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Denken und Erfahren und Handeln und Feiern – geht das zusammen?

Gerade in der derzeitigen Lage wird deutlich, dass die katholische Kirche an vielen Stellen auseinanderdriftet. Angela Reinders geht dem anhand der Di­mensionen Denken, Erfahren, Handeln und Feiern nach. Diese vier Dimen­sionen zu integrieren, ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine Aufgabe der Kirchenentwicklung.

„Können wir zahlen?“ In einem aktuellen Werbespot sieht man die Jünger um Jesus versammelt, die Szene, wie Leonardo da Vinci sie gemalt hat, ins Bewegtbild gesetzt. Die Bedienung fragt: „Geht das zusammen?“ Jesus und die Zwölf gucken sich an, holen Luft und wiederholen die Frage freundlich lächelnd im Chor: „Können wir zahlen?“

Kirche kann Chor. Zumindest, wenn es um Standardwortlaut geht. Worte verbinden. Aber zahlen sie gemeinsam auf das Gleiche ein?

Außenstehende erkennen katholische Gläubige an geprägten Worten und Gesten. Wer drinnen ist, wird immer weiter davon entfernt sein, daraus eine gemeinsame Identität abzuleiten. Die heilige, katholische und apostolische Kirche ist in ihrer Einheit ein Mischmasch aus Glau­bensrichtungen. Die Wege, in denen sich die Kirche immer wieder refor­miert und weiterentwickelt, führen augenscheinlich nicht in einer brei­ten Spur nebeneinander in die Zukunft des Reiches Gottes, sondern in immer ausdifferenzierteren Bahnen in die jeweiligen Schubladen hin­ein. Die Identitätsgruppen definieren sich durch Merkmale wie eine bestimmte Wortwahl, durch Versammlungsorte und durch die Bubbles in den sozialen Medien. Das Sozialkapital für gemeinsame Abrechnun­gen schrumpft damit.

Woran brechen sich die Wellen der Identitätenfindung? So die Frage. Ein Satz von Reinhard Kardinal Marx formuliert umgekehrt, was sich ver­binden ließe: „Gerade die katholische Kirche hat die Chance, das Den­ken und Erfahren und Handeln und Feiern zu einer Einheit zusammen­zufügen“ (Marx 2020, 99).

Was müsste dazu zusammengehen?

Denken

Denken ist „Probehandeln“, in dem mental durchgespielt wird, welche möglichen Handlungen sich anschließen können und wie sich die Situa­tion dann zukünftig entwickelt. Aus dem Denken folgt das Entscheiden, entweder gespeist aus Erfahrung oder heuristisch unter Unsicherheit. Das problemlösende Denken manifestiert sich körperlich und setzt sich in Veränderungen der Situation um.

Von Beginn an gibt es in der Kirchengeschichte den Gegensatz zwischen der zumeist volkskirchlichen Forderung nach der Demut eines einfa­chen Glaubens auf der einen Seite und besonders in der Wissenschaft das Plädoyer für die verantwortet reflektierende Sorgfalt in der Be­gründbarkeit des Glaubens auf der anderen. In diesem Koordinaten­system stehen die Konzeptionen, die Dorothee Sölle herausgearbeitet hat, einer „orthodoxen Theologie“, die den Glauben kontextlos und kulturell blind im Binnensystem reflektiert und damit den Auftrag verfehlt, ein „kulturelles Laboratorium“ zur Auseinandersetzung mit anthropologischen und sozio-ökologischen Krisen der Gegenwart zu sein (Veritatis gaudium 3), gegen eine „liberale Theologie“, die der Wissenschaft Geltung beimisst.

Wenn das Denken wissenschaftlich sozusagen „unter den Teppich der eigenen Bedingungen dieses Denkens“ schaut (Marie-Luisa Frick), bleibt es wach für die eigenen Grundlagen der Theoriebildung und die Plau­sibilitäten des Gegenübers. „Solange Selbstdenken sich selbst keine Fragen stellt, bleibt es anfällig für die schwerwiegendsten Vorurteile“ (Frick 2020, 38). Der Glaube an Gott ist Teil der eigenen Grundlage, um im Wissenschaftssystem zu denken, weder Lückenfüller für die noch unbeantworteten Fragen der anderen Wissenschaften noch der Ansatz, aus dem heraus diese von der Theologie beantwortet werden wollen.

Theologische Forschung, die vernetzt mit der Forschung in Sozial-, Natur-, Real- und Humanwissenschaften und fähig zum Austausch bleibt, mündet in konstruktiv begleitendes Denken darüber, welcher Art und Komplexität die gesellschaftlichen Fragen sind, um zu theologisch verantworteten Positionen zu finden.

Wie in jeder Wissenschaft stößt auch in der Theologie das Denken an Grenzen. Gerade in der Gottesfrage beginnt hier der Raum für weitere Frageprozesse, beschreibt „Das Evangelium der Aale“, in dem sein Autor Patrik Svensson treffend sagt, „weil das Schwerdurchschaubare seine eigene Anziehungskraft besitzt und das, was vollkommen ver­standen ist, keine Schatten und Nuancen mehr hat und damit auch keine Komplexität“ (Svensson 2020, 194).

In diesen Zusammenhang gehört Rahners Diktum vom Frommen der Zukunft, der „ein ‚Mystiker‘ sein [wird], einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder nicht mehr sein“ wird.

Erfahren

Die Begegnung mit Gott führt über den Erfahrungsrahmen, „über die Steppe hinaus“ (Ex 3,1). Begegnungen der Jüngerinnen und Jünger mit Jesus überschreiten immer den Rand ihrer bisherigen Erfahrung, führen auf den Berg, aufs Wasser.

Dies ist physisch die Voraussetzung dafür, eine andere „Grundkraft“ zu haben, wie sie die Dichterin und Philosophin Margarete Susman (1872–1966) beschrieb, nämlich „die metaphysische, d. h. die Kraft, die über alle Erfahrung hinausliegenden Zusammenhänge des Daseins zu erblicken und in ihnen zu leben“ (Susmann 1921).

Wie werden Erfahrungen gemacht, erkannt und formuliert?

Der frühere Bischof von Trier, Hermann Josef Spital, verfasste 1992 ein Pastoralschreiben „Über die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen“. Darin entwickelte er fünf Elemente, die dazu notwendig sind, dass ein Mensch „Erfahrungen machen, sie sich erwerben und aneignen“ kann, und die hier verkürzt wiedergegeben werden:

  1. Ich nehme etwas wahr.
  2. Ich versuche zu deuten, was ich erfahren habe.
  3. Ich vergewissere mich (durch Forschung, im Gespräch mit anderen Menschen) darüber, was ich erfahren habe.
  4. Nach der Vergewisserung ist die Erfahrung meine eigene.
  5. Im Gespräch auch mit Andersdenkenden kann ich zu dieser Erfahrung stehen und mit Kompetenz von der eigenen Erfahrung reden.

Aus dem, was jedem Menschen täglich zustößt, werden nur Erfahrun­gen, indem er sie sich aneignet und integriert. Wenn eine Person sich nicht „unter die Haut gehen lässt“, was ihr zustößt, dann lässt sie das „gesichtslos“ bleiben.

Erfahrung braucht Aufarbeitung, braucht die eigene Mühe, zu formulie­ren, was ich erfahren habe, und es in die eigene Geschichte einzuord­nen, auch die Ermutigung, sich in dieser Weise auf Erfahrungen mit Gott einzulassen.

Beispielhaft dafür sind die Erfahrungen des Osterfestes in der Corona-Pandemie, die zehn Ordensfrauen gemacht, gemeinsam gedeutet, reflektiert und formuliert haben (Fülle in der Leere 2020) und mit denen sie sich gezeigt haben, um sie anderen zur Diskussion anzubieten:

„Es gibt für uns kein Zurück mehr hinter die Erfahrungen dieser Corona-Wochen 2020 – einer unglaublichen Fülle in der verordneten Leere. […] Wir hoffen, dass unsere Erfahrungen dazu beitragen, dass neue Wege gesucht und mutig gegangen werden.“

Wege, die sich aus Handlungen als einzelne Stationen in die Landkarte einzeichnen.

Handeln

„Jesus Christus hat sich um Schwache, Arme und Kranke gekümmert. Wir tun das auch. Wir können uns aber nie um alle kümmern. Wir sind nicht Gott“, so übersetzt Pfarrer Holger Pyka (2020) die Diskussions­grundlage „Kirche auf gutem Grund – Elf Leitsätze für eine aufgeschlos­sene Kirche“ des Z-Teams (Zukunftsteam) der Evangelischen Kirche in Deutschland in Leichte Sprache, um das Anliegen des Textes zu verdeutlichen.

Daraus wird übertragbar auch für die katholische Kirche dreierlei sicht­bar: 1. Gott handelt in Jesus Christus, die Selbstentäußerung Gottes in Christus (Phil 2,7) prägt die kenotische Struktur, in der 2. Christi Han­deln Vorbild für das Handeln seiner Kirche ist. 3. Die Kirche kommt an Grenzen, gleich, wie gut sie in Christi Namen handelt.

Nicht deutlich wird daraus, wie die kirchliche Landkarte in den jeweils wahrgenommenen Grenzen aussieht. Soll die Kirche mehr Eucharistie feiern? Soll sie mehr sozial arbeiten? Kontemplativer werden? Sich an politischer Diskussion beteiligen oder um Himmels willen heraushal­ten? Mehr zuhören oder mehr predigen? Soll sie Angebote machen? Oder einfach Angebot sein?

Die Handlungsoptionen bilden sich bis in die Sprechakte hinein ab, denn Sprechen ist „Handeln mit Symbolen“ der Kommunikation (Feddersen/‌Gessler 2020).

Kirchliches Handeln orientiert sich nach ihrer Lehre an den Grundvoll­zügen Diakonie, Gemeinschaft, Liturgie und Verkündigung. Doch selbst hier gibt es kein ausgewogenes Bild, wie ein Bericht aus dem synodalen Gesprächs- und Veränderungsprozess „Heute bei dir“ im Bistum Aachen formuliert: „Wer diakonisch tätig ist, muss Auskunft darüber geben, wie es denn um seine liturgisch geprägte Spiritualität steht. Umgekehrt wird die Frage so gut wie nie gestellt.“

Öffentlich wahrnehmbarer Relevanzverlust führt in einen Handlungs­druck. Der wiederum sucht sich unterschiedliche Ventile. Aus dem einen entweicht die Luft über den Anspruch, die Dinge jetzt aber mal richtig richtig zu machen. Das zieht die Entwertung des Vorhandenen nach sich und macht müde. Bei anderen geht es ins gegenteilige Extrem der Verweigerung, die jedoch, wie im Roman „Schöne Seelen und Kom­plizen“ (Schoch 2018, 151–153) die Romanfigur Ruppert Klose formu­liert, ebenfalls nicht integrativ wirkt:

„Ich habe Jahre damit vergeudet, mich abzugrenzen. Mich gegen den Zeitgeist zu sperren. Ich habe die Schallplatte verteidigt, als die CDs aufkamen, ich habe Schmähreden gegen das Handy gehalten […] Am Ende hat dieses Dinosaurierverhalten überhaupt nichts gebracht. Ich habe gar nichts aufgehalten. Ich bin immer nur zu spät gekommen, das ist alles. […] Vielleicht habe ich tatsächlich den Anschluss verpasst. Die Frage ist nur, den Anschluss woran. Was könnte mich entzünden?“

Feiern

Was für ein Event! Wer ein Fest so geplant hat, dass es zündet, hat alles richtig gemacht. Vorbereitung, Einladung, Marketingstrategie, Sicht­­barkeit auf Social-Media-Kanälen, sensationelle Location. Event, das kommt aus dem lateinischen „evenire“, „geschehen, in Erfüllung gehen, sich ereignen, oft unpersönlich“, konkretisiert das Wörterbuch. Ein eventus ist ein Ergebnis.

Wenn das Verb „venire“, also „kommen“, mit der Vorsilbe ad- statt ex- kombiniert wird, bekommt es die Bedeutung „ankommen, herankom­men, sich nähern“. Ein adventus ist ein Anmarsch. Höchstpersönlich, konkretisiert die Bibel.

Die urbanisierte Kultur plant und bewertet eine gelungene Feier als Event. Christlich ist ein Fest angelegt als Abbild des „adventus“. Das Fest selbst ist nicht das Ergebnis. Es weist in die Zukunft einer himmlischen Feier und ist eine Etappe auf dem Weg, die diese Verheißung wachhält. Dies gilt insbesondere für liturgische Feiern.

Die Spannung zwischen Event und Advent ist nicht schon die ganze Erklärung, aber eine der möglichen Folien, auf deren Hintergrund unterschiedliche Positionen zur liturgischen Feier gedeutet und auch in gegensätzlichen Positionen ausgetragen werden.

Ist „Marktförmigkeit“ im Sinn der Erreichbarkeit, der Verständlichkeit, der Form und Sprache zulässig oder ist ein liturgisches Fest umso gül­tiger, je entrückter von der Erde es Abbild des Himmels sein will? Was möchten die Menschen erleben? Suchen Mitfeiernde in einer Liturgie nach Performance? Was ist mit denjenigen, die Romano Guardini be­schrieb als „die vielen, die dürren Gemütes sind und von all der Schön­heit nichts spüren, wie sie ringsum spricht und tönt und glänzt, sondern nur Kraft suchen für ihre tägliche Mühsal“ (Guardini 1957, 110), die psychisch und physisch entspannen und auftanken möchten?

Der Schwerpunkt auf der Skala zwischen Event und Advent bestimmt, was das für den Kirchenraum bedeutet, für den Ablauf der Liturgie, für die Menschen, die einer liturgischen Feier vorstehen, für verschiedene Ausdrucksformen und für die Kommunikation im Vorfeld mit den Menschen, die kommen, um zu feiern.

Denken und Erfahren und Handeln und Feiern als Entwicklungsaufgabe

Denken (Kognition), Erfahrung (und Emotion) und Verhalten (Handeln) zu integrieren und sich um Wohlbefinden zu bemühen (darin: Feiern), hat Robert J. Havighurst (1900–1991) als individualpsychologische Ent­wicklungsaufgabe formuliert. Offenbar ist es auch eine Kirchenent­wicklungsaufgabe.

Ein streitbares Denken über unterschiedliche Positionen in der Theolo­gie unter Einbezug anderer Wissenschaften kann im Sinne von Veritatis gaudium eine Gegenkultur bilden zu einer „Gesellschaft, in der Gräben nur vertieft oder in der intern nur Richtigkeiten ausgetauscht werden“ (Feddersen/‌Gessler 2020, 129). Ist es miteinander besprechbar, wer Gott wo erahnt?

Wenn alle nicht nur das eigene Denken, sondern auch die Geschichten der eigenen Erfahrung im Austausch „bloßlegen“, dann steht hinter jedem Kontakt eine Wahrnehmung der Vulnerabilität. Aus dem Wissen um die wunden Punkte eines anderen Menschen leitet sich die Verant­wortung des Nächsten für ihn ab (vgl. Fratelli tutti, Zweites Kapitel, besonders 79). Das aber setzt voraus, Erfahrungen zu teilen, mitgeteilt zu bekommen, adäquate Probehandlungen vorzunehmen und angemes­sene Reaktionsweisen zu finden. Eine solche Kultur des Umgangs mit­einander weitet den aktuell begrenzten Raum, in dem „die Kirche […] in einer sich tendenziell weiter säkularisierenden Gesellschaft immer öfter nicht dabei [ist] in den verzweifelten Momenten der Menschen, in den, wieder theologisch formuliert, Gottesfinsternissen, die Menschen er­fahren“ (Feddersen/‌Gessler 2020, 102).

Hermann Josef Spital richtet den selbstkritischen Blick auf die Pastoral: „Es könnte sein, dass hier etwas von dem ‚einen Notwendigen‘ liegt, etwas, das früher selbstverständlich getan wurde, das aber angesichts der veränderten Lebensumstände verlernt oder gar verhindert worden ist“ (Spital 1992, 26).

Eine zunehmende Verschränkung von Event und traditionell ritualisier­ter Feier stellt die „Frage nach der Komplementarität von Innovativem und Kanonischem“ (Hitzler 2011) als Frage nach dem eschatologischen Ineinander von „schon“ und „noch nicht“. Der Kirche steht immer eine Selbstüberprüfung an, ob sie Events missbräuchlich nutzt, um „den vielfältigen gesellschaftlichen Entwicklungen eine [scheinbar] eindeu­tige, emotional aufgeladene ‚wahre Lehre‘ entgegenzustellen“ (Kosack 2020), ob sie sich unbewusst gegen eine unerwünschte Renaissance der Vergangenheit stemmt oder ob sie auf dem durchgängigen Hoffnungs­bild des Advents auch ritualisierte Formen aus dem Schatz ihrer Tradi­tion als zukunftsweisend anbieten kann.

Die Überlebensfähigkeit der Kirche wird auch daran zu erkennen sein, ob sie Räume und Wege dafür eröffnet, dass die unterschiedlichen Identitäten in der Kirche in aller eschatologischen Spannung eine gemeinsame Richtung auf Gottes Zukunft hin erkennen, dass die Traditionellen wie die Progressiven ihre Entwicklungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume fruchtbar machen können. Dabei ist erste Aufgabe, dass alle darauf vertrauen, dass die anderen das hinbekom­men: gemeinsam weitergehen. In all diesen vier Bereichen.

Geht das zusammen?