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Die große Sinnsuche. Ausdrucksformen und Räume heutiger Spiritualität

„Spiritualität“ ist heute ein Trendbegriff, der in enger Verbindung zu Religiosität (und Religion) steht, oft aber auch in Abgrenzung davon verwendet wird. Das zeigt zweierlei: Zum einen sehen sich Religio­nen und insbesondere die großen Kirchen mittlerweile einer Fülle von alternativen, konkurrierenden Spiritualitätsangeboten gegenüber. Zum anderen kann der Begriff „Spiritualität“ unterschiedlich bestimmt wer­den und bedarf einer näheren inhaltlichen Erkundung, wenn man sich mit ihm auseinandersetzen will – was für Theologie und Kirche eine aktuelle Herausforderung ist.

Das sind keine neuen Einsichten; und entsprechend fügt sich der zu besprechende Band auch ein in eine Vielzahl schon bestehender Publi­ka­tionen, wie sie u. a. auch von manchen Autoren des Bandes bereits vorgelegt worden sind. Dennoch bietet die Publikation eine interessante Zusammenstellung verschiedener Perspektiven und lädt ein zu eige­nem Nachdenken – über die heutige spirituelle Landschaft und die Veror­tung der Kirche darin, darüber, was christliche Spiritualität aus­macht, aber auch über die eigene Spiritualität. Aus einem solchen Nach­denken heraus ist das Buch auch entstanden: Es ist die Dokumentation zweier Tagungen an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart 2014 und 2015 (vgl. dazu den Bericht zu einer dieser Tagungen von Eckhard Türk in euangel 3/2014).

„Mit den vorliegenden Beiträgen der Autorinnen und Autoren versu­chen wir zu zeigen, dass sich Spiritualität und theologische Reflexion keinesfalls ausschließen, sondern sich zutiefst ergänzen können ohne vermischt zu werden“, heißt es im einführenden Beitrag der Akademie­direktorin Verena Wodtke-Werner (17; Fehler in den Zitaten wie im Ori­gi­nal, das sich leider durch mangelhaftes Lektorat auszeichnet). Dem Verhältnis von Glaube/‌Spiritualität und Vernunft geht z. B. der Inns­brucker Dogmatiker Roman Siebenrock in einem seiner gleich zwei Beiträge im Band nach. Dabei verweist er darauf, dass wir „G.O.T.T.“, wie er verfremdend schreibt, nicht definieren können wie andere Dinge, sondern dass wir ihn nur indirekt, im Spannungsfeld Kontingenz – Trans­zendenz, „verschmecken“ können. Er schlägt deshalb diese ver­bindende Formel vor: „Glauben und Vernunft – in der Liebe geformt“ (44).

Auch der Tübinger praktische Theologe Michael Schüßler betont, dass es darauf ankommt, „bei allem, was wir von Gott wissen und erfahren, nie seine unverfügbare Geheimnishaftigkeit zu vergessen, indem man sie mit den eigenen Projektionen ausfüllt“ (32). Er sieht drei „kriteriolo­gi­sche Spuren“, die christliche Spiritualität von anderen Spiritualitäten unterscheiden können: neben der schon angedeuteten „Unverfügbar­keit Gottes“ auch, dass man sich von der Verletzbarkeit des Lebens be­rüh­ren lässt, und den Verzicht auf „Zwang zur religiösen Ausdrücklich­keit“: „Die einzige Forderung des Evangeliums ist […] ein Zum-Leben-Kommen des jeweils Anderen, ohne ihn intentional zu verändern, also weder in eine Gemeinde noch in ein religiöses Bekenntnis hineinzuma­növ­rieren“ (33). Entsprechend sieht Schüßler heute einen „Open-Source-Modus“ des Glaubens: „Jeder kann sich heute potenziell auf Kernelemente des Christlichen beziehen, ohne dass eine ekklesiale Kontrollinstanz dazwischen geschaltet wäre“ (27). Verschärft sieht Schüßler aber die Frage, „wie Transzendenzbezug und immanente Lebensgestaltung miteinander ins Verhältnis gesetzt werden“ (28) – gerade vor dem Hintergrund der Radikalisierung von Religion: „Der theologische Streit ist deshalb zurück in den Arenen der Weltgesell­schaft, weil sich an ihm wieder etwas entscheidet“ (29).

Im zu besprechenden Band sind nun aber keineswegs die Fundamenta­lismen der Fokuspunkt, sondern vielmehr die Säkularität und die Frage, wie sie Spiritualität (und christliche Theologie) formatiert, eine Vielfalt von Spiritualitäten ermöglicht, aber auch neu nach einer Unterschei­dung der Geister verlangt.

Wie sich die religiös-spirituelle Landschaft im 20. Jahrhundert verän­dert hat, stellt – allerdings nur in aller Kürze – Christel Gärtner vom Exzellenzcluster „Religion und Politik der Kulturen der Vormoderne und Moderne“ an der Universität Münster mit einem sozialgeschicht­lichen Abriss und mit exemplarischem Blick auf Jugendliche dar, die durchaus auch kirchliche Ressourcen rezipieren, aber diese sehr selbstbestimmt in ihre eigene spirituelle Entwicklung integrieren. Reinhard Hempelmann, der Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, ergänzt das mit dem Fokus auf „Spirituelle Ansätze und Suchbewegungen außerhalb der institutionalisierten christlichen Gemeinschaften“ – konkret insbesondere Esoterik und alternative Heilungsangebote. Auch die Wiener praktische Theologin Regina Polak analysiert die heutigen Spiritualitätslandschaften, indem sie mehr allgemein mit einem Blick auf empirische Spiritualitätsfor­schung einsetzt, dann aber speziell auf esoterisch konnotierte alterna­tive Spiritualitäten zu sprechen kommt. Sie fasst diese neuen Spirituali­tätsformen theologisch als Zeichen der Zeit, betont aber auch: „Wie alle ‚Zeichen der Zeit‘ bedarf auch die spirituelle Transformation einer diffe­renzierten Unterscheidung der Geister“ (120) – für die Polak u. a. eine sozialwissenschaftliche und historische Ursachenanalyse einfordert.

Auch Hempelmann nennt – ähnlich kurz wie Polak – ansatzhaft Krite­rien für eine Einschätzung solcher neuer Spiritualitätsformen aus der Perspektive des Christentums. Es ist aber Siebenrock, der (in seinem zweiten Beitrag) eine „fundamentaltheologische Kriteriologie im Dienst der Unterscheidung der Geister“ entwirft und dabei nicht nur ausge­hend von Grundformen menschlicher Beziehungsverhältnisse eine „Kleine Typologie möglicher Spiritualitäten“ (74) vorstellt, sondern auch Prüfsteine für eine christliche Spiritualität entwickelt.

Neben dieser notwendigen Abgrenzung zur Unterscheidung der Geister spielt aber die Öffnung christlicher Theologie für die Herausforderun­gen heutiger Spiritualitäten und menschlicher Denk- und Lebensweisen eine mindestens ebenso große Rolle für den Band. Die Osnabrücker Syste­matikerin Margit Eckholt denkt dazu vom cultural turn, aber auch von den säkularisierten Räumen insbesondere in Großstädten her, was mit einem Aufbrechen der Blickverengung auf klassische loci theologici ein­hergeht. Die Art und Weise, wie Menschen heute real Glaubenserfah­run­gen machen und ihre „existentielle Wahrheit“ finden, „führt dann nicht zu einer neuen ‚Theologie der Spiritualität‘, sondern die Praktiken der Spiritualität verändern die Theologie als Ganze und tragen bei zur Entfaltung eines neuen Stils des Christlichen“ (188).

Ein solch neuer, Grenzen sprengender Stil zeigt sich etwa in den Ange­bo­ten des Zentrums für christliche Meditation und Spiritualität in Frankfurt am Main – ein Beitrag skizziert Erfahrungen aus einem Work­shop mit P. Helmut Schlegel dazu. Dagegen berichtet die evangelische Ordensschwester Nicole Grochowina von einer eher mühsamen Annä­he­rung des (landeskirchlichen) Protestantismus an das Thema Spiri­tualität(en) und sieht durchaus eine evangelische Tendenz, Theologie und Spiritualität zu trennen (im Interesse der Vernunft des theologi­schen Denkens). Doch Neuaufbrüche in den letzten Jahrzehnten ver­weisen nicht nur auf entsprechende Bedürfnisse, sondern auch Martin Luther habe, so Grochowina, bereits betont, wie wichtig die Entfal­tung der persönlichen Spiritualität für Theologen sei.

Noch einige weitere Beiträge finden sich im Band:

Ulrike Graf, Professo­rin für Pädagogik in Osnabrück, fragt: „Wenn Spiri­tualität auch frei von Religionen existiert und sie dem Menschen exis­ten­zielle Erfahrungen ermöglicht, zeigt sich in allgemeinen Bil­dungs­kontexten dann nicht eine Leerstelle im Bildungsauftrag?“ (221). Also: Sollte Schule auch jenseits vom Religionsunterricht eine „Spiritual Literacy“ vermitteln? Eine solche auch säkulare Spiritualitäts­kompetenz könne bei Schülern etwa Motivation, Partizipation und Glück steigern, deren Vermittlung dürfe aber nicht übergriffig werden.

Die Performance-Künstlerin Gabi Erne hat mit den Tagungsteilnehmen­den kreativ-künstlerisch gearbeitet. Ablaufnotizen und Bilder, aber auch einige Reflexionen dokumentieren auch diesen Teil der Tagungen.

Anregend ist der Beitrag der Theologin Teresa Peter, die fragt: „Welche Rolle kann eine spirituelle Praxis in Verstehensprozessen spielen?“ (142). Anhand von Interviews mit Personen, die im buddhistischen Kontext oder in der ignatianischen Tradition beheimatet sind, zeigt sie, dass es bei Lernprozessen nicht nur um einzelne Inhalte geht, sondern dass spirituelle Praxis auch dazu beitragen kann, auf einer Metaebene die Weise des eigenen Verstehens und Einordnens von Erfahrungen zu reflektieren.

Einige Anhänge – ein Gesamtliteraturverzeichnis, kurze Informationen zu den Autorinnen und Autoren sowie ein Namens- und Stichwortregis­ter – runden den Band ab.

Martin Hochholzer