes Mittel zur Erklärung und Visualisierung dieser Befunde. Zudem ermöglicht sie den Blick auf lebensbegleitende Seelsorge: Die Linien im Modell kennzeichnen gewissermaßen die normativen Lebenswenden und ‑umbrüche, die Biografien kennzeichnen; die einzelnen Spalten innerhalb der horizontalen Dimension offenbaren Lebensaufgaben, denen sich ein Individuum im Wohlfahrtsstaat stellen muss.
Im Rahmen der Ausbildungsforschung konnte ebenfalls mithilfe der zur Verfügung stehenden Studiendaten die relevante Zielgruppe der 20- bis 29-jährigen Frauen und Männer sehr deutlich lebensstilistisch in den Blick genommen werden. Es zeigen sich signifikante Unterschiede in den Wertekonfigurationen zwischen religiös-gläubigen Katholiken im Vergleich zur gesamten Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen. Das hat Konsequenzen für Personalgewinnung (Berufungspastoral) und Personalausbildung. Ebenfalls konnten fundierte Sekundäranalysen hinsichtlich der hypothetischen Dynamik zwischen Stadt und Land (urbane Logik vs. Dorflogik) mit Blick auf Milieuverteilung und Seelsorge vorgenommen werden. Hierzu wurden eigens Erhebungen in Kooperation mit der Arbeitsstelle BEMA des Instituts für Soziologie vorgenommen. Die in der Pastoraltheologie diskutierten Unterschiede sind aus unserer Sicht deutlich in Frage zu stellen.
Über die Projektwebsite www.milieuforschung.de stehen die Arbeitshilfen für die Erhebung (Fragebogen) und Lebensstilzuordnung („Milieumatching“) zum Download bereit. Die Arbeitshilfen beinhalten weitere Informationen zu den Soziogrammen der einzelnen Lebensstilgruppen (Alter, Bildungsgrad, Einkommen, berufliche Stellung, Lebenssituation). Ebenfalls bietet die Website Grafikvorlagen bzw. ‑formulare für studienindividuelle Lebensstilgrafiken an, die heruntergeladen und in eigene Studienberichte gelayoutet werden können. Für den gehobenen Forscheranspruch testen wir Syntax-Dateien mit den Arbeitsbefehlen für SPSS, um auch diese für den Download bereitzustellen. Nicht zuletzt erarbeiten wir zugleich eine Art Add-on zur genaueren Bestimmung postmaterieller Lebensstile im Lebensstilmodell.