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Kirche im Netzwerk pastoraler Orte und Ereignisse

Eine qualitativ-empirische Studie in einer Seelsorgeeinheit im Bistum Rottenburg-Stuttgart

Im pastoraltheologischen Diskurs erfreut sich der Netzwerkbegriff seit geraumer Zeit einer großen Beliebtheit. Mit ihm verbindet sich die Hoff­nung, die Aporien des gemeindezentrierten Modells von Kirche zu über­winden – durch dezentrale Organisation, Flexibilität und Mobilität, Innovation und Kreativität sowie die Integration verschiedener Sozial­formen. Mirjam Zimmer vom zap resümiert daher, dass es sich beim Netzwerk um eine pastorale Sehnsuchtsmetapher handelt. Doch es ist keineswegs ausgemacht, was jeweils genau mit dem Begriff des Netz­werks gemeint ist. Die Verwendung wechselt zwischen Metapher und umrissenem Konzept, zwischen Analyse und normativem Zielbegriff, zwischen Soziologie und Ekklesiologie.

Auch im Kirchenentwicklungsprozess „Kirche am Ort – Kirche an vielen Orten gestalten“ des Bistums Rottenburg-Stuttgart spielt der Netzwerk­begriff eine zentrale Rolle. Doch welche Funktion übt die Netzwerkkon­zeption im pastoralen Handeln vor Ort tatsächlich aus? Kann eine de­zentrale(re) Perspektive auf das Kirchenverständnis Wirkung entfalten?

Diesen Fragen ging eine qualitativ-empirische Studie am Lehrstuhl für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen nach. Sie wurde 2017–2019 von Tobias Dera mit Unterstützung eines Forschungsteams am Lehrstuhl (Michael Schüßler, Lukas Moser, Teresa Schweighofer) durchgeführt. Drei verschiedene Methoden wurden ver­wendet, um zu einer „dichten Beschreibung“ (Clifford Geertz) dessen, was sich vor Ort zeigt, zu gelangen: (a) die teilnehmende Beobachtung der Sitzungen des für den Kirchenentwicklungsprozess verantwort­lichen Prozessteams einer ausgewählten Seelsorgeeinheit im Bistum Rottenburg-Stuttgart, (b) so genannte flanierende Netzwerkinterviews mit Menschen mit unterschiedlicher Nähe zur Pfarrgemeinde und (c) die dokumentenanalytische Auswertung des Abschlussberichts des Kirchenentwicklungsprozesses, der gleichzeitig der anlässlich der Pastoralvisitation vorzulegende Pastoralbericht der untersuchten Seelsorgeeinheit war.

Ziel der teilnehmenden Beobachtung der Sitzungen des Prozessteams war es, die dort deutlich werdende Kommunikations- und Handlungs­dynamik zu erheben. Über welche Identitäten und welche Relationen wird besonders gesprochen? Als dominante Perspektive, unter der die Beziehung des Prozessteams zur Gemeinde betrachtet wird, erweist sich das Beziehungsschema „Information und Kontrolle“. Es ist eine asym­metrische Beziehungsform, die sich in drei verwandten Bereichen kon­kretisiert: „Öffentlichkeitsarbeit“, „Menschen erreichen“ und „Men­schen dazu bringen, etwas zu tun“. Die engagierte Leitung steht somit einer (oft als fordernd erlebten) Mitgliedschaft gegenüber, die sie für ihre Angebote zu gewinnen versucht. Daneben tritt auch ein symme­trisches Beziehungsmodell „Beziehung als Dialog“ auf – man will mit den Menschen ins Gespräch kommen. Dieses Paradigma hat es jedoch gegenüber dem asymmetrischen Paradigma schwer, sich durchzu­setzen.

Quer zu der Unterscheidung asymmetrische/​symmetrische Bezie­hungsform lässt sich auch danach fragen, welche Inhalte in den vom Prozessteam unterhaltenen Beziehungen vorkommen. Von Interesse ist dabei, wie auf verschiedene Orte inhaltlich Bezug genommen wird: als Teil einer Liste oder als Ereignisort. Beim Frame „Liste“ geht es um ob­jektivierbare Aspekte, z. B. die zu erfüllenden Vorgaben einer Satzung, beim Frame „Ereignisort“ um die Erfahrungen, die eine Person an die­sem Ort macht. Dabei kann ein und derselbe Ort sowohl als Teil einer Liste als auch als Ereignisort betrachtet werden. Die Kirche vor Ort erscheint nach diesen Beobachtungen stark von einer Organisations­logik geprägt: Aktivitäten und Ereignisse werden vor allem unter der Perspektive von Fakten angeschaut, die sich als Teil einer Liste darstel­len lassen. Erlebnisse und Erfahrungen spielen demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle.

Bei den so genannten flanierenden Netzwerk-Interviews handelt es sich um relativ offene Interviews. Dazu wurden die Interviewpartner*innen im Vorfeld gebeten, sich eine Route in ihrem Lebens- und Wohnort zu überlegen, die entlang von Orten führt, die sie mit dem Evangelium in Verbindung bringen. Sie wurden ermutigt, über ihre persönlichen Erfahrungen zu sprechen, um so herauszufinden, welche Orte sie aus welchen Gründen für ihren Glauben als relevant erachten. Neben stark in der Gemeinde engagierten Personen wurden auch solche befragt, die weniger oder gar nicht in das Gemeindeleben integriert sind. Insgesamt kamen so zehn Interviews zustande.

Die Auswertung der Interviews lehnte sich an das Verfahren der Groun­ded Theory Methodology an (theologisches Codieren). Besonders wur­den Passagen beachtet, in denen Orte, Ereignisse oder Situationen vor­kommen, die für den Glauben der Interviewpartner*innen relevant sind oder die sie mit dem Evangelium in Verbindung bringen. Es wurde dann eine Verdichtung auf 22 „evangeliumsrelevante Orte“ vorgenommen, die in dichten Beschreibungen zusammengefasst wurden (z. B. die Feld­kreuze, der Frauenbund, die freie evangelische Gemeinde, „wenn der nigerianische Sommerpfarrer da ist“, die Flüchtlingsarbeit, der Bauern­hof, der Kindergartengottesdienst, das Kirchengebäude, der Gemeinde­rat, die Sternsinger-Aktion, Momente der Hilflosigkeit, Taizé, der Abenteuerspielplatz …).

In einem weiteren Schritt wurden die verschiedenen evangeliumsrele­vanten Orte bzw. Situationen auf ihre Ereignisqualitäten hin analysiert. Diese lassen sich unter den Stichworten „befreiende Potenzialität“, „persönliche Relevanz“, „überschreitende Resonanz“, „gelebte Gemein­schaft“, „ermöglichende Diakonie“, „unverfügbare Ereignishaftigkeit“ und „bezeugende Normativität“ zusammenfassen. Die evangeliums­relevanten Ereignisse finden sowohl in fluiden, spontanen als auch in konstanten, kirchlich-institutionalisierten Kontexten statt. Die erlebte Bedeutung eines Ereignisses entspricht dabei nicht immer den institu­tionellen Erwartungen (wenn z. B. bei der Schilderung der Fronleich­namsprozession gar nicht auf den liturgischen Akt der Prozession einge­gangen wird, sondern auf die gemeinschaftsbildende Vorbereitung des durchgehenden Blumenteppichs).

Die Analyse des Abschlussberichts bestätigt die Erkenntnisse aus der teilnehmenden Beobachtung der Sitzungen des Prozessteams. Kirche vor Ort erscheint hier vor allem als Liste von Aktivitäten und Ereig­nissen. Es wird zwar eine Öffnung nach außen angezielt, die aber uni­direktional bleibt. Anhand von Netzwerkkarten wird deutlich, dass sich die Kirchengemeinde weiterhin als das Zentrum von Kirche versteht, nicht als ein Knotenpunkt der Kirche vor Ort unter anderen.

Fasst man die Ergebnisse zusammen, so setzen sich in der untersuchten Seelsorgeeinheit vertraute Konzepte und Praktiken des gemeindezen­trierten Kirchenbilds gegenüber neuen Impulsen aus der Netzwerkpers­pektive durch. Dem liegt keine bewusste Entscheidung gegen Innova­tionen zugrunde: Das Festhalten an den alten Konzepten geschieht beiläufig – man greift im Zweifel auf Selbstverständliches zurück. Die Erwartung, dass der Netzwerkgedanke überkommene Modelle der Gemeindetheologie aufbricht, wird nicht erfüllt; das Netzwerk wird eigentlich nur als Label für bereits Bestehendes übernommen. Echte Partizipation, womöglich von außergemeindlichen Orten, scheint in der Kirchengemeinde nicht vorgesehen.

Insgesamt reproduziert der Prozess „Kirche an vielen Orten“ somit vor allem eine Organisationslogik – trotz der entgegengesetzten Netzwerk-Programmatik. Das bedeutet nicht, dass sich die Praxis des Volkes Got­tes nicht längst in Netzwerkwirklichkeiten abspielt – die flanierenden Interviews geben intensiven Aufschluss über die Narrative zu den evan­geliumsrelevanten Ereignissen und somit zu Kirche im Sinne von Netz­werken. Die Grenze zwischen Organisation und Netzwerk verläuft auch „weder zwischen bestimmten Personengruppen noch zwischen be­stimmten geographischen Orten. Die Grenze zwischen Netzwerk und Organisation verläuft vielmehr an der Stelle, an der sich die Zugriffs­form auf ein Geschehen ändert: Im Netzwerk wird erzählt und (theolo­gisch gesprochen) Zeugnis gegeben, in der Organisation tritt der Ort als Datensatz auf, der strategisch manipuliert werden kann“ (Forschungs­bericht 67).

Die Organisationslogik bleibt also dominant, Netzwerkpotenziale spie­len in der Kirche vor Ort, zumindest aktuell, nur eine untergeordnete Rolle. Die Studie stellt fest: „Netzwerke und Organisation stehen recht unvermittelt nebeneinander. Eine solche Konstellation ist aber für beide Teile von Nachteil: Die Organisation verliert ihre Relevanz für den geleb­ten Glauben ebenso wie gehaltvolle Orientierungspunkte für ihr eigenes Handeln, die Netzwerke hingegen haben keine Möglichkeit ihre Interes­sen strategisch zu verwalten und gesellschaftlich wirksam zu machen“ (ebd. 69).

Es geht nun nicht darum, die Perspektive „Organisation“ durch die Perspektive „Netzwerk“ zu ersetzen. Anzustreben wäre vielmehr ein Paradigmenwechsel, der die beiden Perspektiven unterscheidet und in ihren Potenzialen und Gefahren betrachtet. Genauso wäre es ein Miss­verständnis, würde man Netzwerke als Möglichkeit zur Optimierung der Organisation verstehen. Netzwerke lassen sich letztlich nicht orga­nisieren, sie relativieren und irritieren die Organisation eher und ma­chen den Kontrollverlust deutlich, dem sich die Institution und Organisation Kirche unter modernen Bedingungen ausgesetzt sieht.

Resümierend lässt sich festhalten: „Letztlich dokumentiert sich im untersuchten Feld eine Gleichzeitigkeit von drei kirchlichen Organi­sations- und Selbstbeschreibungsformen, die sich teilweise gegenseitig blockieren. Die Beschreibung von Kirche als moderne Organisation (Professionen, Planungsprogramme, Prozessteams) und als fluides Netzwerk christlicher Glaubenspraxis (Gelegenheiten, Ereignisse, Erfahrungen) wird überlagert von der kirchenrechtlich verankerten Kultur einer monarchischen Bischofskirche (Kontrolle und jurisdiktio­nelle Amtsvollmacht)“ (ebd. 71; vgl. Schüßler 2018). An die Seite der Kirchenleitungen ergibt sich daraus der Aufruf, für Prozesse der Kir­chenentwicklung nicht zu enge Grenzen zu setzen und die vorhandenen Spielräume für ermöglichende Rahmenbedingungen auch zu nutzen. Jedenfalls kann es nicht sinnvoll sein, die Verantwortung für Innova­tionen allein den Akteur*innen der Kirche vor Ort aufzubürden.

 

Der Forschungsbericht zum Projekt „Kirche im Netzwerk pastoraler Orte und Ereignisse“ ist hier abrufbar.