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Wenn die Kirche im Dorf laufen lernt

Geistliche Entdeckungen auf Feldwegen

In Krimis, die auf dem Land spielen, ermitteln oft trottelige Dorfpolizis­ten oder strafversetzte Städter vor dem Hintergrund von Tante-Emma-Läden, Gaststätten im 60er-Jahre-Design, Bauernhöfen und einsamen Bushaltestellen. Man muss über solche Klischees mitschmunzeln – sonst müsste man sich ärgern. Klischees werden der Wirklichkeit selten gerecht, enthalten aber doch immer ein Körnchen Wahrheit. Es gibt den Unterschied von Stadt- und Landleben – auch in der Kirche. Doch worin besteht dieser Unterschied? Immer wenn ich an Tagungen und Treffen im Rahmen der Lokalen Kirchenentwicklung teilgenommen habe, hatte ich den Eindruck, dass viele Initiativen und Projekte in Städten behei­matet waren. Geht Kirchenentwicklung nur in der Stadt? Mit Stadtmen­schen, die offen sind für Neues und Veränderung? Ist Gott, der seine Ge­schichte mit einem Nomadenvolk in der Wüste begann, umgezogen? Ohne hier eine umfassende Sozialraumanalyse vorlegen zu können, möchte ich einige Gedanken und Ideen aufschreiben, die hoffentlich auch anderen „Landmenschen“ Mut machen, es trotzdem zu versuchen mit der Kirchenentwicklung. Ich möchte gerade nicht die Defizite auf­zählen und ins Jammern kommen, was alles „auf dem Land“ nicht geht. Stattdessen möchte ich von Erfahrungen berichten, die zeigen, dass Entwicklung in der Kirche auch in ländlichen Gemeinden möglich ist – nur anders eben.

Vor über 30 Jahren habe ich mich bewusst für eine Stelle als Seelsor­gerin auf dem Land entschieden. Mit Psalm 16,8 in einer älteren Bibel­übersetzung möchte ich sagen: „Auf schönem Land fiel mir mein Anteil zu!“ Ich mag das Land und die Menschen hier. Vielleicht hatte ich auch ein wenig Glück, denn der Ort, an dem ich wohne und arbeite, gehört zu den Landgemeinden, die wachsen und die mit ihrer Infrastruktur (Stra­ßenanbindung, Wohnqualität und Freizeitangebote) gut dastehen. Es gibt hier keinen Grund, in einer allgemeinen Depression über Land­flucht und Verödung zu versinken. Das mag an anderen Orten anders sein.

Es gäbe viel zu erzählen über das Leben hier, doch ich will mich be­schränken auf das, was für die Veränderungsprozesse nicht nur, aber vor allem in der Kirche von Bedeutung ist. Die Zivilgemeinde Gangelt hat ca. 12000 Einwohner, davon ca. 9000 Katholiken in sieben selbststän­digen Pfarreien, einer Filialgemeinde und einem psychiatrischen Krankenhaus. Es gibt acht Kirchen in Dörfern mit zwischen 500 und 3000 Einwohnern.

Die Wohnsituation der Menschen ist für mich einer der bedeutendsten Faktoren für den Unterschied zwischen Stadt und Land. In Köln wohnen oft mehr Leute in einem Haus als bei uns in einer ganzen Straße. Die meisten Menschen wohnen in Einfamilienhäusern mit Garten. Viele Kinder wachsen in großzügigen Wohnverhältnissen auf. Neubaugebiete sind zunächst sehr homogen mit jungen Familien besiedelt, Straßen mit älteren Häusern demnach auch mit älteren Menschen. Zum Glück stellt sich gerade in den älteren Siedlungsteilen eine erfreuliche Durchmi­schung ein, weil junge Familien alte Häuser kaufen und sanieren. Viel­leicht hat es ein Gott, der mit seinem Volk in Zelten wohnte und dessen Sohn „keinen Ort [hat], wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Lk 9,58), bei so sesshaften Menschen besonders schwer.

Es gibt eine Menge Vereine und Traditionen. Wer in ein Dorf zieht, fin­det dort am leichtesten Anschluss: Ob Sport- oder Musikverein, ob Pfad­finder oder Schützenbruderschaft – es gibt eine große Auswahl an Mög­lichkeiten, Gemeinschaft zu finden. Dabei darf man allerdings unter Umständen keine Angst vor Traditionen haben: Der Musikverein spielt auch beim Schützenfest, der Schützenverein veranstaltet mindestens eine Kirmes im Jahr. Gangelt wurde nicht umsonst wegen seiner Karne­valssitzung als Corona-Hotspot „berühmt“. Einzig der Sportverein hat seine Turniere am Sonntagmorgen …

Traditionen spielen auch im kirchlichen Bereich eine große Rolle – womit wir zum Kern des Themas kommen. Obwohl die Dorfpfarreien schon in den 80er Jahren die ersten waren, die die Auswirkungen des Priestermangels zu spüren bekamen, ist das Verständnis von Kirche eher traditionell. Möglichkeiten der Mitwirkung, die das 2. Vatikanische Konzil und die Würzburger Synode eröffneten, wurden teilweise ge­nutzt, aber immer mit der Motivation, „dem armen Pastor zu helfen, der es ja alleine nicht mehr schafft“. Dieser Gedanke ist bis heute nicht aus den Köpfen zu verbannen: Kirche ist da, wo der Pastor ist. Erst sehr langsam finden Menschen zu einem Engagement aus dem Bewusstsein ihrer Taufwürde.

Der Sprachgebrauch der Hauptberuflichen ist hier extrem wichtig: Auch wir haben zu lange nach „Helfer*innen“ gesucht. Heute – nach einigen Jahren Beschäftigung mit der Lokalen Kirchenentwicklung – suchen wir anders: Wir (die hauptberuflichen Seelsorger*innen) suchen gemeinsam mit den Menschen nach Formen und Wegen, wie wir heute und hier Ge­meinde Jesu Christi sein können. Es ist nicht leicht, die kirchlich Enga­gierten in den Orten davon zu überzeugen, dass es uns um diese Suche geht. Immer wieder kommt der Verdacht auf, dass wir nur wieder neue Kürzungen im Gepäck haben. Gerade die Orte, in denen Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Kirche aus eigenen Mitteln errichtet haben, wehren sich jetzt, wenn sie (wieder) zur Kirche im Nachbarort gehen sollen. Aber das, was bei uns „Weggemeinschaft der Gangelter Pfarrgemeinden“ heißt, bringt auch Bereicherung und Vorteile. Ich will von einigen Beispielen gelungener Entwicklung berichten, möglichst aus einer geistlichen Perspektive. Die Beispiele mögen wenig spektaku­lär erscheinen, oft ist es sogar nur die Perspektive, die sich ändert – aber genau diese Veränderung der Sichtweise hat unsere Pastoral unendlich bereichert.

1. Neue Gottesdienstformen
Das Beste, was sich über die Zahl der Gottesdienstteilnehmer*innen an der Sonntagsmesse sagen lässt, ist, dass die, die da sind, aus eigener Entscheidung kommen – oder eben auch nicht. Auch wir sehen die Kirchen immer leerer werden und fragen nach attraktiven Formen von Gottesdienst und Gemeinschaft im Glauben. Einige Initiativen finden guten Anklang:

a) Familienkirche
„Wann und wo ist denn die nächste Familienmesse?“ Wir wollten es den Familien leichter machen: Jeden ersten Sonntag im Monat ist um 10:30 Uhr in St. Nikolaus, Gangelt, Familiengottesdienst – je nach Gottesdienstplan auch als Wortgottesdienst. Ein Vorbereitungsteam bringt immer wieder kreative Ideen ein, Musiker*innen gestalten den Gottesdienst mit Keyboard, Flöte, Gitarre und Gesang. Im vierten Jahr sind die Stimmen der Bedenkenträger (fast) verstummt, denn auch die „alten“ Gottesdienstteilnehmer*innen finden in den kindgemäßen Tex­ten oft einen Gedanken, den sie in die neue Woche mitnehmen können. So ist es auch kein Problem mehr, wenn am ersten Sonntag im Monat Kirmes, Jubiläum oder sogar Allerheiligen ist. Einen Familiengottes­dienst kann man zu jedem Anlass gestalten – das wissen mittlerweile auch die Vereine und sie bestehen nicht mehr auf ihrer traditionellen Gottesdienstgestaltung.

Ungeplant ergab sich aus der Familienkirche die zweite Initiative:

b) Leuchtfeuer
Nach einem dieser Familiengottesdienste sprachen uns Menschen mitt­leren Alters an: „Es wäre schön, wenn es so etwas auch für uns gäbe!“ Einige Monate später haben wir genau diese Menschen angesprochen und mit einem Kreis von Motivierten die „Leuchtfeuer-Gottesdienste“ entwickelt. Dieser Gottesdienst ist also tatsächlich ein Projekt, das „von unten“ entstanden ist. Mit größtmöglicher Offenheit sind wir in die Pla­nung gegangen und haben vor allem gefragt: Was wollen wir? Was für einen Gottesdienst vermissen wir? So haben wir keine bestehende Gottes­dienstzeit umgestaltet, sondern ein ganz neues Format ins Leben ge­rufen. An vier Freitagabenden im Jahr findet an wechselnden Orten ein meditativer Gottesdienst statt, möglichst auch mit anschließender Begegnung.

c) Lagerfeuergottesdienst
Gottesdienst draußen, rund um ein Feuer – das ist seit fast zehn Jahren ein Erfolgsmodell: mit dem Gottesdienst aus der Kirche rausgehen, da­hin, wo das Leben der Menschen stattfindet, die besondere Atmosphäre eines Lagerfeuers nutzen, um Begegnung mit Gott und den Menschen zu ermöglichen.

2. Erstkommunionvorbereitung
„Würde man die Kirche abschaffen – Erstkommunion bestünde weiter!“ Dieser paradoxe Satz eines Kollegen beschreibt, wie wichtig den Fami­lien dieses Fest ist. Auch hier sind Tradition und Folklore im Spiel. Vor einigen Jahren gingen noch nahezu 100 % der katholischen Kinder (und das waren dann 90 % eines Jahrgangs) zur Kommunion. Diese Zeit ist auch hier vorbei. Manche Familien entscheiden sich bewusst gegen eine Teilnahme ihres Kindes an diesem Sakrament. Für viele bleibt das Fest eines der schönsten Ereignisse der Kindheit, ob dies nun eine Verklä­rung in der Erinnerung ist oder nicht. Von traditionell orientierten Gemeindemitgliedern hört man dann jedes Jahr den Satz: „Und am Sonntag nach der Kommunion ist keiner mehr da!“ Unsere größte Her­ausforderung ist es, diesem Bild von Kirche zu begegnen. „Proposer la foi“ nannte die französische Kirche erste Überlegungen zur Kirchenent­wicklung – den Glauben vorschlagen (vgl. Bacq 2012, 36 f.).
Genau dies versuchen wir seit einigen Jahren. Wir schaffen ein Angebot von Familiengottesdiensten, Kindergruppen und anderen Veranstaltun­gen und geben den Familien so die Möglichkeit, das dritte Schuljahr ihres Kindes als „Kommunionzeit“ zu erleben. Manche Familien freuen sich ausdrücklich auf diese Zeit. Bei den Treffen können wir darauf bauen, dass die Familien sich zu einem großen Teil schon kennen, denn die Kinder besuchen die gleiche Grundschule. Im Kontakt mit den Familien versuchen wir, einladend und doch verbindlich zu sein, von unserer eigenen Begeisterung für die Botschaft Jesu zu sprechen, ohne den Eindruck zu vermitteln, man sei bei Kirche erst dann willkommen, wenn man an jedem Sonntag zum Gottesdienst kommt.

3. Mariä Himmelfahrt
Der 15. August ist in Nordrhein-Westfalen kein Feiertag. Trotzdem rief der Pfarrer, der in den 90er Jahren zuerst für drei, dann für fünf Orte zuständig war, eine neue Tradition ins Leben: Am Abend des 15.8. ver­sammeln sich mittlerweile ca. 500 Leute aller Generationen an einer Feldkapelle im kleinsten Ort der Gemeinde Gangelt (Vinteln, ca. 50 Ein­wohner, keine eigene Kirche). Nach der Messe mit Kräuterweihe wird auf einem Bauernhof bei selbstgemachten Obstlikören weitergefeiert.
Eigentlich keine Aktion der „Kirchenentwicklung“, aber aus der Per­spektive derselben durchaus bedeutsam: Ein ganz traditioneller Feiertag, an dem auch alte Marienlieder gesungen werden, bringt Alte und Junge zusammen, die Stimmung auf den spätsommerlichen Feldern, das En­gagement der Bauernfamilie und des ganzen kleinen Ortes – all das trägt zu einer Veranstaltung bei, die man kaum noch bewerben muss, weil alle sich schon darauf freuen. Wo Gemeinschaft so gelingt, ist Kirche. Auch das, was schon da ist, kann Kirche der Zukunft sein.

Manche Fragen und Gedankengänge kehren in all diesen Initiativen wieder:

Neues von oben oder von unten?
Wer stößt Neuerungen an? Wer bestimmt, was auf den Weg gebracht wird? Viele Seelsorger*innen – und da kann ich mich nicht ausschließen – haben gute Ideen für pastorale Projekte. Erfolgsaussichten haben diese Ideen nur, wenn sie mit den Ehrenamtlichen gemeinsam entwickelt und auf den Weg gebracht werden und wenn sie den religiösen Gefühlen und Bedürfnissen der Menschen heute entsprechen. „Wir sind das Volk“ – das Volk Gottes hat auch seinen eigenen Sinn, den „sensus fidelium“, den es zu entdecken und zu nutzen gilt. Trotzdem braucht es auch die Begeisterten, „Menschen, die aus Leidenschaft und Begeisterung, aus Hingabe und Passion sich einlassen auf die Herausforderungen der Zeit“ (Hennecke/​Viecens 2019, 31) – sie sind die Ideenträger, die, die genug Charisma besitzen, um neue Bewegungen anzustoßen.

Was darf sterben?
Nicht alle alten Formen lassen sich in neue überführen. Wo Gottes­dienste kaum noch besucht sind und nur noch mit Mühe aufrecht­erhalten werden, da darf auch etwas sterben. Oft gibt es dann laute und aufgebrachte Stimmen, die das verhindern wollen. Dann braucht es manchmal auch Mut und vor allem Feingefühl, um die richtigen For­mulierungen zu finden, damit die alten Formen nicht einfach vom Tisch gewischt werden, sondern die Trauer – auch der wenigen – über den Verlust der liebgewonnenen Tradition ernstgenommen wird.

Netzwerkentwicklung
Vor allem im Bereich Familienpastoral, aber auch bei den Teilneh­mer*innen an den neuen Gottesdienstformen entsteht eine Art neue Gemeinde. Menschen aus verschiedenen Orten versammeln sich, weil dies oder jenes Angebot ihren Durst stillt. Manche engagieren sich nach der Erfahrung solcher Gottesdienste auch in den Vorbereitungskreisen. Gemeinde wird nicht mehr vom Territorium bestimmt, sondern vom Angebot. Dieses Modell könnte in Zukunft noch größere Bedeutung bekommen: Dann wird vielleicht die eine Dorfkirche „Familienkirche“, eine andere „Leuchtfeuer-Kirche“ usw. Dies würde dem althergebrach­ten Bild der Ortsgemeinde, in der alle Altersgruppen alles finden, wider­sprechen – aber es könnte sein, dass der Wandel in diese Richtung weist.

Eine neue Sprache
Last but not least – die Kirche braucht eine neue Sprache. Ob für Kinder und Familien oder für (kirchenferne) Trauernde: Wir können uns nicht auf unseren katholischen Formeln ausruhen. Wir müssen sogar mehr denn je damit rechnen, dass diese Formeln einfach niemand mehr ver­steht. Wir versuchen, in Gottesdiensten eine verständliche Sprache zu sprechen, aber nicht nur im Kirchenraum besteht in dieser Beziehung Nachholbedarf. Mit Menschen über ihren Glauben sprechen lernen, das ist eine unserer vorrangigsten Aufgaben. Gerade dort, wo Religion und Tradition oft ein und dasselbe waren und sind, fällt es schwer, eine Sprache für den eigenen Glauben zu finden.

Die Kirche im Dorf lebt, sie ist unterwegs auf Feldwegen und neuen Umgehungsstraßen, sie versucht, sich zu entwickeln. Sie muss viel­leicht eher reden statt laufen lernen. Erzählen vom Leben und Glauben – so wie die Emmausjünger – und dann entdecken, dass im Erzählen der Auferstandene unerkannt dazukommt. Diese Erfahrung ist in allen Er­folgsgeschichten: an irgendeinem Punkt wahrnehmen: Es ist Jesus! Das, was uns begeistert, was uns Zusammenhalt spüren lässt, das ist seine Gegenwart.

Und es braucht Geduld! Geduld und Mut, etwas auszupro­bieren. Losgehen, auch wenn es langsam zu gehen scheint. Manche Früchte reifen erst nach einigen Jahren; an jungem, sprießendem Grün kann man nicht ziehen, damit es schneller wächst. Oft schien der Prozess der Lokalen Kirchenentwicklung tot, dann fielen uns Früchte zu, wo wir gar nicht damit gerechnet hatten. Es sieht zunächst so aus, als suchten wir vor allem nach Erfolgen in der Pastoral. Auch dabei kommt es wieder auf die Perspektive an: Nicht wir sind die Mache­r*innen. Gott sammelt sein Volk – wir sind dankbar, wenn wir gemein­sam mit den Christ*innen die „Chancen für die Sendung des Evangeli­ums allüberall […] entdecken“ (Hennecke/​Viecens 2019, 50) und konkrete Formen entwickeln können, mit denen Glauben heute und hier lebbar wird.