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Die Mystische Kirche

Manifest zur Neugründung der westlichen Kirchen in den mystischen Anfängen des Christentums

Die evangelische Theologin Sabine Bobert propagiert eine neue Reformation des Christentums, die aus der Mystik und aus monastischen Traditionen der Kontemplation und Meditation schöpft. Ihr Ansatz der „Mystischen Kirche“ ist geprägt von Wahrnehmungsschulung und einer Öffnung für das Leben.

Einleitung: Mystik ist …

  • … die Kunst einer hochgradig verfeinerten Wahrnehmung
  • … die Wahrnehmung der Gegenwart Gottes in allen Dingen und Prozessen („Ich sehe was, was du nicht siehst“)
  • … das Verschmelzen von Transzendenz und Immanenz, Jenseits und Diesseits, das Wiederaufschließen des „Paradieses“ hier und jetzt
  • … das Tor zu deinem vollen Entwicklungspotenzial
  • … die Weiterentwicklung der Gesellschaft aus dem Überlebenskampf heraus zu lebendigen Netzwerken
  • … die ursprüngliche Gestalt des Christentums. Jesus war Mystiker.

1. Jesus als Stifter der Mystischen Kirche

Die Mystische Kirche ist die Kirche, die die Anfänge des Christentums ernst nimmt und bis in die Gegenwart hinein fortführt. Das Christen­tum entfaltet sich in der Mystik.

Jesus als Religionsstifter wollte die Menschen auf sein Entwicklungs­niveau anheben: Er brachte den Menschen Erlösung durch Mystik. Mystik ist das Erwachen des menschlichen Bewusstseins zu seinem vollen Potenzial. Mystik ist die Öffnung des Herzens für die Fülle des Verbundenseins mit dem Lebendigen. Mystik ist im Rahmen des Christentums Inkarnation: Es ist die Verkörperung unsterblichen Bewusstseins in Raum und Zeit. Der menschliche Körper dient der Gestaltungsfreiheit.

Mystik ist Aufwachen für die Wahrheit. „Wahrheit“ im mystischen Sinne hängt eng mit „Wahrnehmen“ zusammen. Die spekulative Wahrheit und die Aussagen-Wahrheit im Sinne von adaequatio intellectus ad rem (antike Wahrheits-Definition: Übereinstimmung zwischen Aussage und Sache) sind nur von ihr abgeleitete Wahrheiten. Der Mystiker/​die Mystikerin strebt vielmehr danach, im Fluss der Wahrnehmung zu leben. Daher betrachtet er/​sie die abgeleitete Aussagen-Wahrheit als rasch veraltend. Die gestrige Wahrnehmung kann, zur Aussage geronnen, die heutige Wahrnehmung verdunkeln.

2. Wahrnehmungsschulung als Hauptaufgabe der Kirche

Der katholische Theologe Karl Rahner stellt der Kirche das Entwick­lungsprogramm vor Augen: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Um diese Erfahrungen von Mystikerinnen und Mystikern zu ermöglichen, ist es wichtig, die Wahrnehmung der Christinnen und Christen zu schulen. Wahrnehmung ist etwas anderes als Belehrung. Belehren ist das Vermitteln von Sätzen, Dogmen und Überzeugungen. Wahrnehmen meint: Ich rieche, schmecke, sehe, höre, spüre … Das Wahrnehmen bezieht sich im Alltag auf Sinnliches und in der Mystik auf die Ebene, die in der Gegenwartskultur mit dem sogenannten „sechsten Sinn“ oder dem „Übersinnlichen“ verbunden wird. Das scheinbar „Übersinnliche“ ist aber nicht das Absurde. Es ist lediglich diejenige Sinnesdimension, die dem oberflächlichen Betrachter verborgen bleibt. Nehmen wir als Beispiel eine Katze oder eine Eule: Diese Tiere sehen etwas im Dunkeln, was Menschen mit ihren Augen – ohne Unterstützung von Infrarotsicht – nicht sehen können. Oder eine Fledermaus: Sie orientiert sich mit Hilfe von Echoortung, einem Biosonar. Sie ist im Unterschied zum Menschen in der Lage, hochfrequenten Schall wahrzunehmen. Ähnlich ist die Wahrnehmung des scheinbar „Übersinnlichen“ in der Mystik zu verstehen. Die Fähigkeiten von Mystikerinnen und Mystikern sind in jedem Menschen angelegt. Es handelt sich um eine gründlichere, ver­tiefte Wahrnehmungsform gegenüber dem raschen Alltagsblick und einem oberflächlichen Meinen und Vorwissen.

Der Alltagsmensch hat – spätestens seit seiner Schulbildung – seinen Lebensschwerpunkt von der Wahrnehmung hinein in Phantasien und Konzepte verlagert. Die Kirche kann wichtige Beiträge dazu leisten, diese hinderliche Schwerpunktverlagerung wieder zu Gunsten der Wahrnehmung des „Hier und Jetzt“ zu verschieben. Die Mystische Kirche lebt nicht vorrangig in der Lehre oder Belehrung. Sie lebt in der Wahrnehmung des Hier und Jetzt. Hier und jetzt erscheint Gott oder das Göttliche. Mit Ignatius von Loyola geht es bei Spiritualität darum, Gott in allen Dingen zu suchen und zu finden.

Die Mystische Kirche sieht ihre Hauptaufgabe in der Wahrnehmungs­schulung durch Vermittlung überlieferter und neuer Meditations­methoden (vgl. Bobert 2011). Solche Meditationsmethoden reichen von der klassischen Sitzmeditation bis hin zu breit gefächerter Achtsam­keitsschulung für den westlichen Alltag. Eine christliche Kernmethode zur Wahrnehmungsschulung ist das christlich-orthodoxe Jesusgebet bzw. Herzensgebet. Die Bibeltexte werden als Einweisung in die Wahr­nehmung der Gegenwart Gottes verstanden. Das „Reich Gottes“ ist ein Bewusstseinszustand, der in allen Menschen angelegt ist. In diesem Bewusstseinszustand wird die Gegenwart Gottes in allen Dingen und Ereignissen transparent. Jesus ist der Verkünder und Verbreiter dieses Bewusstseinszustandes. Die Bibel nennt diesen Bewusstseinszustand auch „Heiliger Geist“. Dieser „Heilige Geist“ geht von Jesus und von der göttlichen Quelle, dem „Vater“, gleichzeitig aus (Dies wird auch im Glaubensbekenntnis von Chalcedon als filioque so gelehrt). Der „heilige“ Geist ist der göttlich klar gewordene Geist des Menschen. Er erlangt ihn in der Vereinigung mit der göttlichen Quelle allen Bewusstseins. Im Kultur-Zustand ist der menschliche Geist von Überlebenskampf-Emo­tionen und einer Überlast von falschen, unwahren Gedankenformen wie verstopft und vermüllt. Indem der Mensch zunehmend begreift, dass er nicht in erster Linie „die Form“ ist, sondern dass er reinem göttlichen Bewusstsein entstammt und aus dieser Quelle alle Erneuerung erfährt, identifiziert und beengt er sich immer weniger durch kulturelle For­men. In innerer Distanz, zunehmend mit Gott geeint, spielt er kreativ mit ihnen und wird so zum kulturellen Erneuerer.

Mit diesem Bewusstseinszustand eines zunehmend geheiligten, gerei­nigten Bewusstseins sind scheinbar übernatürliche Fähigkeiten ver­bunden. Der Gegenwartskultur erscheinen sie als „übernatürlich“, weil sie den Menschen in hierarchischen Beziehungen und überwiegend im Überlebenskampf-Modus (Konkurrenz, ausgelöste Ängste, darwinis­tische Vorstellungen statt Empathie) nur unterdurchschnittlich zu entwickeln vermag. Die Gegenwartskultur spezialisiert den Menschen früh auf wirtschaftliche Bedürfnisse, ohne auf das Grundbedürfnis des Menschen nach Entfaltung seiner höchsten Fähigkeiten einzugehen. Sie verschweigt ihm seine transhumanen, quasi gottgleichen Fähigkeiten. Dadurch sterben die meisten Menschen trotz ihrer Glückssuche, ohne den Reifezustand der Vergöttlichung (griech. theosis) je erlebt zu haben. Auch viele westliche Kirchen lehren diesen Zustand weder in Predigten noch im Religionsunterricht noch im Rahmen der Erwachsenenbildung.

Die Mystische Kirche antwortet dem nach Glück suchenden Menschen, indem sie ihm die Quelle des Glücks in der contemplatio, der visio beatifica bzw. der „seligen Schau“ wieder erschließt. Christliche Theo­riebildung ist aus dieser theoria abgeleitet. Theoria meint im ursprüng­lichen Sinne die Schau Gottes (von griech. theos – „Gott“ und horao – „sehen“ abgeleitet). Erst der Mensch, der zur theoria gelangt ist, weiß um die Großartigkeit seiner wahren Natur.

3. Die Natur des Menschen

Die Sündenpredigt der Kirchen verstärkt in vielen Menschen das Grund­gefühl, unzulänglich und unwert zu sein. Sie beziehen die Sündhaftig­keit auf einen Makel in sich selbst. „Sünde“ im mystischen Sinne meint jedoch ein Getrenntsein. Es handelt sich um einen relationalen (Bezie­hungs-Aussage), nicht um einen ontologischen Begriff (Seins-Aussage). Sünde ist also akzidentiell, nicht ontologisch.

Sünde bezieht sich im mystischen Sinne auf die Erfahrung von Sinnlo­sigkeit und Chaos durch einen Verlust an Verständnis für die eigentliche Ordnung. Die Ideologien von Materialismus und Konsumismus (bzw. die Dominierung fast aller gesellschaftlichen Bereiche durch Markter­fordernisse aus der Wirtschaft) verstärken dieses Zerrissenheitsgefühl im Menschen.

Mystik zeigt dem Menschen in der westlichen Kultur, dass er weitge­hend als Nutz-Mensch, analog zum Nutz-Tier, für wirtschaftliche Erfor­dernisse herangebildet wurde. Hierbei wurde ihm die Offenlegung seines eigentlichen Wertes und seiner großartigen, in ihm angelegten Fähigkeiten verschwiegen. Ob dies bewusst geschieht oder in Verges­senheit des ursprünglichen Christentums, sei an dieser Stelle offen­gelassen.

Die Mystische Kirche geht davon aus, dass jeder Mensch ein Mystiker ist (vgl. hierzu die anfänglichen Studien des transpersonalen Psychologen Abraham Maslow [1908–1970]; vgl. Maslow 2014). Jeder Mensch ist in seinem Wesen auf Gottgleichheit angelegt. Dies ist auch in der alten Lehre der imago Dei (Gottebenbildlichkeit) angelegt. Als Mensch aufzu­wachsen, würde in einem natürlichen, unterstützenden Entwicklungs­verlauf auf die stufenweise Entfaltung dieser Gottgleichheit zielen.

Einige zentrale Grundbedürfnisse werden dabei von Anfang an durch die westliche Gegenwartskultur torpediert: Grundbedürfnisse nach Sicherheit, nach Anerkennung im Sosein und Anderssein, nach Ver­bundensein mit der Natur und in sozialen Netzen. Die Hauptstörungen liegen im Konkurrenz- und Leistungsdenken, das sich bereits im Beno­tungssystem durch Schulen und in nutzenorientierten Feedbacks (gut – böse, richtig – falsch) niederschlägt. Dies vergiftet das Selbstverhältnis und die Beziehungen, auch spätere Liebesbeziehungen. Der Mensch verlernt, sich und andere so zu nehmen, wie sie sind, unabhängig von Nutzen und Bewertungssystemen. Die Natur bewertet nicht. Daher ist sie für viele ein wichtiger Rückzugs- und Selbsterfahrungsraum geworden.

Ein weiteres Problem ist die Dominanz von Angst als Grundgefühl westlicher Gesellschaften. Sie wird durch Massenmedien und durch die Besitzlosigkeit vieler Menschen von Geburt an getriggert. Der Mensch, dem eigentlich die Erde gehört, erlebt von Anfang an, dass fast alles für Geld erworben und geliehen werden muss. Auch für mönchische Expe­rimente auf Zeit stehen kaum noch freie Rückzugsorte wie Wälder oder Höhlen zur Verfügung, wie dies noch zu früheren Zeiten oder in anderen Kulturen möglich war und ist. Dadurch erscheint die gegenwärtige Ge­sellschaftsform vielen Menschen als quasi allmächtig und alternativlos.

Die Mystische Kirche sieht auch in der gegenwärtigen wirtschafts­dominierten Gesellschaftsform eine vorübergehende Erscheinung. Sie stellt – wie das Mönchtum in früheren Jahrhunderten – vom Wissen um das Wesen des Menschen her Grenzen der Wesensentfaltung in allen gesellschaftlichen Bereichen in Frage. Hierzu gehören Religionssysteme, die zu stark mit derzeitigen Mainstream-Interessen konform gehen, Bildungsziele und -inhalte und eine quasi massenmediale Verblödung. Alle diese Systeme können geöffnet werden für die In-Formation des Menschen, statt seiner Deformation zu dienen.

4. Qualitäten des befreiten Bewusstseins des Menschen

Das menschliche Bewusstsein kann mehr, als nur Inhalte zu speichern, sich ethisch auf Zeit-nützliche Ethiken durch Feedbacksysteme (wie Noten und Fremdbewertungen) programmieren zu lassen und vor allem der gegenwärtigen Wirtschaft dienende Kompetenzen zu entwickeln. Auch der menschliche Wille ist zu mehr in der Lage als zur Disziplin und zum tadellosen Funktionieren. Ein Hauptmerkmal menschlicher Frei­heit ist es, nicht fremde Ziele diszipliniert abzuarbeiten und in fremd­gesetzten Strukturen das Leben zu verbringen, sondern sich eigene Ziele zu setzen und sie aus eigener Willensstärke heraus unbeirrt zu verfolgen.

Solche Deprogrammierungen von gesellschaftlichen Normen und Er­­fordernissen hatten ihren klassischen Sitz im Mönchtum. Indem das Mönchtum seit der Reformation zunehmend aus westlichen Gesell­schaften verdrängt wurde, fehlen weitgehend sichtbare Modelle, mit denen sich junge Menschen identifizieren und nach denen sie streben können. Kunstprodukte von Idolen, die gesellschaftskonforme Werte vertreten (auch in Gestalt von Protestkulturen statt von Positions­kulturen mit höheren Werten als denen der Gesellschaft), sind ein schaler Ersatz für das klassische Modell von „Heiligen“, die die Be­wusstseinsqualitäten hoch entwickelter Menschen nachlebbar und mitlebbar leben.

Die Realität von Jesus als einem gottgleichen Menschen mit voll ent­wickeltem Bewusstsein wird in vielen Predigten westlicher Kirchen angezweifelt. Sofern Jesus Vorherwissen und übernatürliche Kom­munikation lebt und mit „Materie“ wie mit einer Traumrealität umgehen kann (Brotwunder, Ostern, Himmelfahrt), wird dies im Rahmen der akademischen TheologInnenausbildung als nachösterliche Fiktion entwertet. Damit wird auch das Modell „Jesus“ demontiert. Vielen westlichen Menschen bleiben dann immerhin fernöstliche Religionen und deren Meister, wenn auch umständlich, erreichbar.

Die Mystische Kirche will diese höheren Bewusstseinsqualitäten mitten in der westlichen, durchökonomisierten Gesellschaft beheimaten und fördern. Jeder Mensch, der in diesem Sinne nach seiner wahren, höhe­ren Bildung strebt und nach mehr fragt als nach Sex und Kaufkraft, soll Ansprechpartner und Wege zu seiner Bewusstseinsentwicklung finden.

Hierbei ist es wichtig, dass diese Wege mit dem Lebensrhythmus west­licher Menschen zusammenpassen. Dies bedeutet zum Beispiel, dass er kaum Möglichkeiten für monatelange oder gar jahrelange Rückzugs­zeiten hat. Und dass er in seinen Alltag keine stundenlangen Sonder­zeiten für Meditationen einbauen kann.

Die grundlegende Bildung im mystischen Sinne besteht in der Vermitt­lung von Methoden zur Fokussierung des eigenen Geistes. Die westliche Gesellschaft entzieht dem Kind systematisch die Aufmerk­samkeit und verlagert sie ins Außen – hin zu Inhalten und Personen, die dem Kind durch die Erziehung als notwendig vermittelt werden. Mit zunehmen­dem Alter wird die Aufmerksamkeit noch weiter zersplittert. Auf­merksamkeit ist, mystisch verstanden, jedoch Macht und Selbstmäch­tigkeit. Wer die Kontrolle über seinen Aufmerksamkeitsfokus verloren hat, der kann sein Leben kaum noch steuern. Er erlebt durchaus Leben­digkeit, jedoch von außen animiert. Er erlebt sich selbst nicht mehr als Quelle von Leben, Glück oder Macht. Methoden zur Fokussierung der eigenen Aufmerksamkeit sind daher die Grundlage von Bewusstseins­befreiung und Rückgabe der Macht an die Einzelnen.

Das klassische Jesusgebet ist seit Jahrhunderten der wichtigste Weg im mystischen Christentum. Nur ein fokussierter Geist vermag, die Wun­der Jesu als real zu begreifen. Und er vermag, sie zunehmend selbst zu vollbringen. Hierbei ist es auch wichtig, auf wen oder was der Geist fokussiert wird. Denn der menschliche Geist verschmilzt mit dem, was er betrachtet. Im christlichen Mönchtum waren die Menschen daher stets darum bemüht, Zielzustände und die Personen zu betrachten, mit denen man sich gerne vereinigen möchte.

Westliche massenmediale Inhalte führen oft zur Verrohung und Anima­lisierung des menschlichen Geistes. Der Mensch verliert dann zuneh­mend den Respekt vor sich selbst. Das Mönchtum der orthodoxen Kir­chen kennt hingegen noch den Zielzustand des „engelgleichen Lebens“ (griech. bios angelikos). Hier ist das Bewusstsein von vielen Trübungen befreit. Es vermag, Entferntes wahrzunehmen, mit Tieren zu kommu­nizieren, wortlos Informationen aus Menschen zu empfangen und sogar die Todesgrenze kommunikativ zu überwinden. Bewusstsein taucht dann ein in den Daten- und Weisheitspool der Menschheit, über räum­liche und zeitliche Grenzen hinweg.

Der Einzelne vermag dann in diesem Zustand auch zunehmend selbst über seine „Identität“ zu entscheiden. Sie ist dann immer weniger durch seine bisherige Geschichte determiniert. Vielmehr kann er sie selbst fließend determinieren, indem er seine Aufmerksamkeit auf Aspekte lenkt, die er gern entwickeln möchte. Identität wird zum frei wählbaren Fluss-Projekt.

5. Luther und die Folgen

Luther und die westlichen Reformatoren sind untrennbar mit der Arbeitsethik und dem westlichen Wirtschaftssystem verschmolzen. Eine zweifelhafte Funktion Luthers besteht darin, dem Menschen den kontemplativen Weg der Selbsterkenntnis verschlossen zu haben und ihn stattdessen in seiner Lebensweise auf den homo oeconomicus zu reduzieren, den ständig tätigen homo faber. Luther übernahm von dem Kartäuserprior Guigo II. die mystische Formel: lectio – meditatio – oratio – contemplatio. Dies ist die klassische mystische scala claustralium – ein Stufenweg zur Bewusstseinsentwicklung. Die Stufen bestehen im medi­tativen Lesen heiliger Texte, im stillen medi­tativen Verinnerlichen der Bildszenen und Worte, im Sich-Beziehen auf Gottes Gegenwart und – als Höhepunkt – im Verschmelzen mit seiner Gegenwart und im Gleich­gestaltetwerden mit seiner Bewusstseinsklarheit.

Luther trug zur Reduktion der menschlichen Wesenserkenntnis bei, indem er die contemplatio, also die Gottes- und Wesensschau, durch „Anfechtung“ ersetzte. Und indem er die Orte dieser Wesensschau als überflüssig abschaffen ließ und an die Stelle der Wesensschau die Sinnstiftung durch ein Leben voll Arbeit setzte. Ab jetzt sollte die Arbeit die Sinn­stiftung leisten. In der Gegenwart bedeutet dies für die meisten Menschen, dass sie ihre Sinnstiftung in fremdbestimmter, abhängiger Lohnarbeit im Rahmen einer 40-Stunden-Woche suchen. Dies führt viele Menschen in die Erfahrung von Sinnlosigkeit und Burnout.

Die Mystische Kirche sucht, diesen Fehler des Reformators Luther zu korrigieren, indem sie die Contemplatio-Erfahrung wieder als zentrale sinnstiftende Erfahrung herausstellt und Menschen zu vermitteln sucht. Darin liegen eine enorme Befreiung und der Schlüssel zu neuer Selbstachtung.

6. Kooperationspartner der Mystischen Kirche

Die Mystische Kirche versteht sich als verwurzelt in den Anfängen des Christentums, vor allem in den ersten sechs Jahrhunderten. In dieser Zeit lebte seine mystische Tradition noch, während sie später im Mönchtum zunehmend exklusiv ausgegrenzt wurde. Dadurch wurde die Tradition bewahrt, jedoch zugleich den „Laien“ entzogen. Dies gilt bis heute für den zentralen Erleuchtungsweg durch das Jesusgebet in den christlich-orthodoxen Kirchen (vgl. Bobert 2010). Wer dessen Geheimnisse erfahren möchte, muss Mönch oder Nonne werden. An Laien werden nur teilweise Geheimnisse vermittelt. In dieser Hinsicht vertritt die Mystische Kirche ein umgekehrt reformatorisches Anliegen: Das Mönchtum soll nicht abgeschafft, sondern demokratisiert werden. Seine Geheimnisse sollen allen offenstehen, die danach verlangen.

Zentrale Kooperationspartner der Mystischen Kirche bleiben – aufgrund der Wahrung der alten mystischen Traditionen – die orthodoxen Kir­chen und das christliche Mönchtum, ebenso bereits bestehende kon­templative Bewegungen in den Kirchen.

Darüber hinaus sind die mystischen Traditionen in den Weltreligionen wichtige Gesprächspartner. Die Transpersonale Psychologie (C. G. Jung, Abraham Maslow, Russel Targ und weitere Vertreter) bietet wichtige Reflexionsansätze zum Verständnis mystischer Prozesse. Ken Wilber ist ein wichtiger Vertreter, der westliche und östliche Psychologie in Systemen zusammenzudenken versucht („Integrales Christentum“).

Strömungen, die dem Anliegen der Mystischen Kirche sehr entgegen­kommen, finden sich auch im Kulturtrend „Minimalismus“, in der Suche nach alternativen und nachhaltigen Wirtschaftsformen, in pädagogischen Konzepten, die Kinder naturverbunden und weniger manipulativ (durch Bewertungssysteme) aufwachsen lassen, und in postmodernen Meditationsbewegungen. Sie alle sind willkommene Gesprächspartner für den Aufbau einer Mystischen Kirche.

7. Realisierung des Projektes

Die Mystische Kirche startet als eine „emergente Kirche“ (vgl. Wikipe­dia: „Emerging Church“). „Emergente Kirche“ bedeutet, dass aus höhe­ren Quantitäten neue Qualitäten entstehen werden. Menschen bringen ihre Fähigkeiten ein, ermitteln Bedarf und organisieren sich selbst.

Dies bedeutet, dass sie nicht zentral organisiert und geleitet wird. Sie ist eine Netzwerk-Kirche, die sich in eigenen Netzwerk-Knoten organisiert. Ein Teil des Netzwerkes besteht im „Urban MystiX e.V.“ mit Sitz in Stuttgart. Ein weiterer Netzwerk-Knoten entwickelt sich derzeit in der Evangelischen Landeskirche der Pfalz im Rahmen der PfarrerInnen-Fortbildung (Ansprechpartner: Pfarrer Dr. Wolfram Kerner).


Wichtige Links

Kostenloser Youtube-Kanal: „Mystik und Coaching Prof. Sabine Bobert“

Webseite von Sabine Bobert mit Blog und Aufsätzen rund um Mystik

Das „Urban MystiX Manifest“ auf Youtube

Webseite des Vereins „Urban MystiX e.V.“
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