Skepsis und Zuversicht – Wie blickt Deutschland auf Flüchtlinge?
Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD (SI)
2015 hat Deutschland die Grenzen geöffnet für die nach Europa geflüchteten Menschen. Seitdem sind etwa eine Million Menschen nach Deutschland gekommen, genaue Zahlen liegen nicht vor. Seit Herbst 2015 wird davon gesprochen, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippe und die ursprünglich positive „Willkommenskultur“ an Zustimmung verliere. Doch die empirischen Daten dazu sind eher allgemein und wenig differenziert.
Das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD (SI) in Hannover hat in mittlerweile fünf Befragungswellen (eine sechste ist für September 2017 geplant) die Stimmungslage zur Flüchtlingssituation in Deutschland erhoben und nach konkreten Sorgen und positiven Erwartungen, aber auch nach Erfahrungen im direkten Umgang mit geflüchteten Menschen und nach der Bereitschaft zu deren Unterstützung gefragt. Die repräsentativen Befragungen fanden als Einschaltungen in telefonische Mehrthemenbefragungen statt; die Stichprobe umfasst deutschsprachige Befragte ab 14 Jahren. Im November 2015, Mai 2016 und April 2017 wurden Befragungen mit jeweils 2.000 Personen durchgeführt, im Februar und August 2016 mit jeweils 1.000. Bei der vierten Befragung im August 2016 wurde das Thema „Angst vor islamistischen Terroranschlägen“ mit aufgenommen, bei der fünften Befragung im April 2017 das Thema „Abschiebung und Zuzug von Flüchtlingen“.
Nach den Ergebnissen der Studie kann nicht davon die Rede sein, dass die Stimmung der Bevölkerung zur Flüchtlingssituation in Deutschland ‚gekippt‘ sei. Die Stimmungslage hat sich seit November 2015 insgesamt nur wenig verändert. Bereits damals sind die Meinungen darüber, ob Deutschland die Herausforderungen durch die Aufnahme der Flüchtlinge bewältigen wird („Wir schaffen das!“), geteilt: Skeptische und positive Einstellungen halten sich in etwa die Waage, und ein beträchtlicher Teil, ein knappes Drittel, bleibt in seiner Einschätzung unentschieden. In Westdeutschland ist eine leicht positive Tendenz zu erkennen: Der Mittelwert der fünfstufigen Skala ist von 2,99 auf 3,14 angestiegen, wobei sich in der jüngsten Erhebung eine statistisch signifikante Verbesserung der Stimmung nachweisen lässt. In Ostdeutschland überwiegt die skeptische Einstellung; der Mittelwert stagniert über die Befragungszeitpunkte und liegt aktuell bei 2,74. Bei den Jüngeren überwiegt eine zuversichtliche Einstellung; formal niedriger Gebildete und wirtschaftlich schlechter Gestellte äußern sich skeptischer als höher Gebildete und wirtschaftlich besser Gestellte.
Bei den positiven Entwicklungen im Zusammenhang mit der Flüchtlingsaufnahme erhält die Aussage, dass Deutschland damit Menschen in existenzieller Not zur Seite steht, die höchste Zustimmung: Zu allen Befragungszeitpunkten stimmen hier mindestens 85 % der Befragten zu. Bei Aussagen, in denen es um einen direkten Nutzen für Deutschland geht, ist die Zustimmung eher gesunken: Dies gilt sowohl für das Ansehen, das Deutschland durch die Aufnahme von Geflüchteten gewinnt (von 69 % im November 2015 auf 59 % im Mai 2016), die Alterszusammensetzung der deutschen Bevölkerung (59 % auf 52 %), den Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften (42 % auf 36 %) und den Erhalt der sozialen Sicherungssysteme (39 % auf 36 %). Einen leichten Zugewinn gibt es bei der Frage nach der kulturellen Bereicherung Deutschlands (Anstieg von 61 % auf 64 %). Bei den meisten Aussagen stimmen die Jüngeren, die formal höher Gebildeten sowie die wirtschaftlich besser Gestellten stärker zu.
Welche Bedeutung hat die Wahrnehmung dieser positiven Effekte auf die Zuversicht bei der Frage, ob Deutschland die Herausforderungen durch die Flüchtlingsaufnahme bewältigen wird? Der humanitäre Aspekt („Deutschland steht damit Menschen in existenzieller Not zur Seite“) trägt dazu am wenigsten bei; der heute stärkste – und im Zeitvergleich leicht angestiegene – Effekt ist bei der wahrgenommenen kulturellen Bereicherung zu verzeichnen. Wer dieser Aussage zustimmt, ist also tendenziell zuversichtlicher, was die Bewältigung der Herausforderungen angeht – und umgekehrt. Der Effekt eines erwarteten sozial- bzw. wirtschaftspolitischen Nutzens, der in der ersten Befragungswelle an vorderster Stelle stand, hat dagegen merklich nachgelassen.
Bei vielen Sorgen, die mit der Flüchtlingsaufnahme verbunden sind, zeichnet sich in der letzten Befragungswelle ein zumindest leichter Rückgang ab, wobei fast alle Sorgen immer noch von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung genannt werden. Die größte Sorge bezieht sich auf das Wachsen des Rechtsextremismus (hier liegt ein Rückgang von 85 % auf 77 % vor), gefolgt von der Schwierigkeit, eine bezahlbare Wohnung zu finden (78 % auf 74 %), der Sorge, dass es in anderen Bereichen zu Einsparungen kommt (70 % auf 59 %) oder dass Behörden und Polizei die Situation nicht bewältigen können (64 % auf 54 %). Die Sorgen, dass die meisten Flüchtlinge unberechtigt zu uns kommen oder dass die muslimische Kultur unseren Alltag dominieren wird, äußern im aktuellen Befragungszeitpunkt noch 43 % bzw. 38 %.
Berechnet man wiederum den Effekt, den diese Sorgen auf die Einschätzung der Bewältigung der Herausforderungen durch die Flüchtlingsaufnahme haben, so ergibt sich eine andere Reihenfolge: Die Sorge vor wachsendem Rechtsextremismus spielt hier keine Rolle, sondern die Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung und der staatlichen Handlungsmacht (eingeschränkte Bewegungsfreiheit in bestimmten Gebieten, mangelnde Bewältigung der Situation durch Behörden und Polizei, steigende Kriminalität) haben den stärksten Effekt. Hinzu kommen die Sorgen, dass es in anderen Bereichen Einsparungen geben wird und dass die meisten Flüchtlinge unberechtigt zu uns kommen. Der Abbau gerade dieser Sorgen wäre zentral, um eine positive Perspektive zu stärken.
Erfahrungen des direkten Kontakts mit Flüchtlingen haben zugenommen: Während im November 2015 weniger als die Hälfte der Befragten davon berichten konnte, sind es inzwischen mehr als zwei Drittel; in Westdeutschland sind es 69 %, in Ostdeutschland 57 %. Dabei übersteigen die positiven Erfahrungen die negativen um ein Mehrfaches (in der letzten Befragung 36 % gegenüber 9 %). Der Anteil der differenzierten Antworten (teils/teils) ist stetig angestiegen (von 13 % auf 23 %). Positive Erfahrungen im Umgang mit Flüchtlingen haben eine große Bedeutung (sind jedoch auch kein Garant) für eine zuversichtliche Perspektive zur Bewältigung der Herausforderungen.
Die Bereitschaft zum Engagement für Flüchtlinge ist insgesamt sehr hoch: Etwa drei Viertel der Befragten können sich die ein oder andere Form des Engagements vorstellen. Konkret setzten sich im November 2015 10,9 % für Geflüchtete ein; nach einem zwischenzeitlichen Anstieg liegt der Anteil in der letzten Befragung bei 9,7 %. Ohne Berücksichtigung der besonders häufig geleisteten Geld- und Sachspenden engagieren sich 7,5 %. Man kann also nicht von einem Strohfeuer der „Willkommenskultur“ sprechen; eine Würdigung und weitere Förderung des Engagements ist jedoch wichtig. Zu erwähnen ist, dass der Anteil der Engagierten in Ostdeutschland erstmals den im Westen überschritten hat (7,7 % gegenüber 7,4 %), was angesichts der dort vorherrschenden Skepsis in der Bevölkerung besonders anerkennenswert ist. Formal höher Gebildete engagieren sich häufiger als Befragte mit niedrigerem Schulabschluss; die (positiv eingeschätzte) eigene wirtschaftliche Lage spielt kaum noch eine Rolle für die Ausübung des Engagements (bei den früheren Befragungen stellte sie noch einen gewichtigen Faktor dar).
In der letzten Befragung wurde zusätzlich die Haltung der Menschen zu Abschiebung und Zuzug untersucht. 39 % fordern, abgelehnte Asylsuchende in jedem Fall abzuschieben. Davon ändert jedoch eine Mehrheit ihre Meinung, wenn Kinder und Ehepartner in Deutschland bleiben können: 53 % der ehemals Ablehnenden sprechen sich dann für die Duldung aus (unter allen Befragten sind es 68 %). Wenn sich die abgelehnten Asylsuchenden bereits eine eigene Existenz in Deutschland aufgebaut haben oder mehrere Jahre in Deutschland leben und gut integriert sind, erhöht sich der Anteil auf 72 % bzw. 75 % (unter allen Befragten sind es 79% bzw. 82%). Die Meinung der Befragten ist also stark von den konkreten Kontexten und Konsequenzen von Abschiebungen abhängig. Insgesamt zeigt sich eine erfreulicherweise breite humanitäre Grundhaltung in der Bevölkerung.
Hinsichtlich des Zuzugs von Geflüchteten sind die Meinungen jedoch zurückhaltender: Mehrheitlich wird für eine Begrenzung des Zuzugs bei unterschiedlichen Fluchtursachen votiert. Jeweils ein Drittel befürwortet den uneingeschränkten Zuzug bei Flüchtlingen, in deren Heimat Krieg herrscht oder die politisch oder religiös verfolgt sind. Für einen Zuzug aus wirtschaftlicher Not sind nur 13 %. Die höchste Zustimmung mit 38 % findet der uneingeschränkte Zuzug von Ehepartnern und Kindern von bereits in Deutschland lebenden Angehörigen.
Zur offenen Frage nach Lösungen für das Problem zunehmender lebensbedrohlicher Fluchtversuche nach Europa und Deutschland äußert sich knapp die Hälfte der Befragten mit eigenen Vorstellungen. Dabei dominieren mit 65 % der Nennungen Vorschläge zur Bekämpfung der Fluchtursachen, also zur Verbesserung der Lage in den Herkunftsländern bzw. der potenziell Flüchtenden; 27 % nennen eine Verhinderung oder Begrenzung der Einreise nach Europa.
Fazit: Diese Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts bietet eine differenzierte Wahrnehmung der Stimmungslage zur Herausforderung der Flüchtlingsaufnahme in Deutschland. Sie liefert auch Hinweise zur gezielten politischen Bearbeitung vorherrschender Ängste und Sorgen in der Bevölkerung, aber auch zur Würdigung des bereits geleisteten Engagements. Schließlich fordert sie auch die Kirchen und ihre Mitglieder zur eigenen Positionierung heraus.
Petra-Angela Ahrens, Skepsis und Zuversicht. Wie blickt Deutschland auf Flüchtlinge?, herausgegeben vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD (SI), Hannover: creo-media 2017, ISBN: 978-3-9465250-2-8, 69 Seiten, € 6,50, kostenfreier Download.
Ergebnisse der fünften Befragungswelle im April 2017
weitere Informationen zum Projekt „Flüchtlinge in Deutschland“ auf der Homepage des SI