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Von Missverständnissen und Fallstricken

Kirchenentwicklungen – Eine neue Sichtweise

In den meisten deutschen Diözesen laufen derzeit Bistumsprozesse, werden Pastoralpläne entwickelt und durchgeführt. Vielfach werden dafür auch Erfahrungen aus anderen Teilen der Welt rezipiert: Sei es aus dem Bistum Poitiers, sei es von den fresh expressions of church in Eng­land, sei es aus dem philippinischen Pastoralinstitut Bukal ng Tipan.

Ein Protagonist für eine Kirchenentwicklung, die von solchen weltkirch­lichen Erfahrungen, aber auch von einer Sozialraumorientierung ge­prägt ist, ist das Bistum Hildesheim und namentlich Christian Hennecke. Von ihm sind – teilweise in Zusammenarbeit mit seiner Kollegin Gabriele Viecens – in den letzten Jahren einige einschlägige Bücher erschienen.

Das neueste, das hier zu besprechen ist, blickt nun auf vielfältige Erfah­rungen im Bereich Kirchenentwicklungen zurück; jedoch – wie der Titel „Von Missverständnissen und Fallstricken“ deutlich macht – nicht nur (aber auch) mit Blick auf Gelungenes, sondern speziell auch darauf, auf welche Irrwege man dabei geraten kann. Denn: Gut gemeint ist noch nicht gut gemacht!

Eine grundlegende Gefahr etwa wird gleich zu Beginn benannt (10–12): die Phase der grundlegenden Verunsicherung zu überspringen oder zu schnell weiterzugehen, um voll Energie vorankommen, anstatt die kri­senhaften Umbruchserfahrungen als Kairos zu nutzen. Von einem Machbarkeitsdenken geprägt ist auch eine zweite Versuchung (15 ff.): anzunehmen, dass zentral für das Bistum beschlossene Pastoralpläne ohne Weiteres auf lokaler Ebene rezipiert und umgesetzt werden. In dieser „Dialektik zwischen zentraler Verwaltung und örtlicher Pfarrei“ (16) scheint herkömmliche Pastoralmacht durch.

Herkömmliche Bilder – etwa hierarchisches Denken –, verkappte Bemü­hungen um Systemerhalt, das beharrliche Weiterwirken tief verinner­lichter Denkmuster: Dem spüren Hennecke und Viecens nach. Und ma­chen so deutlich, dass eine Kirchenentwicklung, die über Strukturan­passungen und kosmetische Korrekturen hinaus sich auf einen Para­digmenwechsel einlässt, Zeit für intensives gemeinsames Lernen braucht. Die Perspektiven, die Bistumssynoden entwickelt haben, sollten als „Unterstützung lokaler Prozesse“ (28) gesehen werden. Und dort läuft es anders als in der planerischen Theorie: Denn „die klassi­schen Kirchengestalten“ haben zwar ihre „normative Sonderstellung“ verloren, doch sind sie „keineswegs tout court am Ende“ und immer wieder gut für „unerwartete Neuaufbrüche“ (29). Kirchenentwicklung heißt also nicht die Einführung neuer Strukturen, sondern meint we­sentlich, sich gemeinsam auf „das Wirken des Geistes Gottes, der in allen Zeiten sein Volk erneuert“ (30), einzulassen. Etwas, das nur ge­meinsam und in einem andauernden Prozess gelingt.

Doch da gibt es leider diverse Hemmnisse. „Emotionalen Wahrneh­mungsmustern“ (35) – etwa dem Hängen an gewohnten Formen, die als normativ empfunden werden – widmen die Autoren ein ganzes Ka­pitel. Ein weiteres geht auf (oft entlarvende) Sprachmuster ein – und die Schwierigkeit, fremdsprachige Begrifflichkeiten, die im Kontext welt­kirchlichen Lernens aufgegriffen wurden, in die deutsche Situation zu übertragen, ohne dabei falsche Konnotationen wachzurufen.

Konkret werden die „Missverständnisse und Fallstricke“ in den Erfah­rungen der Hildesheimer Kirchenentwickler, die immer wieder bei­spielhaft im Buch erzählt werden. Zugleich wird damit in die Hildes­heimer kirchenentwicklerische Denke eingeführt – gerade für LeserIn­nen, die schon andere Bücher von Hennecke und Viecens kennen, ist das nichts ganz Neues, aber doch eine Möglichkeit, u. a. an weltkirchlichen Erfahrungen und theologischen Überlegungen der Hildesheimer zu partizipieren.

Auch wenn sich der Rezensent, was die zweite Hälfte des Buches be­trifft, eines gewissen Eindrucks von Redundanz nicht erwehren kann – dass bereits Angesprochenes nochmals aufgegriffen und auch wieder­holt wird –, so finden sich auch hier doch immer wieder wertvolle Ein­sichten und Hinweise. Z. B. behandeln die Autoren die Frage, was einen Prozess der Kirchenentwicklung zu einem geistlichen Prozess macht (82–84); es werden Baustellen für eine zeitgemäße Theologie benannt (im 5. Kapitel); und der Wandel des Kirchenbildes wird einge­fordert, etwa wenn darauf aufmerksam gemacht wird: „Lange Zeit konnte das Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils einfachhin überblendet werden mit der klassischen hochengagierten Gemeindeform“ (90).

Hilfreich sind sicher auch die „Qualitätsmerkmale eines Prozesses“ (116 ff.). Das wird ergänzt durch eine Art Anhang (129–137), der freilich nicht als solcher ausgewiesen ist; er benennt Prozessschleifen und prä­sentiert sie auch grafisch. Ein zweiter Anhang wäre dann die Geschichte der Pfarrei St. Simon in Südafrika von Bischof Fritz Lobinger (138 ff.), die in anregender Weise darstellt, wie ungeradlinig und langwierig Entwicklungsprozesse in konkreten Pfarreien ablaufen können.

Das Buch fußt auf langjährigen Erfahrungen und tiefgehenden Reflexio­nen, die auch selbstkritische Erkenntnisse einschließen. Damit kann es ein wertvoller Begleiter für alle sein, die mit Entwicklungsprozessen in Pfarreien und Bistümern befasst sind und sich dabei auch der eigenen (persönlichen, theologischen …) Entwicklung bewusst sind.

Martin Hochholzer