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Pastoral hinter dem Horizont

Eine ökumenische Denkwerkstatt

Eine Denkwerkstatt sollte es sein, ein „Brutkasten“, eine Ideenschmie­­de, die Tagung, die vom 19. bis zum 22. Juni auf dem Odilienberg im Elsass stattfand. Den Veranstaltern, dem Bistum Speyer (Dr. Peter Hundertmark) und der KAMP (Dr. Hubertus Schönemann), war es wichtig, das Nachdenken und Austauschen in vielerlei Hinsicht zu entgrenzen. So kamen die persönlich eingeladenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus verschiedenen Kirchen und kulturellen Kontexten, aus verschiedenen Ländern im französischen Elsass zusammen: Quer­denker, bunte Vögel, charismatische Personen, die mit einem bestimm­ten „Anliegen“ spirituell und in der Pastoral unterwegs sind, Gemein­degründer, Organisationsberater, Menschen, die für geistliche Prozesse Verantwortung tragen, sowie Personen, die in Bistümern Linienverant­wortung für die Gestaltung von Pastoral wahrnehmen.

Der Odilienberg, ein „durchbeteter“ Ort, seit 1400 Jahren (davor kelti­sches) geistliches und spirituelles Zentrum des Elsass, ermöglichte ei­nen Blick der Vogelperspektive von außen auf Deutschland. Die heilige Ottilie als Patronin, blind geboren und dann zum Sehen gekommen, wies symbolisch den Weg zum Erkennen dessen, was wirklich (wichtig) ist. Auch die Art und Weise des Arbeitens war außergewöhnlich: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten Themen, Ideen und Expertise, die sie selbst mitbrachten, im Kontakt und Dialog mit anderen weiter­arbeiten, reifen lassen, aber auch in der Atmosphäre des Kurses mitein­an­der „ins Geschäft“ kommen. Dies alles verstanden und gestaltet als ein geistlicher Prozess, begleitet durch ein erfahrenes Team, mit per­sönlich-biblischem Tageseinstieg morgens und persönlicher Tagesaus­wertung und Resonanzrunde abends.

Begonnen als eine Agora von eingebrachten pastoralen Thematiken wan­delte sich die Veranstaltung mehr und mehr zum Laboratorium für grundsätzliche pastorale Fragestellungen, z. B. für das Umgehen mit einer Vielfalt von Vorstellungen, religiösen Praktiken und kirchlichen (Leit‑)Bildern. In dieser (sich immer noch recht binnenkirchlich abbil­denden) Vielfalt, in der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mitein­ander im Kontakt blieben und die Heterogenität so bearbeiten konnten, wurden die Tage auf dem Odilienberg zum Muster und zum Testfall für eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die die Realität von Kirche prägen wird. Durch möglichst wenig Vorgabe, Klarheit und Orientierung von Seiten der Leitung wurde der Kurs zunehmend selbst zum Prozess, den es zu gestalten und auszuhalten galt. Eine Teilnehmerin sagte in einer Plenumsrunde: „Hier inszeniert sich etwas, das pastoral gebraucht wird: Prozesse, in denen wir aushandeln müssen, wie es geht.“ Und ein anderer: „Ich muss selbst Verantwortung dafür übernehmen, dass meine Themen zur Sprache kommen, dass die Zeit eingehalten wird, dass ich von den anderen verstanden werde …“ Dies betraf auch Fragen, welche Formen des Betens und Feierns für möglichst viele anschluss­fähig sind.

Der Verlauf der Veranstaltung zeigte überdeutlich: Es geht pastoral jetzt schon – und zukünftig noch mehr – um offene Aushandlungsprozesse un­­ter Glaubensgeschwistern, um Verzicht auf lineare, autoritative Steue­rung und, ohne angeblich Selbstverständliches einzufordern, um das Bearbeiten von Ambivalenz und Heterogenität. Dabei lief immer der „rote Faden“ mit, wie dieser und andere Prozesse als „geistliche Prozesse“ möglichst inklusiv und kontextorientiert gestaltet werden können, um nicht aufgesetzte Ideologie zu sein, sondern möglichst viele Betroffene zu Beteiligten zu machen. Dies müsse auf vielen Ebenen der Kirche – auch auf der Ebene der Bistumsleitung – eingeübt werden, meinte eine Teilnehmerin.

Es zeigte sich auch, dass wir uns offenbar in einer Endzeit der Kirche als „Institution“ befinden und auf dem Weg sind hin zu neuen Formen von Organisation und Bewegung wie Netzwerken und anderen inklusiven Formen von Partizipation und Entscheidungsfindung.

Viele pastorale Themen auf verschiedenen Ebenen wurden am Anfang generiert, die mehr und mehr miteinander in Kontakt kamen und wei­ter­bearbeitet wurden, indem sich eine selbstgewählte Gruppe zusam­menfand, um sich für eine begrenzte Zeiteinheit (!) einen gemeinsamen Ort zu suchen, an dem man gut miteinander arbeiten kann, z. B. in der Sonne, mit einem atemberaubenden Ausblick auf die Rheinebene. U. a. waren folgende Themen wichtig:

  • Die Kritik der binnenorientierten „Gemeinde“ und der „aufgezwun­ge­nen“ Gemeinschaft Gleichgesinnter, der Gesinnungsgenossen und einer erwarteten Uniformität von Glaubensformen …
  • Visionen, Szenarien, eigene Utopien und Zielbilder, die es zu über­prü­fen und über die es sich mit anderen auseinanderzusetzen gilt …
  • Christsein jenseits von institutioneller Kirchlichkeit als Lebensstil, wie dadurch evtl. neue Formen von Kirche entstehen („Raus aus der Verkirchlichungsfalle!“), pastorale Formate nach der „Gemeinschafts­euphorie“ bis hin zu Pastoral jenseits von Kirchenzugehörigkeit, Unterscheidung von Mittel und Zweck kirchlicher Vollzüge und Gemein­schaftsformen
  • Die grundlegende Aufgabe der Pastoral: etwas vom Evangelium ent­decken im Miteinander der Menschen. Damit ist verbunden, zu lernen, Gast zu sein an Orten, an denen ich mich fremd fühle.
  • Das Bedürfnis nach Heilung durch Christus
  • Ein Berufungscoaching für Menschen, die etwas für sich erkannt ha­ben; Menschen helfen, ihrer Berufung auf die Spur zu kommen, eine freilassende Art zu leben und erleben zu lassen, wie Gott einen an­spricht. In dieser Gruppe entwickelte sich ein erfahrungs- und biogra­fiebezogener Austausch über die je eigene Berufung, wie man sie wahr­nimmt, wie sie sich verändert hat, welche individuellen Schwer­punkte sie hat, wie sie Kraft und Energie gibt. „Ich bin ein Projekt Got­tes, ein Resonanzraum des Evangeliums. Welche Geschichte kann ich erzählen (story telling)? Wie kann ich einüben, sie zu erzählen?“
  • Der Beitrag der Fresh Expressions of Church, der neuen Ausdrucksfor­men von Kirche, die sich in der Anglikanischen Tradition entwickelt haben, und der Mission-shaped Church (also einer Kirche, die durch ihre Sendung neue Gestalt annimmt) für eine ganzheitliche ekkle­siologische Inszenierung von Innovation und Tradition
  • Die tatsächliche Relevanz des christlichen Glaubens, die immer auf der Seite des Adressaten entsteht
  • Die fundamentale Bedeutung der Kontexte (Makro- und Mikro‑), in denen sich christliche Berufung entwickelt
  • Zeugenschaft in virtuellen Welten
  • Wie Verletzungen, Vorurteile und Moralurteile den Diskurs über die Zukunft der Kirche prägen

Lange wurde darum gerungen, wie man den „Horizont“ der Pastoral ver­stehen könne, der im Titel der Veranstaltung genannt ist. Mehr und mehr zeigte sich: Er ist nicht eine Zukunft, die man zu antizipieren ver­sucht, um sie damit handhabbar und gestaltbar zu machen, sondern eher ein christliches Utopia, um Ängste zu verhindern und Handlungs­motivationen freizusetzen. Es geht nicht darum, wie weit wir blicken können und was wir „dahinter“ erwarten. Der Horizont markiert viel­mehr eine heilsame Disruption (Unterbrechung), so manches zu been­den und nicht ein totes Pferd weiterzureiten. Es geht darum, den Weg zum Horizont, der sich ja im Gehen immer weiter nach hinten schiebt, im Hier und Jetzt miteinander zu gestalten. Dabei muss es jedoch – so ein Teilnehmer – um ein ehrliches Interesse am Anderen und um seine primäre Erfahrung des Lebens gehen, und nicht um das Interesse, mit der Inanspruchnahme des ganz Anderen das Eigene an „Kirchlichkeit“ durchzusetzen und zu erhalten. Die eigene Primär-Erfahrung des Got­tesreiches kann nicht als sekundäre weitervermittelt werden, sondern muss selbst in jeder Generation neu gemacht und in neuen Formen kom­muniziert werden. Der Horizont meint also nicht linear die nächste Generation, sondern ein schlichtes Handeln im Hier und Jetzt, wo es nötig ist. Der „Gute Hirte“, eine holzgeschnitzte Figur in der Kapelle, inspirierte dazu, einfach nachzudenken, was jetzt dran ist: Es geht um dich und um mich. Die Teilneh­merinnen und Teilnehmer nahmen wei­tere Horizonte wahr, die hier und jetzt da sind und trennen bzw. neue Dimensionen des Evangeliums ermöglichen, wenn man hinter sie schaut. So zeigt eine Pastoral von den Rändern her die Charismen der „Randgruppen“ (Migrantinnen als Ausgangspunkt einer neuen Pastoral; Erfahrungen der Berufung zum Glauben im Strafvollzug). Was im Sinne Jesu Christi zu handeln heißt, weiß man nicht im Vorhinein. Es ereignet sich und ist hochgradig abhängig vom Kontext und den jeweils ko‑agie­renden Personen. Der Horizont ist die andere Wirklichkeit Gottes, des ganz Anderen, die es in der Pastoral ernst zu nehmen gilt. Die Teilneh­merinnen und Teilnehmer versuchten, neue Rollenbilder für handelnde Subjekte zu beschreiben und die Wahrnehmungen mit den derzeitigen Pastoralstrukturen, ‑logiken und ‑strategien ins Verhältnis zu setzen. Wer ist wie beteiligt?

Die Denkwerkstatt „Pastoral hinter dem Horizont“ bot also für einige Tage einen intensiven Einblick und ein Eintauchen in die Tiefenstruktur des Diskurses über die Zukunft von Glaube und Kirche, die jetzt schon anfängt. Viele Teilnehmer äußerten sich am Ende, dass sie inspiriert und heilsam irritiert worden seien, dass Seitenwege beschritten worden sind, dass Fragen aufgeworfen wurden, die sie sich noch nie gestellt hat­ten. Der Odilienberg war eine kleine Abenteuerreise, angefüllt mit The­men, bereichert durch Begegnungen mit „ganz anderen“ Personen und deren Ansichten und Zielbildern, und ermutigte die Beteiligten, die Ener­gien im Volk Gottes und der Gesellschaft wahrzunehmen, zu ent­decken und Räume für Wachstum zu gestalten. Jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin ist gebeten, über ein selbst gewähltes zentrales The­ma, das bei der Denkwerkstatt eine Rolle gespielt hat, ein Essay zu ver­fassen, das mit den anderen zusammen in einer Sammlung der Öffent­lichkeit zugänglich gemacht werden wird.