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Sinnstiftende Erzählungen und ihre Rolle für die Zukunft des Christentums – eine Perspektive der Transformationsforschung

Aus der Perspektive der Transformationsforschung blickt Monika Zulawski auf das große sinnstiftende Narrativ des Christentums. Sie begründet seine Langlebigkeit im Anschluss an den jüdischen Religionsphilosophen Walter Homolka mit der Figur von Jesus Christus und dem Evangelium selbst. Ange­sichts aktueller Krisen sieht sie das Momentum gekommen, um für alte, zeitbedingte und nicht mehr verständliche Fragmente des Narrativs neue Fragmente zu suchen und diese in die Breite der Gesellschaft zu tragen. Auf diese Weise, so ist sie überzeugt, eröffneten sich Zukunftschancen.

Erzähl mir eine Geschichte …

„Erzähl mir eine Geschichte …“ – zum Beispiel die vom Rotkäppchen und dem bösen Wolf. Erzähl mir die Geschichte und ich werde den Wolf ausrotten, weil du sagst, er sei böse. Erzähl mir die Geschichte, und noch Generationen später werden alle glauben, dass der Wolf böse ist. Es wird schwer sein, Men­schen vom Gegenteil zu überzeugen. Außer, du erfindest eine Geschichte, die die alte in den Schatten stellt. Und selbst wenn: Werden wir dann alle zu Wolfrettern? Oder wird es uns egal sein, weil die Natur uns inzwischen fremd geworden ist?

Eine Geschichte zu erzählen mag durchaus der Beginn einer großen Bewegung sein. Und wenn wir auf die Vergangenheit schauen, werden wir viele solcher Geschichten – auch Narrationen genannt – finden: große Geschichten, die globale oder nationale Historie schrieben; kleine Geschichten, die regional oder gruppenbezogen wirkten. Schöne Ge­schichten wie die vom „amerikanischen Traum“; schreckliche Geschich­ten wie die zur Zeit des Nationalsozialismus. Geschichten, die sich aus­breiteten und motivierten, die Botschaften transportierten, Zeitgeist schufen und – wenn sie wirklich gut waren – von Genera­tion zu Gene­ration weitergegeben wurden. Auch dann, wenn die Rahmenbedingun­gen sich veränderten, wenn am ursprünglichen Motiv nicht mehr viel dran war. Sie charakterisieren die Zeit, in der sie lebendig waren, und werden nicht selten erst rückblickend als solche erkannt.

Seit den 1990er-Jahren werden diese Geschichten – oder vielmehr deren Quintessenzen – als Narrative bezeichnet. Es handelt sich um sinnstif­tende Erzählungen, die – zum richtigen Zeitpunkt platziert, wie etwa Angela Merkels „Wir schaffen das“ oder Barack Obamas „Yes, we can“ – durchaus das Potenzial haben, zumindest zeitweilig unsere Kultur zu prägen und unser Handeln zu bestimmen. Politik, Wirtschaft und Wis­senschaft haben den Wert von Narrativen erkannt und die eine oder andere Geschichte erfunden – sei es als Unternehmensphilosophie, als politische Vision oder wissenschaftliche Theorie. Und trotzdem: Eine politische Agenda, ein wirtschaftliches Ziel, eine wissenschaftliche Erkenntnis in ein Narrativ zu übersetzen und lebendig zu machen, ge­lingt in den meisten Fällen nicht. Weil nach allgemeinem Verständnis Narrative nicht entwickelt werden können, sondern in und aus der Gesellschaft heraus geboren werden. Etwa die Bewegung „Fridays for Future“, die – von einer einzelnen Person ins Leben gerufen – zu einem globalen Beben wurde und deren Narrativ mit dem Symbol des „bren­nenden Hauses“ inzwischen zur politischen Agenda geworden ist: „Ich will, dass ihr in Panik geratet!“

Narrative als sinnstiftende Erzählungen

Verstehen wir Narrative als sinnstiftende Erzählungen, die ohne viele Worte auch komplexe Zusammenhänge wiedergeben können, darf man sie als den Kitt ansehen, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Narra­tive können zum einen gesellschaftliche Debatten strukturieren und richtungsweisend wirken, zum anderen auf individueller Ebene ein Kompass sein, wenn es um persönliche Entscheidungen oder grund­legende Lebenseinstellungen geht. Freie Marktwirtschaft, die Freiheit des Einzelnen, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Demokratie gehören zu den aktuellen Narrativen – oder könnten zumindest im Nachhinein als solche identifiziert werden. Narrative können sich gegenseitig beeinflus­sen und – so hat uns die jüngste Vergangenheit gelehrt – durch kurz- und langfristige Krisen bedroht sein oder gar von anderen Narrativen abgelöst werden. Die Transformationsforschung hat gezeigt, dass es in ruhigen Zeiten schwer ist, ein Narrativ aufzugeben und ein neues zu schaffen. Wir sprechen von einer Pfadabhängigkeit, die solange beste­hen bleibt, bis man gezwungen ist, diese zu hinterfragen. Krisen – gesellschaftliche wie individuelle – sind dagegen Zeitpunkte, die uns zwingen, eingeschlagene Wege zu hinterfragen, und sind oftmals die Geburtsstunden neuer Narrative.

Für die Bedeutung eines Narratives ist zumindest zum Zeitpunkt seiner Geburt entscheidend, ob und in welcher Weise es einen konkreten All­tagsbezug bietet, ob es ein Bedürfnis anspricht und – wenn ja – inwie­weit es in die individuelle Lebensführung der Zielgruppe passt. Ent­sprechend müssen Narrative zunächst fragmentieren, in einzelne, kon­textbezogene Aspekte zerfallen, auf die individuelle Ebene herunter­gebrochen und aus dem eigenen Alltag heraus interpretiert werden können, bevor sie gesellschaftlich akzeptiert, verallgemeinert und nicht mehr infrage gestellt werden. Es mag daran liegen, dass wir aus der Gegenwart heraus und in die Zukunft gerichtet versuchen, Narrative zu identifizieren und zu formulieren, dass sich gegenwärtig lediglich eine Vielzahl von Mikronarrativen ausmachen lässt. Diese werden zusam­mengefasst und möglicherweise erst rückblickend als Fragmente großer Narrative identifiziert. So ernährt sich beispielsweise eine noch ver­gleichbar kleine Zahl von Veganern und Vegetariern aus unterschied­lichen Motiven gemüsebasiert. Möglicherweise werden diese rückwir­kend als Fragmente einer großen Bewegung identifiziert, deren Narrativ der Klima- und Umweltschutz ist. Umgekehrt lässt sich dies auch auf den Erhalt alter, etablierter Narrative übertragen: Damit ein Narrativ fortbesteht und nicht durch ein anderes abgelöst wird, muss es in seinen Fragmenten wandelbar sein, seinen Mehrwert und seine Gültigkeit auch dann konkret werden lassen, wenn sich Rahmenbedingungen verschieben. Es müssen sich neue, passende Fragmente finden, die im Alltag bestimmter Zielgruppen eine Rolle spielen. Wurde beispielsweise die demokratische Staatsform der westlichen Welt Jahrzehnte lang nicht ernsthaft infrage gestellt – was sich in tendenziell niedriger Wahl­beteiligung bemerkbar machte –, wird sie heute als zunehmend bedroht angesehen und die Wahlbeteiligung steigt wieder. Möglich, dass dahin­ter diverse Fragmente des Narratives Demokratie stecken, die einzelne Individuen einer Gesellschaft an die Wahlurnen treibt: etwa die Unzu­friedenheit mit der aktuellen Politik, um bewusst eine Person zu erhal­ten oder zu verhindern, aus der Sorge um die Mitbestimmung, aus Angst vor einer Situation wie in anderen Ländern der Welt, durch Druck von Freunden und Familie oder als bewusster Beitrag für die Zukunft der kommenden Generationen.

Gefördert wird die Vielzahl der Fragmente zum einen durch eine zuneh­mend bunte Gesellschaft, in der alle Lebensformen akzeptiert und aner­kannt sind, in der es nicht mehr ein Richtig und ein Falsch gibt, in der kulturelle Aspekte nebeneinanderstehen dürfen (und sollen!). Uns steht eine Vielzahl der Möglichkeiten zur Verfügung und nahezu alles ist möglich – sei es im Konsum, in Bezug auf die Lebensweise oder mit Blick auf die Zukunft eines Individuums. Gleichzeitig werden wir ge­zwungen, Prioritäten zu setzen, müssen abwägen und in Dilemma­situationen wählen – etwa zwischen der in Folie verpackten Gurke aus biologischem Anbau und der unverpackten, aber konventionell produ­zierten Gurke. Wir müssen Dinge billigen, die wir eigentlich ablehnen – etwa beim Kauf eines Smartphones oder bei der Wahl eines Automobils. Zum anderen ist – nicht zuletzt bedingt durch die Digitalisierung unse­rer Informationswege – global ein intensiver Austausch möglich. Wir erfahren Dinge, die wir früher nicht erfahren hätten, können Behaup­tungen hinterfragen und uns informieren, sogar ohne das Haus zu ver­lassen, andere Länder und Sitten kennenlernen und dieses Wissen – bewusst oder unbewusst – in unseren Alltag integrieren. Was der eine für sich als vertretbar ableitet, wird die andere möglicherweise als falsch ansehen. Narrative geben Orientierung, Fragmente lassen sie lebendig werden.

Alte Fragmente des christlichen Narratives

Betrachten wir die vergangenen zweitausend Jahre der europäischen Geschichte, werden wir kaum ein langlebigeres und beständigeres Narrativ in unserer Gesellschaft finden als das des auferstandenen Chris­tus. Der Ursprung dieses Narratives – der Glaube an einen Schöpfer – ist sogar noch einige Tausend Jahre älter und darf in seiner Interpretation durch das Christentum, das Judentum und den Islam diesen An­spruch auch im globalen Kontext erheben. Und das, obwohl die den Glauben propagierenden Institutionen, zu deren primären Aufgaben die Streu­ung und Weitergabe eben dieser Narrative gehört, auf sehr bewegte und phasenweise düstere Zeiten zurückblicken. Wo das Narrativ im Kern unverändert zweitausend Jahre oder mehr überstand, hat die Institu­tion Kirche sich mehrfach gewandelt und befindet sich – wie unsere Gesellschaft auch – weiterhin im ständigen Wandel. Walter Homolka bezieht sich auf Adolf von Harnack und begründet die Langlebigkeit des christlichen Narratives mit der Figur von Jesus Christus und dem Evangelium selbst: das überzeitliche der Botschaft (das Narrativ!) selbst blieb bestehen, während das Zeitbedingte der Person Jesu (in Form von Fragmenten) sich gewandelt hat – und sich auch heute noch wandelt (vgl. Homolka 2020, 83). Aber wandelt es sich schnell und flexibel genug, um mit dem beschleu­nigten Wandel unserer Gegenwart mithalten zu können? Welche Quint­essenzen werden transportiert und welche Fragmente lassen sich davon ableiten?

Betrachten wir zunächst das Narrativ und die alten Fragmente, in die das Christentum in der europäisch geprägten Gesellschaft zerfällt bzw. zerfiel. Das wichtigste Versprechen des Christentums ist ohne Zweifel die Vergebung der Sünden und ein ewiges Leben nach dem Tod. Dieses eigentliche Narrativ ist heute durchaus noch gefragt. Spätestens beim Verlust eines lieben Menschen finden viele Trost in der Hoffnung auf ein Wiedersehen am Ende des eigenen Lebens. In schwerer Krankheit und im Alter ist das Narrativ eine Option, auf die sich viele beziehen, und es wird seine Bedeu­tung – vorausgesetzt, die Überlieferung von Genera­tion zu Generation wird gewährleistet – nicht ohne weiteres verlieren.

Anders steht es um die Fragmente des Narratives. Das Versprechen des gedeckten Tisches malt das tröstende Bild eines Festmahls, wo es an nichts fehlt, Kummer und Sorgen, Krankheit und Schmerz nicht mehr sind. Dieses Fragment der Verheißung hat gegenwärtig global ganz unterschiedliche Bedeutung. Landwirtschaftliche Überproduktion und ergänzende Lebensmittelimporte sorgen in der westlich geprägten Welt für stets gefüllte Supermarktregale; ausgezeichnete medizinische Ver­sorgung und Medikamente lindern körperliche Leiden. Was also bringt das Versprechen, wenn wir bereits den Himmel auf Erden haben und diese Sehnsucht nicht bedient werden muss, ja nicht mal nachvollzieh­bar ist? Dieses Fragment mag eine der Erklärungen sein, warum in den Ländern des globalen Südens dem christlichen Narrativ mehr Bedeu­tung beigemessen wird als etwa in West- und Mitteleuropa. Hier fehlt der Bezug zum Alltag, das Fragment spielt keine Rolle mehr, es bietet – wenn auch aus christlicher Perspektive nicht nachvollziehbar – keinen Mehrwert.

Ähnliches mag für viele biblische Gleichnisse gelten. Mögen sie in frü­herer Zeit notwendige Wegweiser gewesen sein: Heute gelten viele ihrer Schlussfolgerungen als Ausdruck guter Erziehung – oder als Idealbilder, die nicht in den Alltag passen. Das Gleichnis selbst ist nicht mehr nötig, es wurde aus dem Kontext genommen, in andere Lebensbereiche inte­griert und geht in einem anderen Narrativ auf.

Auch das alte Fragment vom Fegefeuer und dem Teufel in der Hölle, der auf jeden von uns wartet, der den Glauben infrage stellt, ist heute weit überholt. Angst ist kein Glaubensmotiv mehr, ganz im Gegenteil: Wenn Christus für jeden von uns am Kreuz gestorben ist, spielt es doch eigent­lich keine Rolle mehr, ob ich glaube oder nicht. Denn, so ein – vielleicht oberflächliches – Fragment: Wenn es Gott gibt und Jesus uns bereits erlöst hat, dann haben wir alle ein Leben nach dem Tod. Wenn nicht, dann habe ich mir zumindest keine falschen Illusionen gemacht.

Neue Fragmente des christlichen Narratives

Für die Zukunft des Christentums wird es daher entscheidend sein, ob es neue Fragmente findet, die ein Bedürfnis bedienen, eine Sehnsucht ansprechen oder einen Mehrwert darstellen – und ob es Wege findet, diese in die Gesellschaft zu tragen. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod mag aus sich heraus berechtigt sein und wird sicherlich auf die eine oder andere Weise Platz in der Gesellschaft haben, wenn auch individu­eller und vielfältiger, vielleicht auch unpräziser oder orientierungsloser, ohne gesellschaftlichen Rahmen und ohne feste Rituale, weniger christ­lich und schon gar nicht katholisch. Anders dagegen steht es um die Da­seinsberechtigung der alten Kirchen, zu deren Aufgaben in erster Linie die Verkündigung des Evangeliums gehört, die aber auch den Rahmen vorgeben und Rituale anbieten, um den Glauben zu begleiten, seine Präsenz sicherzustellen und Orientierung zu geben. In Ländern des glo­balen Südens, die von Armut geprägt sind, mag dies mit den alten Frag­menten noch möglich sein, für die Wohlstandsgesellschaft aber braucht es eine Neuauflage. Es sollte die Aufgabe der Kirchen sein, diese zu su­chen und in die Breite der Gesellschaft zu bringen, nicht zuletzt um ihrer eigenen Existenz willen. Angesichts der zurückgehenden Mitglie­derzahlen und der abnehmenden Zahl der Kirchenbesucher – und das konfessionsübergreifend – sollten sich Kirchen die Frage stellen, ob sie noch die richtigen Geschichten erzählen, ob die Fragmente noch an­sprechend sind und wo das Alleinstellungsmerkmal der Kirche ist, wenn Glaube auch ohne Kirche stattfinden kann oder in einer der vielen – auf individuelle Bedürfnisse ausgerichteten! – Freikirchen eine Heimat findet.

Sowohl die Kirche im Großen als auch die Christinnen und Christen selbst tun gut daran, sich zunächst selbst zu hinterfragen. Das hat Papst Franziskus erkannt und mit seinen Enzykliken auf das hingewiesen, wo es bei Christinnen und Christen hapert. Damit hat er keine neuen Frag­mente des Christentums bzw. des Monotheismus in die Gesellschaft transportiert, vielmehr hat er – zumindest mit Laudato si’ – ein gesell­schaftliches Narrativ für Christinnen und Christen fragmentiert. Er bietet anstelle des schwer greifbaren Begriffes der Nachhaltigkeit das Bild von der „Sorge um das gemeinsame Haus“ an. Damit weist er die Mitglieder seiner Kirche auf ihre Pflicht hin und stellt so deren Dring­lichkeit in den Vordergrund. Denn, so adressiert er es selbst: Nachhal­tigkeit im Sinne einer enkelgerechten Lebensweise ist dem Christentum eigen – oder sollte es sein –, hat dem Glauben zufolge doch Gott der Schöpfer die Welt geschaffen und uns diese geschenkt. Eine enkelge­rechte Lebensweise ist folglich die gelebte Interpretation des ältesten Narratives der Welt und daher ohne Weiteres christliche Pflicht. Sowohl die Christen als auch die Kirche als das Narrativ propagierende Institu­tion tun daher gut daran, ihre Strukturen dem Prinzip der Nachhaltig­keit folgend auszurichten, schon um auch in Zukunft ihre Glaubwürdig­keit zu behalten. Und dies beginnt vor der eigenen Kirchentür in den Gemeinden, etwa in der Beschaffung der Verbrauchsgüter, beim Bezug der Energie, im Umgang mit den Generationen oder den personellen wie finanziellen Ressourcen. Von der Schöpfung zu erzählen und gleichzei­tig billigen Kaffee und billiges Grillgut bei Gemeindefesten anzubieten, verträgt sich nicht und ist doch in vielen Gemeinden immer noch Reali­tät. Das aktuelle Narrativ der Nachhaltigkeit sollte es Christinnen und Christen einfacher machen, den biblischen Auftrag zu erfüllen, stellt doch die Gesellschaft selbst diese Bedürfnisse zugunsten der Nachhal­tig­keit hinten an oder kann die Argumente zumindest nachvollziehen. Papst Franziskus hält mit der Enzyklika seinen Schafen einen Spiegel vor und diese tun gut daran, Konsequenzen daraus zu ziehen.

Auch mit der Besinnung auf Nächstenliebe in seiner neuesten Enzyklika Fratelli tutti greift Franziskus ein Tausende Jahre altes Fragment des christlichen Narratives auf, das gesamtgesellschaftlich in Vergessenheit geraten ist. Vorsichtig platziert er es als das „Gegennarrativ“ zu Digitali­sierung, Globalisierung und Neoliberalismus. Die Allgemeingültigkeit dieses „Leitbildes“ hat ihm bei aller Berechtigung der Inhalte bisweilen die Kritik der fehlenden Fokussierung eingebracht. Er bietet einen Kom­pass für den Alltag und für das Weltgeschehen. Es mag ihm durchaus gelingen, seine Institution danach neu auszurichten und neue Frag­mente für das monotheistische Narrativ aufzuzeigen. Neue Fragmente für das christliche Narrativ schafft er damit nicht. Im Gegenteil: Die Zahl derer, die ihn als weisungsbefugt anerkennen und nach seinen Worten handeln, schwindet mit Blick auf die weniger werdenden Gottesdienst­besucher in deutschen und anderen europäischen Kirchen weiter. Diese Menschen holt er mit dem Sonnengesang der heiligen Franz von Assisi nicht zurück.

Erzwungene Transformation und ihre Chance

Es scheint, als wäre Papst Franziskus mit Selbstverwaltung beschäftigt. Er räumt in seiner eigenen Institution auf. Nachhaltigkeit, Nächsten­liebe, Umgang mit der Macht, die Rolle der Frau, Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe … – die Liste ist lang; zu lange hat die Kirche sich auf eine starke Basis verlassen und in Jahrhunderte alten Strukturen gelebt – unreflektiert, sich selbst gegenüber unkritisch und vor allem pfadabhängig. Nun wird sie mit einer starken Konkurrenz konfrontiert. In der säkularen Welt übernehmen Kommunen und Pri­vatwirtschaft viele Funktionen der Kirche. Auch wenn beispielsweise karitative Einrichtungen nach wie vor als wichtig erachtet werden, so sind sie inzwischen doch (nur?) eine Dienstleitung unter vielen Ange­boten. Wenn das begleitende Angebot aber zur Nebensache wird, rückt das Eigentliche, rückt die Existenzbasis in den Mittelpunkt: Wie steht es um die Kirche und wie um die Geschichten, die sie erzählt? Es lässt sich schwer ausmachen, ob es der Druck der gesellschaftlichen Narrative ist, der diese Reflexion herausfordert, oder ob es die Christen und Christin­nen selbst sind, die ihren roten Faden verloren haben.

Der Zustand einer Selbstverwaltung oder Selbstbeschäftigung ist – so zeigt die Erfahrung – auch Ausdruck einer tiefen persönlichen oder institutionellen Krise. Ein eingeschlagener Weg führt nicht weiter und muss hinterfragt werden. Der Transformationstheorie zufolge ist das der Zeitpunkt, wo Pfadabhängigkeiten aufgelöst und neue Narrative gebo­ren werden können. Für die Kirche ist der aktuelle Zustand folglich eine Chance, neue Fragmente für zwei sehr alte und ohne Frage sehr gute Narrative zu finden. Bisher ist es ihr immer wieder gelungen, ihre Rolle in der Gesellschaft zu finden und zu festigen. Warum also nicht auch im 21. Jahrhundert? Es ist ein langer Weg, der bei den Menschen selbst an­fängt und heute die Vielzahl der Lebensformen und Einstellungen, der Fragen und Erwartungen berücksichtigen muss. Auch auf die Gefahr hin, zunächst das Einheitliche, Katholische zu verlieren – aber mit der Chance, rückwirkend in den vielen Fragmenten ein neues, zeitgemäßes kirchliches, vielleicht sogar wieder ein katholisches Narrativ zu erken­nen. Es wäre schade, wenn es ihr nicht gelingt.