Warum das Evangelium im Zeitalter der Wissensarbeit eine neue Chance bekommt
Gemeinden als Vorbild im Zusammenwirken?
Das Evangelium und die unterschiedlichen Interessen
In einer lebendigen Gemeinde kommt es irgendwann zu Konflikten. Die alten Hierarchien, die sie früher entschieden, werden aber nicht mehr widerspruchslos hingenommen. Nicht-Geweihte übernehmen mehr Aufgaben und kollidieren nicht nur mit ihrem Pfarrer, sondern auch untereinander. In den zusammengelegten Gemeinden stoßen unterschiedliche Gewohnheiten aufeinander. Der Pluralismus im Glauben macht es schwerer, sich auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen. Unterschiedliche Sichtweisen, Interessen und Emotionen stoßen aufeinander. Meist werden die Spannungen über Macht und Beziehung entschieden oder unter den Tisch gekehrt, aber das löst sie nicht – sie schwelen im Untergrund weiter. Anstatt sich auseinanderzusetzen, redet man dann gar nicht mehr miteinander oder wendet der Gemeinde im Stillen ganz den Rücken zu, ist einfach nicht mehr da.
Der gelebte Umgang in Gemeinden und Gremien steht oft in Kontrast zum Evangelium mit den Worten Jesu, er sei nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern die Auseinandersetzung. Mit den dazugehörenden Regeln, etwa: alles im Tempel stehen und liegen zu lassen, wenn ein Bruder noch etwas gegen einen hat, um sich mit ihm zu einigen; auf jemanden zuzugehen, wenn man ihm etwas vorzuwerfen hat; dass ein Ja ein Ja ist und ein Nein ein Nein.
Das Himmelreich können wir uns damit zwar nicht verdienen. Aber wie wir uns gegenüber anderen verhalten, das ist vor Gott wichtig: ob jemand sein Eigeninteresse mit Ellenbogen verfolgt, unabhängig von den Bedürfnissen anderer, sie gar benutzt und ausbeutet; ob jemand wahrhaftig ist oder den anderen täuscht; ob jemand die Balance findet zwischen seinen eigenen berechtigten Interessen und dem Allgemeinwohl. Das Leben ist der Zeitabschnitt, in dem wir uns in Freiheit für das Gute entscheiden können – was sich erst im Zusammenspiel mit anderen zeigt.
Die Bauern des Mittelalters folgten den vorgegebenen Ackerfurchen und hatten kaum etwas zu entscheiden. Die Arbeiter der Industrialisierung vegetierten neben der Maschine dahin. Doch jetzt in der Wissensgesellschaft, in der die Menschen ständig mit anderen über Einzelinteressen hinweg größere Projekte bearbeiten, gerät der Blick auf das Verhalten des Einzelnen in das Zentrum der wirtschaftlichen Entwicklung. Damit bekommt das Evangelium eine neue Chance, erzählt, bedacht und umgesetzt zu werden. Zwar finden Jesu Worte zum Konfliktverhalten innerkirchlich oft nur als Appell statt. Im Berufsleben dagegen gibt es einen wachsenden ökonomischen Grund, sich stärker kooperativ zu verhalten und Konflikte konstruktiv anzugehen.
Digitalisierung = Umgang mit Wissen
Längst haben die elektronisch gesteuerten Maschinen die meiste materielle Arbeit übernommen und Computer leisten die strukturierte Wissensverarbeitung wie Gehaltsabrechnung oder Robotersteuerung. Was an Beschäftigung wächst, ist die Arbeit am Menschen und die Arbeit mit Wissen: planen, organisieren, beraten, verstehen, was der Kunde meint; unterschiedliche Kompetenzen zusammenführen, um ein Problem zu lösen. Das bringt andere Regeln für Produktivität mit sich als früher an der Stanzmaschine: Umgang mit Wissen ist Umgang mit anderen Menschen, die man unterschiedlich gerne mag, unterschiedlich gut kennt und mit denen man unterschiedliche berechtigte Interessen – oft gegensätzliche – hat. Das Zusammenwirken der Menschen – oder ihr destruktives Verhalten – bestimmen über den Wohlstand: Weniger die Technik als vielmehr die Menschen hinter der Digitalisierung entscheiden über das Maß an Ressourcen, die uns für Soziales, Bildung und Infrastruktur bleiben.
Wenn zwei Abteilungsleiter nicht mehr miteinander reden, hilft keine Technologie. Genau hier ist eine neue Wachstumsgrenze entstanden: Meinungsverschiedenheiten arten zu Machtkämpfen aus, die bis zur Rente nicht mehr versöhnt werden. Mobbing, Partisanenkämpfe und Lügen fressen die innerbetrieblichen Ressourcen auf. Überleben werden am Markt jene Firmen, in denen Wissensarbeit zu geringeren Kosten geleistet wird. Das geht nur mit bestimmten Eigenschaften: mit offener und ehrlicher Kommunikation, mit flachen Hierarchien, mit Kooperationsfähigkeit, Versöhnungsbereitschaft sowie einer effizienten Streitkultur. Wissensarbeit benötigt ein Klima, in dem sich der Einzelne nach seinen Gaben frei entfalten kann; aber nicht für sich, seine Karriere und seine eigenen Kostenstellen, sondern für das Wohl des Ganzen.
Vom früheren Gruppendruck zum Individualismus
Dass die dafür nötige Universalethik zu wenig verbreitet ist, wundert nicht, wenn man sieht, wo wir herkommen: Früher musste sich der Einzelne der Gruppe unterordnen, andere Gruppen wurden gemeinsam bekämpft – Beispiele sind Nationalsozialismus, Kommunismus, religiöse Gruppenethiken („Wir sind die Rechtgläubigen, die anderen kommen in die Hölle“). Als solch eine Gruppenethik aber wurde das Christentum in vielen Jahrhunderten gelehrt und politisch instrumentalisiert – so wie heute noch in den meisten Kulturen auf diesem Planeten. Wertevermittlung glich eher einer Dressur als eigener Reflexion.
Mit Automobil, Computer und stark gewachsenem Wohlstand war es nun möglich, die unberechtigten Fesseln von Religion, Nationalismus und familiärem Druck abzuschütteln. Wenn einem die Predigten am Ort nicht gefielen, konnte man nun mit dem VW Käfer zwei Dörfer weiter fahren – Technik und Wirtschaft sind der Grund, warum sich Kirche und Glauben so ausdifferenziert haben. Je komplexer die Arbeitswelt wurde, umso mehr musste sich ein Fachmann auch gegen andere Meinungen im Team mit seinen Argumenten behaupten – Individualismus war eine Voraussetzung für eine produktivere Gesellschaft. Doch Individualismus kann auch destruktiv sein: „Ich mache, was ich will, was mir guttut, und verfolge meine Interessen.“ In der Spitze entsteht ein Egoismus, der sich auch auf Kosten anderer bereichert, dem das Allgemeinwohl egal ist, für den nur die eigene subjektive Wahrnehmung zählt.
Wenn konservative Kirchenleute meinen, der Individualismus sei schuld, dass die Kirchen so leer geworden sind, dann irren sie: Er ist ein nötiger Entwicklungsschritt auf dem Weg zur Gottes- und Nächstenliebe. Denn nur wer eigenständig reflektiert, hat auch belastbare Werte für sein Verhalten. Böses zu tun gehört zur Freiheit, in die Gott uns stellt: Wir sind nicht die Haustiere vom lieben Gott, die im Käfig „Männchen“ machen müssen, um Futter zu bekommen; das Himmelreich ist keine Zwangshochzeit. Denn Liebe ist nur echt, wenn sie in Freiheit erwählt ist. Deswegen sitzt da auch kein Gott sichtbar auf der Wolke. Denn dann würde kein Finanzhai mehr Schrottpapiere verkaufen, kein Internet-Troll würde mehr Hasskommentare schreiben. Ein Gott, der beweisbar wäre, wäre nicht Gott, denn er hätte uns damit die Freiheit genommen, uns in Freiheit dafür zu entscheiden, das Wohl der anderen und der Allgemeinheit als mindestens ebenbürtig zu betrachten.
Über den Einzelnen hinaus: Universalethik
Das ist auch der Sinn des Kreuzes: In Jesus begegnet Gott den Menschen auf Augenhöhe. Keine Engelarmee kommt, um Jesus vor der Kreuzigung zu schützen. Der Plan Gottes ist kein sinnloser Opfertod, sondern dass sich die Menschen zu Gott bekehren (was die an weltlicher Macht Hängenden nicht tun). Der Mensch bekommt die Freiheit, ihn ans Kreuz zu nageln. Jesus wehrt sich nicht, spielt keine Macht aus, um eben diese Freiheit des Menschen nicht einzuschränken. Doch nicht Freiheit an sich ist das Ziel, sondern die Gemeinschaft mit Gott für jene, die über ihre Gruppe und über sich selbst hinaus das Wohl aller suchen – das ist die Definition von Universalethik. Auch Agnostiker, Atheisten oder Andersgläubige können sich für Universalethik entscheiden, ausgelöst durch die praktischen Herausforderungen des Alltags, aus eigener Einsicht – das entspricht einem anonymen Christentum. Denn nicht derjenige, der „Herr, Herr“ sagt, kommt in das Himmelreich, sondern „wer den Willen des Vaters“ tut. Scheint doch auch das Gericht, von dem Jesus immer wieder spricht, eher ein Richten des Tuns zu sein, das den inneren Bezugsrahmen offenlegt, als ein Richten der Gruppenzugehörigkeit.
Vor Gott ist wichtig: Wofür hast Du Deine Freiheit genutzt? Erst jetzt im Berufsalltag der Wissensgesellschaft hat der Mensch die Möglichkeit, jeden Tag sein Gewissen zu prüfen, ob er sich egoistisch verhält oder das Allgemeinwohl verfolgt. Individualismus reicht in der digitalen Wissensgesellschaft nicht mehr aus für wirtschaftlichen Wohlstand. Zur produktiven Zusammenarbeit gehört Respekt vor den berechtigten Interessen der anderen. Jetzt kann sich keiner mehr in sein eigenes Büro zurückziehen, weil sich alle der Frage stellen müssen: Bauen wir die Maschine – ja oder nein? Und wenn ja, mit welchem Argument?
Schon das Entwickeln gemeinsamer Regeln birgt jede Menge Konfliktstoff, noch bevor überhaupt geschäftliche Entscheidungen getroffen wurden. Die Menschen bringen ihre Wertvorstellungen mit in das Unternehmen, nach ihren Maßstäben gehen sie ihre Konflikte an. Aus wirtschaftlichen Gründen kommen die religiös-weltanschaulichen Reibungen in die Mitte der Gesellschaft. Menschen können stinkfreundlich sein – aber erst, wenn man mit ihnen streitet, offenbart sich ihr wahrer Charakter. Der nächste Entwicklungsschritt ist ein kooperativer Individualismus, bei dem sich der Einzelne nach seinen Gaben entfaltet, sie aber zum Wohl aller einbringt. Die Herausforderung im Berufsalltag heißt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Ist das nicht, wo Gott uns haben wollte? Kaum sind gerade einmal 2.000 Jahre Kirchengeschichte vorüber, gerät das, was das Evangelium ausmacht, in das Zentrum der sozioökonomischen Entwicklung.
Das ist nicht neu: Schon immer hat eine neue Technik die Art verändert, wie Unternehmer Arbeit organisieren, und verschob die Macht in einer Gesellschaft. Beispiel Dampfmaschine: Diese stärkte die Macht der Unternehmer. Sie forderten, im Staat über Steuern mitentscheiden zu können, und lösten so die Französische Revolution mit aus; als Folge wurde die Kirche säkularisiert. Das Automobil ermöglichte eine stärkere Individualisierung, daher konnte sich auch Glauben ausdifferenzieren, mit aller Divergenz in der Kirche – sie reagierte mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Daher ist die Frage zu diskutieren: Wie verändern die Folgen der Digitalisierung heutige Organisationsmuster in Unternehmen, Gesellschaft und eben auch in Kirche?
Diese Sicht lehnen manche engagierte Gläubige ab – sie halten den Glauben für etwas Autarkes –, ebenso den Gedanken, dass sich Glauben positiv auf Wirtschaft auswirkt. Dabei ist eine funktionierende starke Wirtschaft auch als Christ erstrebenswert. Nicht für Überfluss und Konsum, damit jeder einen SUV vor der Garage stehen hat. Vielmehr, damit genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, um Leiden zu verringern, um Bildung für alle und soziale Absicherung zu ermöglichen, um Schwache zu unterstützen und das Allgemeinwohl zu stärken. Wachstum bedeutet, Ressourcen effizienter zu verwenden, mit weniger Ressourcen auszukommen, die Energie nachhaltig ohne zusätzliches CO2 zu gewinnen und vor allem: mehr Wissen zu generieren und anzuwenden. Eine starke Wirtschaft sichert Chancen, dass sich die Menschen mit ihren Gaben entfalten können und die Möglichkeit bekommen, sich in Freiheit für das Gute (oder dagegen) entscheiden zu können – ein Grundanliegen vor Gott. Ein verschleppter Wandel erzeugt Stagnation und Arbeitslosigkeit mit allen Verteilungskämpfen und Krisenerscheinungen. Christen sollten daher die positive Weiterentwicklung einer wachsenden Wirtschaft im digitalen Zeitalter unterstützen.
Das Evangelium verwirklicht sich langsam
Wenn sich dann der aufgewirbelte Staub des Strukturwandels gelegt haben wird, werden jene Firmen übrigbleiben, die der Wirklichkeit so nahe wie möglich kommen, weil sie Informationen über alle Sensoren wahrnehmen. Um das gesamte Wissen in einer Organisation zu mobilisieren, wird sich eine dienende Führungskultur durchsetzen („Der Größte unter euch sei der Diener aller“). Die Menschen werden schwankende Wichtigkeit nicht mehr als Beleidigung ihres Selbstwertes empfinden, ja, sie werden sich gegenseitig fördern und sich über die Leistungen des anderen freuen. Sie werden Informationen nicht nach Nützlichkeit manipulieren, sondern wahrhaftig weitergeben („Dein Ja sei ein Ja“). Sie werden Konflikte fair klären und ihre Beziehungen versöhnen („Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen“).
Statt an ihrem Eigennutz werden sie sich langfristig und an den berechtigten Interessen der anderen Partner, Kunden, Lieferanten orientieren (auch weil wir die Folgen unseres Tuns langfristig nicht überblicken können). Das ist eine Haltung, die über das Einzelinteresse und über die eigene Gruppe hinausreicht und der Universalethik des Evangeliums entspricht.
Während immer mehr kleine Buddha-Figuren in den Büros von Managern stehen, Moslems in Europa einwandern, aber auch christliche Gastarbeiter nach Saudi-Arabien gehen, sind alle religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen weltweit vertreten. Es kommt zu einem Wettbewerb der Religionen und Weltanschauungen, der nicht von Theologen ausgefochten wird oder mit Hilfe der Kalaschnikow, sondern von der Frage: Welche Geisteshaltung kann im Berufsleben besser Kooperationsfähigkeit herstellen? Christentum ist Zukunftsreligion, weil das Evangelium das Wohl aller einschließt, auch jener außerhalb der eigenen Gruppe.
Ausblick für die Kirche: Theologie des Streitens
Dies gilt auch für die Institution: Eine neue innerkirchliche Streitkultur wird zum entscheidenden Prüfstein für die christliche Botschaft. Sie kann ausstrahlen in den Alltag der Firmen und danach in die Konfliktkultur von Familien (was den Anteil an Scheidungen wieder senken, die Familienqualität steigern und die Geburtenrate auf ein ausgeglichenes Niveau erhöhen könnte). Und genau das scheint das Ziel Gottes zu sein: Jesus kam nicht, um „den Frieden zu bringen“, sondern das „Schwert“ (Mt 10,34). Auf jeder Seite des Evangeliums knallt und knistert es. Ob in Kirchengemeinde, Beruf oder als ganze Gesellschaft: Wir müssen lernen, uns mit offenem Visier auseinanderzusetzen, und zwar nach redlichen Methoden, und dabei über die eigenen berechtigten Interessen hinaus das Allgemeinwohl verfolgen.
Die Streitkultur ist der Schlüssel für die meisten innerkirchlichen Probleme: Keiner theologischen oder spirituellen Richtung ist es gelungen, mit ihrer Vision für die ganze Kirche zu stehen. Die individuelle Ausdifferenzierung in der Gesellschaft ist an einem maximalen Punkt angekommen, sodass wieder überindividuelle Ziele und kooperative Verhaltensweisen zunehmen werden, um den Alltag besser bewältigen zu können. Die nächste Generation ist unideologisch und pragmatisch. Eine Vision von Kirche über alle Richtungen hinweg zu schaffen, das bekommt durch die wirtschaftlichen Verluste schlechter Zusammenarbeit im digitalen Zeitalter eine neue Chance – wenn die Streitkultur auf dem Weg dorthin stimmt. In den künftigen Gemeinden werden Laien ihre unterschiedlichen Begabungen einbringen, bekommt das Zusammenwirken in den größeren Pastoralteams und mit den vielen Ehrenamtlichen eine neue Qualität. Jede Diskussion verändert, lässt uns uns gegenseitig besser kennenlernen und zusammenwachsen. Wir brauchen eine Theologie des Streitens als Weg zu Gott: Nicht Nicht-Streiten ist Frieden, sondern Spannungen offenzulegen und sie einvernehmlich auszutragen: Sich auseinanderzusetzen ist der Weg zum Frieden. Streiten ist besser, als gar nicht miteinander zu reden – wenn der Streit die Gemeinschaft festigt. Mit einer innerkirchlichen Streitkultur, die das gegenseitige Absprechen konstruktiv angeht, gelingt ein neuer Aufbruch für das Evangelium in die Gesellschaft hinein.
In seinem Buch „Himmel 4.0: Wie die digitale Revolution zur Chance für das Evangelium wird“ beschreibt Erik Händeler die Chancen für die Kirchen durch die Digitalisierung.
Der KKV Bayern (Landesverband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung e.V.) hat aus den Gedanken von Erik Händeler Zehn Thesen zur Digitalisierung formuliert.