Auf ihm bestehen, nicht ihm verfallen
Die katholische Kirche auf dem religiösen Markt
1. Nach dem Konzil
Das II. Vatikanum kann als das Jahrhundertprojekt beschrieben werden, die Verpflichtung aufdie Tradition und die Verpflichtung zur Traditionsbildung wieder in ein kreatives Verhältnis zu bringen. Das war notwendig geworden, weil sich die katholische Kirche ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend der Verpflichtung entzogen hatte, den Glauben in die liberale Zivilisation der entwickelten Moderne zu inkulturieren, und sich stattdessen in einer intellektuellen und sozialen Institutionsfestung verbarrikadiert hatte. Man hatte zwei Schocks nicht wirklich verarbeitet: die Entmachtung der Kirche durch die moderne bürgerliche Gesellschaft und die Entdeckung der Geschichtlichkeit auch religiöser Institutionen und Positionen.
Genau diese zwei Verengungen hat das II. Vatikanum aufgebrochen: die Bindung an die Macht im Staate wie die Bindung an eine philosophische Position, die Geschichtlichkeit mit Relativismus und mangelnder religiöser Authentizität verband. Ersteres führte zu Durchbrüchen wie der Anerkennung von Religionsfreiheit, Menschenrechten und Ökumene als genuine Konsequenzen des Evangeliums selbst. Ohne diese Durchbrüche stünde die katholische Kirche zur Gänze dort, wo sie heute praktisch nur noch in der Genderfrage steht: im Schmollwinkel der Weltgeschichte.
Der andere Durchbruch, jener, der die Mauer des pianischen Dispositivs der Dauer durchbrach, startete mit Dei verbum und hat seinen Höhepunkt in Gaudium et spes und dessen grundlegendem Gedanken, dass das konkrete solidarische Handeln der Kirche in der Welt von heute der Ort ist, an dem sich die Präsenz des Evangeliums zeigen und bewähren muss und auch bewähren kann. Diese „pastorale“ oder, philosophisch gesprochen, „pragmatische Wende“ des II. Vatikanums ist sein „dogmatischer Fortschritt“ (Elmar Klinger): Darin ist es ein wirklicher Neuanfang der Kirche der Moderne.
Genau genommen stehen wir immer noch an diesem Anfang, niemand macht das deutlicher als Papst Franziskus, denn er hat sich offenbar vorgenommen, ihn endlich zu überschreiten.
2. Auf dem Markt
Wo aber startet der aktuelle Neustart des Konzils? Die „Welt von heute“, wer beherrscht sie?
Die Welt von gestern beherrschte der (National-)Staat. Zu ihm mussten sich die Kirchen der Neuzeit in Beziehung setzen, er war ihr großes Problem. Denn er beansprucht Souveränität, reklamiert, eine eigene, unhinterfragbare Gewalt zu sein und der höchste Ort politischer Entscheidungen.
Die katholische Kirche konstituierte sich in Reaktion zum neuzeitlichen Staatsabsolutismus analog selbst als absolutistischer Staat, das Theorem hierfür lieferte Bellarmin mit der Souveränitätskategorie „societas perfecta“. Der Protestantismus aber konstituierte sich als die Kirche der neuen Staaten, also staatsaffin. Beide kommen damit gegenwärtig nicht mehr wirklich weiter.
Denn das große Problem der Kirchen der Gegenwart ist nicht mehr der Staat, sondern der kulturell hegemoniale Kapitalismus. Er besitzt heute Souveränität, reklamiert, eine eigene, unhinterfragbare Gewalt zu sein, und ist de facto der höchste Ort politischer Entscheidungen. Sein Erfolgsrezept: Er steuert nicht über Gehorsam, sondern über Sehnsuchtsproduktion und Wunscherfüllung, nicht extrinsisch, sondern intrinsisch.
Kulturell hegemonialer Kapitalismus meint nicht nur, dass sich die Logik und die Mechanismen des Marktes in immer mehr gesellschaftliche Teilsysteme ausbreiten und deren Eigenlogiken unterwandern und überformen. Nein, klassisch kapitalistische Prinzipien wie Wettbewerb, Verdinglichung, Quantifizierung, Monetarisierung, extrinsische Motivationsanreize und intrinsische Motivationssteuerung, dichte Rückkopplungsnetze und jenes berühmte Verdampfen „alles Ständische(n) und Stehende(n)“, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, all diese ungeheuer erfolgreichen Dynamisierungsprozesse, die ja auch Befreiungsprozesse aus den ständischen Schalen des Geschlechts, der Nation, der Religion, der Geburtsfamilie sind, all diese großen Versprechen, die der Kapitalismus gibt, all dies schreibt sich uns tief in Schichten ein, die man so gerne davor geschützt gesehen hätte, die es aber nicht sind, will man kein unkorrumpierbares, dekontextualisiertes Selbst ganz im eigenen Inneren annehmen – das es aber nicht gibt (vgl. Illouz 2008).
Der kulturell hegemoniale Kapitalismus ist souverän, nicht zuerst, weil er sich, wie der Staat, des äußeren Machtapparates bemächtigt, sondern weil er sich der Menschen auf einer viel wirksameren Ebene bemächtigt, jener, die sie zu dem macht, was sie sind: Er bemächtigt sich ihrer Sehnsüchte und Hoffnungen, ihrer Ängste und Nöte. Er formt bereits Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute und dann befriedigt er sie, er gibt all dem Sprachen, Bilder und – Erfüllung: konkret und fassbar.
Der kulturell hegemoniale Kapitalismus drängt die alten Angsterzeuger und Angstbewältiger, Sehnsuchtsproduzenten und Sehnsuchtserfüller damit ins zweite Glied. Oder noch weiter zurück. Die einschlägigen Untersuchungen zeigen: Unter der Herrschaft des Kapitalismus verschwindet Religion nicht, aber sie wird extrem relevanzgemindert.
Für die Religionen bedeutet dies ihrerseits zum einen manifeste Epigonalität. Denn der Kapitalismus macht, was alle Souveräne ausmacht, er macht sich die anderen untertan, auch die Religion. Sie müssen sich in seinem Machtfeld situieren. Und sie tun es auch, weltweit. Man kann ein Spektrum aufmachen: Vom „Kapitalismus als Religion“ (W. Benjamin) zu kapitalismusaffinen Aufsteigerreligionen, etwa den Pfingstkirchen, über das christdemokratische Arrangement zu kapitalismuskritischen religiösen Ansätzen wie der Theologie der Befreiung oder auch Papst Franziskus bis zum gewaltsamen Kapitalismuswiderstand, der sich aktuell vor allem gegen seine kulturellen Befreiungseffekte richtet, lässt sich diese Positionierung der Religionen gegenüber dem Kapitalismus dann reihen.
Die Herrschaft des Kapitalismus bedeutet für die Religionen aber auch Polarisierung als Ausdünnung der religiösen Mitte. Gestärkt werden die Ränder des religiösen Partizipationsspektrums, also völlige Religionsdistanz und religiöser Fundamentalismus, wie es zum Beispiel in den USA, aber nicht nur dort, zu beobachten ist (vgl. Pollack/Rosta 2015).
Drittens aber bedeutet Herrschaft des Kapitalismus für die Religionen deren „Spiritualisierung“. Die zentrale Schwäche des Kapitalismus ist die radikale Privatisierung der mit ihm verbundenen Risiken. Es baut sich so ein enormer Druck auf die Individuen auf, trotz des „rasenden Stillstandes“ (Paul Virilio) des modernen Kapitalismus nicht zu verzweifeln. Die gar nicht mehr verborgene Nützlichkeit der Religion besteht dann genau darin, in Zeiten nicht mehr wirklich steuerbarer Beschleunigung und enormen individuellen Optimierungsdrucks nicht „durchzudrehen“.
3. Die katholische Kirche im Kapitalismus
Was aber geschah mit der katholischen Kirche? Grundsätzlich gilt erstens: An die Stelle normativer Integration tritt auch bei ihr situative, temporäre, erlebnis- und intensitätsorientierte Partizipation. Um es in ökonomischen Termini zu fassen: Die katholische Kirche wird von ihrer Konsumentenseite her umformatiert, insofern die klassischen kirchlichen Produktionsbedingungen von Religion und Pastoral und deren Konsumbedingungen nicht mehr selbstverständlich zueinander passen, schon allein, weil sich die Institutionen der Religion nicht unter den Kategorien von Produktion und Konsum verstehen, aber genau so heute genutzt werden.
Religiöse und damit auch kirchliche Traditionen werden zweitens im hegemonialen Kapitalismus aus ihren Herkunftskontexten gelöst, um in abstrakt-mediale, grenzenlos vermarktbare und auch austauschbare Marken transformiert zu werden. Im gewissen Sinne ist dies etwa mit dem Dalai Lama oder dem Papsttum oder auch mit der Engelslehre geschehen. Und wahrscheinlich funktioniert der Dschihadismus zumindest im Westen so.
Die neue Marktlage trifft drittens gerade die katholische Kirche an einem zentralen Punkt ihrer neuzeitlichen Geschichte: ihrer institutionellen Lebensform, an die sie ja auch ihre kognitiven, rituellen und moralischen Traditionen außerordentlich eng gekoppelt hatte. Diese enge Kopplung war lange hoch effektiv, wendet sich aber gegenwärtig gegen sie. Gerade aus den Resten dieser alten stolzen Institutionalität, etwa ihrem Reichtum, der Sakralisierung ihrer priesterlichen Hierarchie oder der lange unumschränkten Pastoralmacht, erwachsen ihr gegenwärtig in regelmäßigen Abständen delegitimierende Probleme.
Zu besichtigen ist viertens – zumindest in entwickelten Ländern – die Integration auch der katholischen Kirche in das individuelle, kapitalismusgeprägte Nutzenkalkül des Einzelnen, in sein unternehmerisches Selbst (vgl. Bröckling 2007). Das ist ein fundamentaler Herrschaftswechsel: Das Christentum ist es spätestens seit der „Konstantinischen Wende“ des 4. Jahrhunderts gewohnt, sich über gesellschaftliche Herrschaftsprozesse zu realisieren und sich am stärksten und liebsten in dem zu sehen, was Foucault „Pastoralmacht“ genannt hat. Auch die wichtigsten seiner intellektuellen Diskurse hat es in eine konstantinische, also herrschaftsbezogene Denkform gebracht.
Fünftens aber stellt sich natürlich nicht nur die Frage, was diese neue endgültige und irreversible kapitalistische Kontextualisierung des Christentums mit ihm selber macht, sondern auch die Frage, wie sie sich zu seinen zentralen Inhalten verhält. Die katholische Kirche benötigt plötzlich eine praxistaugliche Kriteriologie, wie sie das Netz ihrer pastoralen Handlungsorte von einem religiösen Herrschaftsverband in eine markt- und angebotsorientierte Dienstleistungsorganisation umformatieren kann – was sie sowieso schon tut – und dabei ihrem Auftrag treu bleibt, ja ihn vielleicht sogar neu entdeckt. Wo solch eine praxistaugliche Kriteriologie suchen?
4. Die neue Dogmatik der Pastoral: das II. Vatikanum
Die katholische Kirche besitzt mit dem II. Vatikanum ein funktionsfähiges Programm zur Bewältigung dieser epochalen Umbruchsituation. Das ist die These.
Das II. Vatikanische Konzil hat den Weg Trients verlassen, der die katholische Kirche in der aufkommenden Moderne über Mechanismen des Ausschlusses und der internen Verdichtung sichern wollte, es hat eine theologische Konzeption verlassen, welche die Authentizität des Glaubens nicht in den Relativierungen der Moderne, sondern in (scheinbarer) Enthobenheit von ihnen sichern wollte. Stattdessen hat es auf die Bewährungskraft des Glaubens und des ihm gemäßen Handelns in der Moderne gesetzt.
Das II. Vatikanum nimmt damit einen wirklichen Orts- und Prinzipienwechsel mit kenotischem Charakter vor (vgl. Kreutzer 2011). Die Kirche begibt sich aus der absolutistischen Position uneinhol- und unberührbarer Souveränität auf die Position einer singulären Heilsbezüglichkeit, die keine Solidaritätseinschränkungen akzeptiert. Diese kenotische Struktur in der Solidarisierung mit der Menschheit überhaupt und besonders mit den Unterdrückten und Leidenden wird mit der Konzilskonstitution Gaudium et spes zum Prinzip der Kirchenbildung.
Das bedeutet nicht nur, mit dem neuen Freiheitshorizont religiöser Praktiken auch bei den eigenen Mitgliedern umgehen zu können, sondern eben auch, dass die sozialen Codierungen der eigenen Botschaft und auch die ästhetischen und kognitiven Codierungen der Tradition nicht mehr selbstverständlich wirksam sind und daher nicht mehr einfach fortgesetzt werden können. Sie funktionieren nicht mehr selbstverständlich als Basiskonzepte, Handlungsräume und Handlungsmuster kirchlicher Pastoral. Das markiert eine Aufgabe größten Ausmaßes: die Inkarnation des christlichen Ursprungsimpulses in neue Formen, Ästhetiken und Diskurse.
Die noch lange nicht ausgelotete geistliche Leistung des II. Vatikanums ist es, den Exkulturationspfad, den sowohl die moderne Gesellschaft der Kirche wie die eigene Tradition ihr anbieten, überwunden zu haben. Zentrale Weichenstellungen hierfür sind der entklerikalisierte und den kirchlichen Sozialraum transzendierende Pastoralbegriff des II. Vatikanums, sein aufgabenorientierter „Zeichen-der-Zeit“-Begriff und seine inklusivistische Volk-Gottes-Theologie. Alle diese Weichenstellungen wurden übrigens nachkonziliar bis zu Papst Franziskus tendenziell massiv depotenziert.
5. Kirche: das Risiko der pragmatischen Verifikation
Konkret aber bedeutet der zweitvatikanische Weg pastorale Aufgabenorientierung statt klassische Sozialformorientierung, bedeutet, im Handeln zu realisieren, dass sich die Kirche nicht im „Außen“ ihrer institutionellen Räume verliert, sondern sich dort recht eigentlich erst findet, weil dort ihre existenzlegitimierende Aufgabe auf sie wartet, und es bedeutet, im Habitus wie in der eigenen strukturellen Verfassung zu dokumentieren, dass das wesentliche Zuordnungsprinzip in der Kirche nicht die Über- oder Unterordnung, sondern der Beitrag zur pastoralen Gesamtaufgabe der Kirche ist.
Aufgabenorientierung als Prinzip kirchlicher Konstitution würde heißen, das tagtäglich erfahrene Risiko der Gegenwart ins Zentrum der pastoralen Realitäten und Konzepte eindringen zu lassen, insofern es an diesem Risiko vorbei keine gelingende Pastoral mehr gibt. Nur im Risiko des Ereignisses kann man den Opfern der Verhältnisse jenen Raum geben, der aus ihrer Sprachlosigkeit ein Zeugnis macht. Gott ist dann das Ereignis einer Gerechtigkeit, die wir nur erahnen. Christliche Zeitgenossenschaft fordert von der Praxis Jesu her tatsächlich die unbedingt solidarische Verausgabung in die gelebten Hoffnungen und existenziellen Abgründe der Gegenwart hinein. Mit anderen Worten: Wer die Krise der konstantinischen Kirche nicht liebt, wird der Kirche keine Zukunft eröffnen.
In Zeiten, in denen die Macht der Religion offenbar wieder leicht im Sinne von Fremdbestimmung und Gewalt instrumentalisiert werden kann, erhält diese widerständig-paradoxe Struktur des christlichen Zeugnisses eine humanisierende Qualität. Ihre zentrale Handlungsaufforderung heißt Umkehr als antwortendes Ereignis eines wirklichen Neubeginns: Geschenk, unangekündigt und unverfügbar.
Christliche Pastoral ist ein Ort der Entäußerung Gottes hinein in die Hände jener, die sich auf ihn beziehen, ein Ort, an dem Gott hilflos seiner Beanspruchung durch sein Volk ausgeliefert ist. In der Pastoral geht es um Gottes Präsenz unter den Menschen in risikoreichen Prozessen menschlichen Handelns in seinem Namen.
Ja: Theologisch ist Gott der Suchende, der den Menschen Suchende, und aller Glaube steht im Risiko der Antwort auf diese Suche Gottes. Daher gibt es nicht nur theologisch – insofern der Glaube kein Besitz, sondern eine geschenkte Gnade ist –, sondern auch faktisch Kirche nur als Kirche der Suchenden, als pilgerndes Volk Gottes auf dem Weg zu Gott; eine Kirche, der es – gemeinsam mit anderen – um „die Rettung der menschlichen Person“, um den „rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft“ (GS 3) geht, und zwar ganz unabhängig davon, wie diese sich zur Kirche stellen.
6. Jenseits von Verleugnen und Verfallen
In der globalisierten Spätmoderne steht auch die katholische Kirche unter der Herrschaft des kulturell hegemonialen Kapitalismus. Klassische Codierungen der christlichen Botschaft verflüssigen sich in den Liquidierungsprozessen einer Gesellschaft, welche auch im Religiösen die Interpretationsmacht dem Einzelnen übergeben hat: personale Codierungen wie das Weihepriestertum oder die sakramentale Ehe, rituelle Codierungen wie die Sakramente, institutionelle wie die Gemeinde oder das Papsttum, kognitive wie die Dogmen.
Das führt zu manifesten Abstiegsprozessen und frustrierenden Abstiegserfahrungen. Da liegt es nahe, nach allem zu greifen, was Linderung verspricht. Das wäre freilich nur eine Variante jenes sozialtechnologischen Reaktionsmodells, das nicht aufgabenorientiert und kenotisch Kirche entwarf, sondern machtfixiert und institutionsorientiert auf genau jenen Bereich fixiert blieb, auf dem man „verletzt“ wurde.
Nach dem Konzil von Trient hatte sich das Modell einer „societas perfecta“ durchgesetzt, welche die Anderen nicht brauchte, sie verachtete und in gegenaggressiver Trotzhaltung die eigenen Verletzungen kultivierte. Sozialpsychologisch verständlich, scheiterte dieses Modell zuletzt an seiner geistlichen Verzerrung als ressentimentgeladene Kultur und den darausfolgenden Defiziten in Gegenwartsanalyse und Gegenwartssolidarität.
Nach dem II. Vatikanum und in ähnlich demütigenden Transformationsprozessen einer sich entwickelnden Postmoderne mit anhaltenden Säkularisierungstendenzen bei gleichzeitiger Polarisierung des religiösen Feldes kann man den Abstiegserfahrungen guten Gewissens nur eines entgegensetzen: einen Zuwachs an erkennbarer, erfahrbarer, erreichbarer pastoraler Kompetenz, verstanden als Fähigkeit zur kreativen, situativen Konfrontation von Evangelium und gegenwärtiger Existenz. Nur der pastorale Weg – im Sinne des Konzils – ist noch offen.
Der Weg der Kirche in die Zukunft führt, will man ihn „planen“, am ehesten über eine Analyse jener kirchlichen Orte, an denen sie unter postmodernen Kontexten „funktioniert“ – und zwar im Sinne des kirchlichen Auftrages, ein „Zeichen und Werkzeug des Heils“ zu sein. Das sind jene pastoralen Orte, wo man ehrlich und aufmerksam ist, wertschätzend und solidarisch, wo Kirche sich schmutzig macht, wo es zu einer kreativen Konfrontation von Evangelium und heutiger Existenz kommt, wo man Gott also im Heute und nicht in der Vergangenheit oder der Zukunft sucht, um den Papst zu zitieren. Solche Orte gibt es, in der Caritas und der Kategorialpastoral, in der Liturgie und für viele in Klöstern und bei geistlichen Menschen. Es gibt sie sicher auch in Pfarreien und in vielen pastoralen Neuinitiativen der letzten Jahre.
Die zentralen geistlichen Kompetenzen, die man für die Gestaltung solcher Orte braucht, sind liebende Aufmerksamkeit, Demut und Vertrauen. Liebende Aufmerksamkeit heißt die Wirklichkeit wahrzunehmen, wie sie ist, und ihr, so wie sie ist, mit Liebe zu begegnen. Demut heißt, den Anderen wichtiger zu nehmen als sich selbst, und Ermutigung durch Vertrauen bedeutet, dem Anderen – und übrigens auch sich – ein Stückchen mehr zuzutrauen, als er es (oder man es) eigentlich verdient.
Das wäre der pastorale Habitus, der weiterführend wäre: neugierig sein, aufmerksam sein, zu Wagnissen ermutigen, Spontaneität schätzen, Rollendistanz signalisieren, Freiräume geben, Fehlversuche akzeptieren, Vertrauen schenken knapp über das hinaus, was eigentlich verdient wäre, und das alles in Kenntnis der und in Respekt vor den entsprechenden Versuchen unserer Väter und Mütter im Glauben. Das verlagert die Prüfstrecke: Nicht das eigene Kirchen-Erleben, sondern die Erfahrungen der anderen sind der Ort, an dem die Zukunft der Kirche sich entscheidet (vgl. Bucher 2015, bes. 41–45).
Überall dort, wo man sich zum „Sich-Aussetzen“ vorwagt, überall dort, wo man das Eigene aufs Spiel setzt, zeigt sich heute schon, was kommen könnte. Nur in der riskierten und riskanten Konfrontation der christlichen Botschaft mit konkreten Orten menschlicher Existenz heute wird entdeckbar, worin die Bedeutung dieser Botschaft liegt, und bleibt man nicht in der postulatorischen Rekapitulation ihres Sinns stecken. Alle und alles in der Kirche gibt es dafür. Was dazu verhilft, ist gut: vom kontemplativen Kloster bis zu den avantgardistischen „fresh expressions of church“. Niemals aber sollten mehr Kirche und Pastoral, Mittel und Zweck vertauscht werden.