Inhalt

Jenseits von Wirtschaft und Politik

Die Religion muss als zivilgesellschaftliche Kraft ihre Plausibilität für die Welt von heute erweisen

Christian Spieß charakterisiert in seiner kritischen Replik auf die Thesen Erik Händelers die Wirkweisen von Religion als durchaus ambivalent: förderlich wie zerstörerisch. Er spricht sich dagegen aus, das Evangelium in den Dienst ökonomischer Systemrationalität zu nehmen. Nach Spieß geht es eben nicht um die Verabsolutierung der Liebesethik des Christentums als einer partiku­laren Religionstradition, vielmehr zeigt er die Zivilgesellschaft als den Raum, in dem plurale religiös-weltanschauliche Motivationen, Moralange­bote und Sinnstiftungsressourcen dialogisch miteinander ausgehandelt werden können, um zum Gemeinwohl beizutragen.

Als Sozialenzyklika der Geschwisterlichkeit und Liebe bezeichnet Papst Franziskus seine Enzyklika Fratelli tutti. Große Teile des Inhalts kennen wir zwar schon aus anderen Dokumenten, aber eine aufschlussreiche Zuspitzung ist neu: Die Hervorhebung einer Art Liebesproduktivität der Religionen (also keineswegs nur des Christentums), die die Grundlagen einer neuen Weltordnung sein können, so der Papst. Das Beispiel des barmherzigen Samariters leuchtet hell gegenüber den „Schatten der Abschottung“, die Franziskus in manchen Entwicklungen der gegen­wärtigen Welt ausmacht, von der ökonomischen Globalisierung bis zur Migrationspolitik. Neben dem Lukasevangelium zitiert der Papst auch reichhaltig muslimische Quellen, um zu zeigen, welche Kraft den unter­schiedlichen Religionen innewohnt, wenn es um die Liebe als Grundlage einer friedlichen Welt geht. Er schlägt in Fratelli tutti deutlich den Weg in Richtung der „Weltethos“-Konzeption ein und betont die Überein­stimmung der Weltreligionen über grundlegende Orientierungen wie die „Goldene Regel“, die das Menschenrechtsethos gewissermaßen unterfüttern und eine globale Ordnung stabilisieren können („Kein Weltfriede ohne Religionsfriede“). Das tun sie nicht zuletzt dann, wenn sie den Skandal der globalen Schieflage hinsichtlich Lebenschancen, Entwicklungschancen und extremer sozioökonomischer Ungleichheit kritisieren. Da geht es um jene Phänomene einer globalen Wirtschafts­weise, bei der Menschen nicht einmal mehr ausgebeutet werden, son­dern Müll sind, wie es Franziskus in Evangelii gaudium formuliert hat: „Diese Wirtschaft tötet“ (EG 53).

Religion und Wirtschaft – zwei Quellen für die Lebensgestaltung?

Ganz anders der Entwurf „Himmel 4.0“ von Erik Händeler. Ihm schwebt offenbar eine Art Vermählung von Religion und Wirtschaft vor: „Es gibt zwei Quellen, aus denen sich die Maßstäbe speisen, wie wir unser Leben gestalten: Religion und Wirtschaft“ (Händeler 2018, 34). Händeler ist überrascht, dass „gerade kirchlich Engagierte die Stirn bei dem Zusam­menhang von Glauben und Wirtschaft“ runzeln. „Bisher haben sie Wirt­schaftsthemen nur als etwas ‚Böses‘ – etwa Ausbeutung und Umvertei­lung –, zumindest als moralisch fragwürdig wahrgenommen“ (ebd. 13). Das ist eine erstaunliche Diagnose, hat doch gerade die katholische Soziallehre eine äußerst differenzierte Position zwischen Rechtferti­gung des Privateigentums und der Marktwirtschaft einerseits und einer Kritik der Marktwirtschaft andererseits entwickelt. Die gro­ßen Sozial­enzykliken Rerum novarum (1891) und Quadragesimo anno (1931) dürf­ten auch heute noch unübertroffen sein im Hinblick auf eine theoretisch stabile, praktisch relevante und überdies problembewusste Verhältnis­bestimmung von Glaube und Wirtschaft, Ethik und Ökono­mik, Gemein­wohlverantwortung und ökonomischer Rationalität. Aber diese Tradi­tion, in die auch Papst Franziskus Fratelli tutti einordnet (z. B. FT 6), kommt bei Händeler gar nicht vor. Er springt direkt von „Kolping, Wichern und von Ketteler“ („Himmel 1.0“) zum Zweiten Vatikanischen Konzil („Himmel 2.0“) und zum „Engagement für eine global gerechte Welt und ökologische Nachhaltigkeit“ („Himmel 3.0“) (Händeler 2018, 18). Er braucht wohl auch keine aufwendige Verhältnisbestimmung von Ethik und Ökono­mik, weil er ohnedies von einer naturwüchsigen We­sensverwandtschaft zwischen christlicher Ethik und kapitalistischer Wirtschaftsweise ausgeht: „Was Politik und Wirtschaft angeht, meine ich, dass die christlich geprägten Kulturräume Wohlstandsvorteile haben, weil die Ethik des Evangeliums sowohl den Einzelnen entfaltet als auch die Interessen zu anderen und zum Gemeinwohl ausbalanciert; ja dass genau nur diese Denkweise zu einer Gesellschaft führt, in der sich der Einzelne nach seinem Gewissen in Freiheit entfalten kann und so die maximalen Ressourcen nachhaltig erzeugt, die man braucht, um materielles Leiden geringzuhalten und Weiterentwicklung zu fördern“ (ebd. 11). Das Christentum jedenfalls ist (in ökonomischer Hinsicht) wachs­tumsorientiert und sollte „daher die positive Weiterentwicklung einer wachsenden Wirtschaft im digitalen Zeitalter unterstützen“ (Hände­ler 2020). Es hat dabei den entscheidenden Marktvorteil, ist überhaupt einfach überlegen: „Während immer mehr kleine Buddha-Figuren in den Büros von Managern stehen, Moslems in Europa ein­wandern, aber auch christliche Gastarbeiter nach Saudi-Arabien gehen, sind alle religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen weltweit vertreten. Es kommt zu einem Wettbewerb der Religionen und Welt­anschauungen, der nicht von Theologen ausgefochten wird oder mit Hilfe der Kalaschnikow, sondern von der Frage: Welche Geisteshaltung kann im Berufsleben besser Koopera­tionsfähigkeit herstellen? Chris­tentum ist Zukunftsreligion, weil das Evangelium das Wohl aller einschließt, auch jener außerhalb der eige­nen Gruppe“ (ebd.). Kein Zweifel trübt den Glauben an die Funktionalität der ökonomischen Systemrationalität. Gerade in den ökonomischen Krisen „hat nicht die Marktwirtschaft versagt, sondern im Gegenteil bewiesen, wie gut sie funktioniert“ (Händeler 2018, 29). Das muss man den Gläubigen, Kirchenmitarbeitern und Theologen, die nach Händelers Auffassung noch im Dunkeln tappen, erst erklären, weil „deren Lebensunterhalt von Steuern oder gar von Kirchensteuergeldern gedeckt ist“ und sie deshalb „nicht die Zwänge des Überlebens am rea­len Markt“ kennen (ebd. 38). Einmal abgesehen davon, dass dies die ökonomischen Her­ausforderungen, vor denen Kirchenmit­arbeiter heute häufig stehen, wohl weit verfehlt: Ist es diese Art von Ressentiment gegen andere Menschen, mit dem wir „die Wertvorstel­lungen in den Köpfen der Menschen verändern [müssen], um ausrei­chenden Wohlstand im Umgang mit Wissen zu ermöglichen“ (ebd. 41)?

Mehr orthodoxe Wirtschaftsgläubigkeit war nie: „Eine starke Wirtschaft sichert Chancen, dass sich die Menschen mit ihren Gaben entfalten kön­nen und die Möglichkeit bekommen, sich in Freiheit für das Gute (oder dagegen) entscheiden zu können – ein Grundanliegen vor Gott. Ein ver­schleppter Wandel erzeugt Stagnation und Arbeitslosigkeit mit allen Verteilungskämpfen und Krisenerscheinungen“ (Händeler 2020). Wettbewerb ist alles, und das Gemeinwohl erreichen wir offenbar nicht durch eine stabile politische Rahmenordnung, sondern durch eine fle­xible Wirtschaftsweise, die sich möglichst ungehindert von einem politischen Korsett den Herausforderungen der Zeit anpassen kann.

Kampf (innerhalb) der Kulturen?

Ganz ungewöhnlich wird es dann, wenn Händeler den „Kampf (inner­halb) der Kulturen“ beschreibt, dessen „Fronten“ zwischen den von ihm selbst gebildeten ethischen Kategorien verlaufen: „Gruppenethik (‚Ich mache alles für mein Volk/​meine Religion, und wer außerhalb davon steht, darf gnadenlos bekämpft werden‘), Individualethik (‚Ich mache, was ich will, was mir guttut, und verfolge meine Interessen‘) und Universalethik (‚Ich habe ein echtes Interesse am gleichberechtigten Wohlergehen des anderen und achte seine berechtigten Interessen‘) = Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ (Händeler 2018, 58). Als „Uni­versalethik“ betrachtet Händeler also nicht eine universalistische Ethik im Sinne etwa der Vernunftethik Kants oder des Menschenrechtsethos, einer Ethik der Aufklärung oder wenigstens eines transreligiösen Welt­ethos, sondern dezidiert das Liebesgebot innerhalb einer bestimmten Religion, nämlich des Christentums. Noch nicht einmal das Judentum, aus dem das Liebesgebot des Evangeliums wohl kommt, wird einge­schlossen. Als „Individualethik“ bezeichnet er nicht eine aus guten Gründen, aus Tugendhaftigkeit oder religiöser Überzeugung generierte moralische Gesinnung, sondern eine rücksichtslose Eigennutzorientie­rung. Und als „Gruppenethik“ wird nicht eine partikulare Moralität eines bestimmten weltanschaulichen Kollektivs bezeichnet, sondern eine geradezu feindselige Haltung, wobei „sich der Einzelne der Gruppe unterordnet und mit ihr gegen andere Gruppen kämpft – Nationalis­mus, Nationalsozialismus, Kommunismus, religiöse Gruppenethiken“ (Händeler 2018, 59), alles umstandslos in einem Atemzug.

Werden hier – einmal ganz abgesehen von der eigentümlichen Eintei­lung der ethischen Kategorien – nicht die tatsächlichen Möglichkeiten der partikularen Moralität einer Religion im Hinblick auf die Weltgestal­tung überschätzt? Treten gerade Religionen nicht zumindest ambiva­lent auf, also beileibe nicht nur aus reicher Liebe schöpfend und Frieden stiftend, sondern nicht selten spaltend und zerstörend? Sind es die par­tikularen Liebesethiken der Religionen oder nicht doch eher der liberale Universalismus der Menschenrechte, zu deren Anerkennung sich die katholische Kirche erst vor gut 50 Jahren durchringen konnte? Haben etwa die Religionsgemeinschaften Europa den von Religions- und Kon­fessionskriegen geschundenen Kontinent und die europäischen Natio­nalstaaten befriedet oder nicht vielmehr die Trennung der Religion von der Politik?

Keine Frage: Die Ethiken der Nächstenliebe, die in verschiedenen Reli­gionen kultiviert wurden (und eben nicht nur im „Evangelium“, wie Händeler immer wieder suggeriert), haben Großartiges hervorgebracht. Aber niemand – vor allem kein gläubiger Mensch – sollte sich einer Illusion hingeben: Religionen sind ambivalente Phänomene, in denen sich positive mit negativen Aspekten vermischen. Religionen bringen Gutes und sie bringen Schlechtes hervor. Sie können für Individuen und Kollektive ein Segen sein und sie können Menschen und Gesellschaften zerstören. Sie haben eine befreiende Kraft und sie üben psychischen Druck aus. Sie ermöglichen die Bewältigung schwerer Lebenskrisen und stürzen Menschen in existenzielle Krisen. Sie können Sinn stiften und vielleicht unverzichtbare Werte tradieren, aber sie können auch durch jahrzehntelange Gewaltausübung politische Gemeinwesen oder ganze Weltregionen zerfressen.

Segensreich wirken religiöse Gruppen und Akteure dann, wenn sie im Rahmen eines übergeordneten Rechtsstaats bzw. eines säkularen Ver­fassungsstaats diakonisch wirken oder durch Verkündigung und Riten Gemeinschaft stiften und stabilisieren, den Menschen Sinnangebote machen und die Kontingenzen des Lebens bewältigen helfen. Hinter bestimmte Markierungen des Zweiten Vatikanischen Konzils sollten Katholik*innen nicht zurückfallen: nicht hinter die Erkenntnis, dass auch in anderen Religionen Heil zu erfahren ist, nicht hinter die Aner­kennung liberaler Menschenrechte, nicht hinter die Trennung von Religion und Politik sowie nicht hinter den Vorrang universeller Grund­rechte gegenüber partikularen (also auch allen religiösen) Moralauffas­sungen. Im Rahmen weltanschaulich pluraler Gesellschaften, als zivil­gesellschaftliche Akteure, auch als Teilnehmende an politischen Selbst­verständigungsprozessen mögen Religionsgemeinschaften unverzicht­bare Beiträge leisten. Aber die Gestaltung der politischen Ordnung – sei es im nationalstaatlichen Rahmen, auf kontinentaler Ebene oder in der globalen Perspektive einer Weltfriedensordnung – sollte man den Religionen nicht überlassen.

Die Zivilgesellschaft als Ort der öffentlichen Religion in der Welt von heute

Eigentlich haben kirchliche Verbände, Vereine, Organisationen und Gemeinden eine ganz gute Rolle im säkularen Verfassungsstaat und in der pluralen Gesellschaft gefunden, freilich weniger der ökonomischen Systemrationalität folgend als auf der Basis der Idee einer aufgeklärten Zivilgesellschaft. Mit dem Verzicht auf einen politischen Machtan­spruch (und damit auch mit dem Verzicht auf den Anspruch, im Besitz einer alle anderen selig machenden Moral zu sein) ändert sich der „Ort“ der Religion in modernen Gesellschaften. Religion wird aus der Sphäre der Politik und der politischen Öffentlichkeit zunächst grundsätzlich in die „Privatheit“ gedrängt. Diese Privatisierungstendenz wird im Rah­men der Debatte um die verzweigten Dynamiken der Säkularisierung unterschiedlich beurteilt. Wenn auch grundsätzlich weiterhin von einer Privatisierungstendenz auszugehen ist, sind umgekehrt Prozesse der „Entprivatisierung der Religion“ zu beobachten. Und gerade dabei kommt das Konzept der Zivilgesellschaft ins Spiel. Die Zivilgesellschaft hat sich als ein von Politik und Wirtschaft getrennter Bereich der freien Kooperation von Personen, Bewegungen, Organisationen etc. etabliert. In dieser Kooperation sind die Akteure nicht (in erster Linie) durch die Verfolgung von Eigeninteressen bewegt, sondern verfolgen unterschied­liche Überzeugungen, Ideale, Werte etc. Häufig sind zivilgesellschaft­liche Aktivitäten sogar stark normativ aufgeladen (etwa Kapitalismus­kritik, Solidarität mit benachteiligten Personen, Globalisierungskritik, Kritik der Umweltzerstörung etc.). Insoweit und darüber hinaus impli­zieren zivilgesellschaftliche Interaktionen auch einen politischen Bezug, ohne freilich Teil der Politik im engeren Sinne zu sein. Es gibt also eine hohe Übereinstimmung mit Aktivitäten, die üblicherweise mit der Pra­xis von Religionsgemeinschaften verbunden sind. Die Zivilgesellschaft ist auf im privaten oder lebensweltlichen Bereich wurzelnde moralische Ressourcen, semantische Potentiale und kulturelle Traditionen ange­wiesen, die ein ausgeprägtes Interesse und eine Orientierung am Ge­meinwohl hervorbringen. Religiöse Traditionen können entsprechend – aus dem privaten Bereich heraustretend – ihre Vorstellungen von Ge­meinwohl, Gerechtigkeit, Solidarität und gutem Leben in den öffent­lichen Diskurs einbringen. Damit bietet die Zivilgesellschaft eine Sphäre, in der religiöse Motive sich entfalten können, ohne in problema­tischer Weise unmittelbar in den Bereich der Politik hineinzuragen, und ganz ohne den Anspruch, für das ganze Gemeinwesen vorbildlich sein zu müssen (vgl. Casanova 1994). Vielmehr bieten liberale Verfassungs­demokratien eine Sphäre der Freiheitsspielräume für unterschiedliche partikulare Moralitäten, für divergierende „Ideen des guten Lebens“. Deshalb ist neben der Pflege der je eigenen Moralität einer Religions­gemeinschaft die vorbehaltlose Anerkennung der übergeordneten, rechtlich eingehegten Sphäre der Gerechtigkeit nötig. Diese – letztlich in den liberalen politischen Philosophien der Moderne, nicht in der Liebesethik irgendeiner Religion fußende – universelle Ethik und das daraus resultierende Rechtssystem garantieren ein gedeihliches Zusammenleben auch unterschiedlicher Weltanschauungen und Lebensformen.

Die christlichen Organisationen waren klug, sich früh (viel früher als das kirchliche Lehramt) mit diesen Standards des modernen Pluralismus zu arrangieren und auch früh demokratische und freiheitliche Instrumente in die eigene Struktur oder Praxis zu übernehmen. Sie haben damit nicht nur ihre eigene Funktionalität erhöht, sondern auch einen wichti­gen Beitrag zur Modernisierung der katholischen Kirche geleistet (vgl. Gabriel/​Spieß/​Winkler 2016, 245–282). Die Annäherung an moderne Formen der Deliberation, also der Aushandlung unterschiedlicher Über­zeugungen, Ansprüche und Interessen in möglichst herrschaftsarm strukturierten Diskursen mit entsprechend festgelegten Verfahren, dürf­te jedenfalls die vielversprechendere Weise der kontroversen Aus­einan­dersetzung sein als die bloße theologische Rückbesinnung auf das Gebot der Nächstenliebe. Wir anerkennen die Ansprüche, Lebensformen und Überzeugungen anderer ja nicht, weil wir sie lieben, sondern weil sie schlicht – ganz unabhängig von unserer Liebe – einen unbedingten Anspruch darauf haben.

Die Zivilgesellschaft bietet religiösen Gruppen und Organisationen einen Ort der Entfaltung und Aktivität, der Konfrontation und Koopera­tion, des manchmal auch kämpferischen Engagements und des solida­rischen Handelns. „Nach der Privatisierung“ finden Religionen in der Zivilgesellschaft einen öffentlichen Ort. Damit können Religionen auch sinnstiftende Ressourcen ihrer Traditionen bereitstellen, von denen die Qualität des Gemeinwesens profitieren kann. Überzeugend und attrak­tiv ist christliche Praxis schlicht dann, wenn sie „in der Welt von heute“ (Gaudium et spes) plausibel ist. Ist es also plausibel, wie wir in der Kir­che Frauen von Männern unterscheiden? Ist es plausibel, wie wir mit dem Missbrauchsskandal umgehen? Ist es plausibel, wie Gemeinden mit Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen umgehen? Sind die Transzendenzangebote der Kirche plausibel oder gibt es außerhalb der (organisierten) Religion längst plausiblere Angebote der Transzen­denz, der Spiritualität, der Kontingenzbewältigung? Ist es plausibel, wie die Caritas ihre mannigfaltigen Aufgaben im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit wahrnimmt? – Schon diese kurze Aufzählung zeigt: In vieler Hinsicht ist die Praxis der Kirche plausibel, in anderer Hinsicht vielleicht nicht. Eher unabhängig von der „digitalen Revolu­tion“ muss es der Kirche mit ihren Gemeinden, Vereinen und Verbän­den darum gehen, christliche bzw. kirchliche Praxis nachvollziehbar und verständlich zu machen; dann kann sie auch überzeugend und anziehend sein.