Missionarische Spiritualität im lateinamerikanischen Kontext
Mit seiner „Programmschrift“ (vgl. EG 25) Evangelii gaudium hat Papst Franziskus sein Pontifikat unter einen missionarischen Schwerpunkt gestellt. Damit ist er mitnichten der erste unter den Päpsten, sondern steht in der Tradition seiner Vorgänger und des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dennoch scheint in Papst Franziskus’ missionarischer Ausrichtung und den Konsequenzen, die er hieraus für Pastoral und Kirche ableitet, eine gewisse Fremdartigkeit auf. Zumindest vom Inhaber des Papstamtes war man beispielsweise eine so direkte Verknüpfung von Mission, Volksfrömmigkeit, Wirtschafts- und Kirchenkritik bisher nicht gewohnt. Nicht zuletzt ist die spirituelle Prägung seiner Missionstheologie offenbar in seiner Herkunft „vom anderen Ende der Welt“ und der dortigen Beheimatung der Befreiungstheologie begründet. Es scheint daher aufschlussreich, sich seiner missionarischen Ausrichtung von den Ursprüngen, Entwicklungen und Reflexionen der Mission in Lateinamerika her zu nähern. Diese Arbeit hat Michael Meyer, Referent des Fachbereichs Missionarische Spiritualität bei missio Aachen, in seiner Dissertation „Missionarische Spiritualität im lateinamerikanischen Kontext. Von den Missionshandbüchern des 16. Jahrhunderts bis Evangelii Gaudium“ unternommen. Im Fokus stehen dem Titel entsprechend nicht konkrete missionarische Programme oder Aktivitäten (vgl. allerdings 272 f. und 277), sondern die theologische Reflexion über die dahinterstehenden Motivationen und Grundhaltungen. Anders jedoch, als sich aus dem Untertitel schließen ließe, bietet die Studie keinen umfassenden Abriss der lateinamerikanischen Theologiegeschichte. Vielmehr dient ihr diese vor allem als Folie zur systematischen Erschließung der Spiritualität der Befreiungstheologie und der des Papstes (vgl. 20–22).
Die Einleitung des Buches beginnt damit, den Rahmen dieser Arbeit abzustecken. Dabei macht sie unter anderem die universalkirchliche Bedeutung deutlich, die die lateinamerikanische Missionstheologie durch das Apostolische Schreiben Evangelii gaudium erhalten hat (vgl. 22). Zugleich bietet sie eine pointierte Zusammenfassung über die Revolution des Missionsverständnisses durch das Zweite Vatikanische Konzil und leistet eine Grundlegung des Begriffs der „Spiritualität“. Hinzu kommt ein Überblick über die Verwendung des Terminus „Missionarische Spiritualität“ in den päpstlichen Schreiben vor Evangelii gaudium und in aktueller theologischer Literatur.
Anschließend behandelt Meyer den zweifelhaften Ursprung der christlichen Missionstheologie auf dem amerikanischen Kontinent: die Zeit nach der sogenannten Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus. Meyer verschweigt zwar die „Schattenseiten“ dieser Zeit nicht, die im negativen Klang des Wortes „Mission“ im religiösen Sinn bis heute nachwirken. Er konzentriert sich jedoch auf die positiven Aspekte, die die christliche Missionsgeschichte dieser Zeit prägen (vgl. 59 f.). Viel Wert legt er insbesondere auf jene Aspekte der damaligen Missionshandbücher, die auf eine Verbesserung der Situation der Ureinwohner abzielen. Er betont damit die spirituellen Motive dieser Schriften, sich mit dem Schicksal der Armen und Benachteiligten zu identifizieren und prophetisch für sie einzutreten. Detailliert arbeitet er aber auch die Verortung der ersten Missionstheologen innerhalb ihrer Ordensspiritualität als Franziskaner, Jesuiten beziehungsweise Dominikaner heraus. Den Zielpunkt bildet die Missionstheologie des Bartolomé de Las Casas, den Meyer „zu den Leitbildern einer befreienden Kirche“ (103) zählt. Sein Einsatz für die Rechte der „Indianer“ beförderte ein partielles Umdenken innerhalb der spanischen Missionstätigkeit und befeuerte die Kritik an der Conquista. Auf diese Weise trug diese Missionstheologie zumindest teilweise zur Verbesserung der Lebenssituation der Ureinwohner in den eroberten Gebieten bei.
Das folgende Kapitel ist dem Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez gewidmet. In der einer Dissertation entsprechenden Ausführlichkeit faltet Meyer dessen missionarische Spiritualität aus. Anhand der zahlreichen Wiederholungen wird die befreiungstheologische Vorprägung der Missionstheologien des 16. Jahrhunderts nochmals deutlich. Zugleich erkennt Meyer in Gutiérrez’ Befassung mit der Mystik des Johannes vom Kreuz eine kontemplative Vertiefung. Gutiérrez gelinge es, dessen Einsichten und jene von Las Casas „ideenreich und ansprechend für das Zeitalter der Globalisierung weiterzuentwickeln“ (183). Worin diese Weiterentwicklungen genau bestehen, wird leider für den/die Leser*in nicht eigens herausgearbeitet. Auch auf die Bedeutung des Buches Ijob für die Missionsspiritualität von Gutiérrez wird nur am Rande eingegangen.
Das abschließende Kapitel ist zunächst der missionarischen Spiritualität des Abschlussdokuments der fünften Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik in Aparecida gewidmet. Bei der Vertiefung dieses Dokuments kommt die zuvor erarbeitete Theologiegeschichte Lateinamerikas zu Hilfe. So können schließlich Kernbegriffe der Spiritualität des Papstes aus Argentinien, wie sie in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium Widerhall finden, aufgeschlüsselt werden. Hierzu gehören einige für Europäer schwer verständliche Begriffe wie der des „primerear“ oder der „missionarischen Jüngerschaft“ und das Antimotiv der „spirituellen Weltlichkeit“. Vor allem jedoch stellt Meyer auf diese Weise die Beheimatung des Denkens und Handelns des Papstes in der Theologie Lateinamerikas heraus. Es wird deutlich, dass sich auf dem Hintergrund der Erfahrungen der Conquista mit Mission immer das Ziel verbinden muss, einem Mehr an Leben zu dienen (vgl. 286). Den spirituellen Hintergrund dieses zwingenden Implikats der Befreiung bildet nach Meyer der feste, hoffungsvolle Glaube an den entgegenkommenden, sich schenkenden Gott des Lebens (vgl. 289; Joh 10,10).
In der Erschließung dieser Inspiration des Papstes kann nicht nur aufgrund der universalkirchlichen Bedeutung seines Amtes ein wichtiger Beitrag des Buches gesehen werden, die dessen Lektüre lohnenswert macht. Das Buch kann in dieser Hinsicht als Impuls verstanden werden, die Spiritualität des Papstes zu durchdringen und auch in Deutschland Theologie und Pastoral insgesamt an der Haltung des Dienens auszurichten. Hierbei wird sich die Kirche im Sinne Meyers vorrangig an Nöten der Menschen „am Rande“ orientieren (müssen). Diese bleibende Verpflichtung auf die vor allem in Lateinamerika herausgearbeitete Option für die Armen wird von ihm vehement, mit vielen Verweisen auf zeitgenössische Theolog*innen herausgestellt.
Darüber hinaus können Meyers Schilderungen helfen, Fehler der Mission Lateinamerikas nicht zu wiederholen. Sicherlich erscheint die Gefahr der Verquickung von Kirche und Macht heute weniger stark und weniger offensichtlich als im 16. Jahrhundert. Dennoch hat der Anspruch, dass Mission nichts wegnehmen, sondern das Heil bringen will (vgl. 118), weiterhin Relevanz. Bedenkenswert erscheint in diesem Sinne der Befund, dass die Kirche in Lateinamerika allmählich lernte, nicht nur die Sprache, sondern auch die Werte und Gebräuche der indigenen Bevölkerung und damit deren Lebenserfahrung anzuerkennen und positiv wahrzunehmen (vgl. 137). Hieraus ließe sich möglicherweise auch heute noch die Lehre ziehen, Mission nicht oberflächlich zu betreiben, sondern sorgsam und ernsthaft zunächst nach den Prägungen, Errungenschaften und Werten der Menschen zu fragen. Hinweise für eine diesbezügliche Vertiefung des Prozesses der Inkulturation in Lateinamerika vermisst der Rezensent jedoch in dem Buch.
Jörg Termathe